Vom Mittelmeer in die Schweiz. Unser 3. Oktober
von Pinuccia Rustico und Mattia Lento
Am 3. Oktober diesen Jahres jährt sich ein tragischer Jahrestag. Genau vor einem Jahr starben 368 Personen bei einem der schwerwiegendsten Schiffsunglücke der Gegenwart im Mittelmeer. Ein in Libyen abgelegter Schiffskutter mit Menschen aus dem Horn Afrikas ist wenige Hundert Meter vor der Küste von Lampedusa gesunken. Die Rettungsmaßnahmen der Küstenwache, für manch einen schuldhaft verspätet, haben vielen nicht mehr nicht genutzt.
Der 3. Oktober ist aber einer von vielen sich zugetragenen Ereignissen: Ein weiteres nicht zu vergessendes Datum ist der 11. Oktober 2013; ebenso in diesem Jahr der 19. Februar, der 12. Mai, der 30. Juni, der 19. Juli, der 2. und 28 August. Wir haben Dutzende von Toten im Meer verzeichnen können, sogar 800 nur in der zweiten Septemberwoche in den Gewässern von Libyen und Malta. Es gibt nichts zu gedenken, da sich die Trägodie täglich wiederholt.
Die Krise in der Ukraine, der israelische-palästinensische Konflikt, der Krieg in Syrien, der Zusammenfall in Libyen, die Instabilität in Afghanistan, die blutigen Diktaturen am Horn von Afrika, die religiösen Verfolgungen, aber nicht nur diese, sondern auch der Hunger, die Armut, der Mangel an Zukunftsperspektiven sind nur einige der Gründe, die die Menschen zur Flucht aus ihren Ländern bewegen. Die zahlreichen internationalen Krisen haben laut Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, Selmin Çalişkan, zu 51 Millionen Flüchtlingen auf der Welt geführt. Diesen Umfang hat man seit dem 2. Weltkrieg nicht gehabt. Wenn es wahr ist, dass die Menschheitsgeschichte eine Geschichte der Migration ist, ist es auch wahr, was Papst Francesco nach seiner Rückkehr aus Südkorea verkündet hat, dass wir uns nämlich zur Zeit in einer Art von 3. Weltkrieg in Kapiteln oder “Teilstücken” befinden. Die heutigen Krisen scheinen sich zu überlappen bzw. zu überschneiden. Die westlichen Länder schaffen es nur selten – aus Eigeninteresse und historisch begründeter Schuld in den betroffenen Ländern-, eine gemeinsame Strategie zur Intervention zu finden. All das führt zu dem Versuch, die Grenzen Europas, von vielen als „terra felix“ erachtet, über die Meerenge Gibraltas, Griechenlands oder Bulgariens zu überqueren, oder sich in Ägypten, Libyen oder Marokko in Richtung der Küsten Siziliens oder Maltas einzuschiffen, seit Jahren die bevorzugen Orte, die Flucht zu versuchen, nicht immer mit einem glücklichen Ausgang.
Wir befinden uns in einer humanitären Notstandssituation ohne gleichen. Die Antworten der internationalen Gemeinschaft, insbesondere die Europas, kommen nur schwerlich. Es scheint, dass sie eine gegenteilige Richtung der von der europäischen Menschrechtscharta der Europäischen Union vorgegeben einschlägt.
Ein kürzlich erschienener Bericht von Amnesty International beklagt, dass die europäische Politik ein absolutes Defizit in den Bereichen der Migration und dem Asylrecht aufweist. In diesen Jahren sind die Finanzmittel im wachsenden Maße für die Kontrolle der Grenzen der EU verwendet worden, dem Schutz und der Rettung der Migranten selbst wurde ein untergeordneter Stellenwert beigeordnet. Die europäischen Wahlen und die damit erfolgte Ernennung von Jean-Claude Juncker lassen nicht auf einen neuen Kurs der europäischen Politik hoffen. Im Gegenteil, die Ernennung von Dimitris Avramopoulos, Verteidigungsminister Griechenlands und „Autor“ der Mauer am Grenzfluss Evros und der Massenzurückweisungen von politischen Flüchtlingen in die Türkei, geht in die Richtung einer weiteren Verschärfung der Kontrolle, so, wie auch die Ablösung der italienischen Mission “Mare Nostrum” durch die europäische “Frontex Plus”.
Das Phänomen der Migration involviert aber nicht nur die Institutionen. Neben den Debatten, Polemiken auf europäischer Ebene oder der Schwierigkeit des italienischen Staates, die Ankünfte zu meistern, treffen wir auf vielzählige Geschichten von Solidaritätsbekundungen von Privatpersonen. Wir sprechen nicht von Einsätzen, die in den letzten Jahren an den italienischen Stränden durch Strandgäste oder Fischer erfolgt sind, sondern von einer großen Anzahl von Aktivisten von kleinen Vereinen oder Kommissionen, die nicht immer von den Medien Beachtung finden.
Das Treffen mit zwei dieser Aktivistinnen, Nawal Soufi und Lisa Bosia, hilft uns, das fast tägliche Phänomen der Schiffsanlandungen von seiner humanen Seite zu verstehen, die die Geschichten, Gesichter und Ereignisse aus Kriegsgebieten bis zu uns bringt. Nawal ist eine Frau von 26 Jahren marokkanischer Herkunft, geboren in Catania, wo sie lebt und studiert. Die junge Studentin der Politologie und Aktivistin lässt sich sofort von den Regimegegnern von Bashar al-Assad miteinbinden. Mit dem Beginn der Anlandungen von Syrern an den Küsten Siziliens widmet sie sich voll der Aufnahme und der Unterstützung der Flüchtlinge. Seit ungefähr einem Jahr hilft sie regelmäßig syrischen Flüchtlingen am Bahnhof von Catania und ist in kürzester Zeit ein Bezugspunkt für die Flüchtlinge geworden. Ihr Handy ist immer in Bereitschaft für Rettungsanrufe, die direkt von den Booten kommen. Nawal setzt ihre Arbeit an Land fort, indem die Aktivistin den Flüchtlingen hilft, nicht in die Hände der „Menschenhändler auf dem Landweg“ zu geraten – skrupellose Menschen, die Geld fordern und Personen berauben, die ihre Reise in andere europäischen Orte fortsetzen möchten. Bei ihr melden sich Personen, die einen Verwandten verloren haben. Sie ist sogar bei der Identifizierung der Leichen aus dem Meer unterstützend tätig. Aus diesen Gründen ist Nawal der Preis „Frau an der Grenze“ von den Organisatoren des internationalen Filmfestivals „Festival internazionale del cinema di frontiera di Marzamemi” verliehen worden.
Lisa Bosia hat uns auf die Spuren von Nawal gebracht. Sie ist eine Ehrenamtliche der Menschenrechte. Sie ist Förderin einer Petition, die an das Bundesamt für Migration gerichtet ist, um 20.000 syrische Flüchtlinge mit Hilfe des UNHCR bis zur Beendigung des Konflikts aufzunehmen. Lisa, die “Pasionaria der Flüchtlinge aus dem Tessin” (die „Leidenschaftlich für die Flüchtlinge“) , hat mit ihrem Ehemann Tarek die Arbeit von Nawal unterstützt, indem sie ein über die Grenzen hinausgehendes Netzwerk der Solidarität aufgebaut hat. Auch ihr ist es zu verdanken, dass Konflikte, Krisen, Kriege, Reisen der Hoffnung, Schiffsbrüchige, Anlandungen, die unserer Medien früher durch kaltschnäuzige Kriegsberichte bekannt wurden, heute Gesichter, Gesichtsausdrücke, Stimmen von Personen aus Fleisch und Blut erhalten haben.
Lisa Bosia arbeitet in einem schweizerischen Umfeld, das sich stärker als Europa in die Richtung der kompletten Abschottung der Institutionen gegenüber den Ausländern bewegt. Während sie sich dafür einsetzt, dass die Konföderation syrische Flüchtlinge aufnimmt, während sie sich gemeinsam mit anderen Aktivisten für die Errichtung von humanitären Wegen und für die Anwendung der Prinzipien der Charta von Lampedusa einsetzt, während sie all dies tut, um der globalen, humanitären Notsituation standzuhalten, ist es der schweizerischen demokratischen Partei in der Zwischenzeit gelungen, die Initiative gegen die Massenimmigration annehmen zu lassen. Diese kämpft derzeit für eine dramatische Begrenzung des Asylrechts. In Kürze, auch wenn es noch keine große Aufmerksamkeit seitens der nationalen Medien erlangt hat, wird die Bevölkerung der Schweiz über die Initiative Ecopop abstimmen. Sollte diese angenommen werden, so wird damit der großen humanitären Tradition der Schweiz ein Ende gesetzt.
Eine Tradition, an die von dem Club Helvétique an mehreren Stellen auf dem Manifest für eine offene und solidarische Schweiz am 1. August diesen Jahres erinnert wird. Ein Verein, der das Ideal einer Schweiz vertritt, gegründet auf einer solidarischen, freien und auf die eigenen Unterschiede stolzen, aber auch offenen Gemeinschaft, ein Zufluchtsort für alle Flüchtlinge der Welt.
Die Verfasser des Manifests fragen sich – bereits in der Überschrift des Manifests selbst – wie die Schweiz der Zukunft sein wird, welchen Weg die Schweiz in den nächsten Monaten einschlägt. Die Konföderation kann tatsächlich wählen, ob sie sich innerhalb den nationalen Grenzen verschließt oder ob sie über die Grenzen hinausschaut, nach Europa oder auch weiter in Richtung eines internationalen Szenarios, das verzweifelt ihren kleinen aber fundamentalen Beitrag und ihre traditionelle humanitäre Funktion benötigt. Der 3. Oktober sollte nicht ein Gedenktag sein, sondern ein Tag, an dem man über die Situation der globalen Krise und über die Antwort der schweizerischen Bevölkerung auf diese Krise nachdenken sollte.
Aus dem Italienischen von Thanh Lan Nguyen-Gatti