Tunesier auf See verschwunden

„Das ist mein Sohn, siehst du ihn? Er
lebt. Aber weder die italienischen, noch die tunesischen Behörden
unternehmen etwas um ihn zu finden“. Beim Weltsozialforum in Tunis
haben die Familien der hunderten von vermisst gemeldeten Personen,
welche bei dem Versuch die Straße von Sizilien zu überqueren um
Europa zu erreichen und dabei schiffbrüchig geworden sind, versucht
die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf ihr Drama zu lenken.

TUNIS – „Hier ist er. Siehst du ihn?
Der im Vordergrund ist Bilal, mein Erstgeborener. Dieses Bild ist der
Beweis dass Bilal nicht auf See gestorben ist, sondern dass er lebend
in Italien angekommen ist. Aber weder Italien noch Tunesien
unternehmen etwas um ihn zu finden.“ Abdelaziz hält das Video an
der Stelle an, in der ein Junge mit erschöpften Blick sich in eine
Decke hüllt und direkt in das Objektiv schaut. Hinter diesem Jungen
sieht man ein Aufgebot an italienischen Sicherheitskräften und im
Hintergrund eine Fähre mit der Aufschrift „Palladio“.

Die Fähre „Palladio“ gehört zur
Gesellschaft Siremar und fährt auf der Route, die von Porto
Empedocle nach Lampedusa führt. Bilal war 27 Jahre alt, als er
Anfang September 2012 auf einem kleinen Schiff Tunesien verließ.
Seitdem hat der Vater non Abdelaziz keine Nachricht mehr von ihm
erhalten. Die italienischen und tunesischen Behörden haben ihm
erklärt, dass sein Sohn für auf See „vermisst“ gemeldet wurde.
Aber da ist Bilal nicht. Ihm zufolge hat der Sohn den Schiffbruch vom
6.September 2012 überlebt und könnte jetzt in Italien in einem CIE
(Identifikations- und Abschiebelager) interniert sein. Der einzige
Beweis in seinem Besitz ist das Bild, das auf der Seite von „Al
Karama“ dem lokalen Radio von Sidi Bouzid verbreitet wurde, und um
dass er jetzt die Hände klammert.

Eine lange Liste Vermisster. Die
Geschichte von Bilal ist nur eines der vielen Mosaiksteine, die die
lange komplizierte Geschichte der verschwundenen Tunesier in der
Straße von Sizilien beim Versuch Italien zu erreichen, erzählt.
Seit 2010 bis heute werden 250 Vermisste gezählt. Aber wenn man auch
alle „irregulären“ verschwundenen Flüchtlinge, die nicht
formell den Behörden angezeigt wurden in Betracht zieht, erhöht
sich die Zahl schwindelerregend auf circa 2500 Fälle.

Seit zwei Jahren verlangen die Familien
der Vermissten die Wahrheit über das Schicksal ihrer Lieben zu
erfahren. Aber weder Italien noch Tunesien liefern befriedigende
Antworten. In Italien ist auch eine Untersuchung eingeleitet worden,
die dennoch aufgrund des Mangels an Beweisen die Einstellung
riskiert. Daher haben die Familien der Vermissten von der
internationalen Medienaufmerksamkeit, die durch das Weltsozialforum
in Tunis entstanden ist, profitiert, um darauf zurückzukommen wie
die strengen europäischen Flüchtlingspolitiken das Mittelmeer in
einen stillen Friedhof verwandelt haben.

Das Recht der Familien auf Information.
Dieses mal jedoch haben sie es durch die Präsentation eines
offiziellen Aufrufs an die EU getan. Sie verlangen an einer
speziellen Untersuchungskommission teilzunehmen in der Europa,
Italien und Tunesien „ihre Erkenntnisse zur Verfügung“ stellen.
Insbesondere fordern die Familien das Recht alle Informationen, die
von den Behörden durch die technischen Mittel der Seekontrolle, wie
die Lokalisierung der Schiffe durch die Telefonaufzeichnungen ihrer
Angehörigen während der Überfahrten, zu erfahren. Darüber hinaus
verlangen sie eine akkuratere nominelle Untersuchung der Vermissten
auf Grundlage europäischer Datenbanken, da die Namen der
angekommenen Tunesier wegen der problematischen Transkription aus dem
arabischen in das italienische auf unterschiedlicher Weise
registriert werden. Außerdem ein technischer Vergleich der
Fernsehbilder der „Landungen“ auf Lampedusa und der Transfers
nach Mineo, auf welchen die Eltern ihre Kinder wiedererkennen.
Schließlich, die Bergung der Leichen und untergegangenen Wracks.

Das Dossier der Familien der
Vermissten. In den vergangenen Monaten haben die Familien der
Vermissten mit der Hilfe von Freiwilligen und Vereinen die auf beiden
Seiten des Mittelmeers arbeiten, Informationen gesammelt und dadurch
ein richtiges Dossier zusammengestellt indem sich rekonstruieren
lässt wann und auf welchem Schiff die Verwandten aufgebrochen sind.
Von welchen Orten Tunesiens und auf welcher Route. Aber auch von
welchen Telefonnummern sie während ihrer Reise nach Hause
telefoniert haben; die Anrufzeiten und mit welchen
Telefongesellschaften. „Das ist unser Wissen“ – liest man in dem
Aufruf – aber wir wissen auch dass dieser Meeresbereich ständig
durch unzählige technische Überwachungsgeräte, die die EU mit
ihren Mitgliedsstaaten und ihrer Grenzbehörde Frontex zwischen den
beiden Unfern aufbietet, beobachtet wird um die Flüchtlingsbewegungen
zu kontrollieren. Radar, Satelliten, Motorboote, Flugzeuge,
Helikopter und nach der Ankunft die Abnahme eines Fingerabdrucks. Wir
wissen, dass diese Informationen archiviert werden. Wir wissen, dass
über die Behörden der EU hinaus, auch die der NATO vor Ort sind“.
Daher „fordern wir nun eure Erkenntnisse“.

„Ist unser Leid nicht weniger wichtig
als eures?“ Gegenüber der Taubheit der italienischen und
tunesischen Regierungen, wendet sich die Mutter eines Vermissten an
die internationale Presse auf dem Forum von Tunis: „Wir sind
Mütter, Väter, Schwestern und Brüder auf die selbe Weise, in der
man es in Europa ist. Warum also haben unsere Zuneigung und unser
Leid nicht den selben Wert wie die Zuneigung die in einem ähnlichen
Fall den Familienangehörigen der jungen Europäer zuteil werden
würde?“ Dieses Jahr lenkt das Sozialforum große Aufmerksamkeit
auf die Frage nach den in der Straße von Sizilien Vermissten. Und es
ist daher, dass es schwierig sein wird das dieser Appell ungehört
bleibt.

(La Repubblica, VALERIA BRIGID, aus dem Italienischen ins Deutsche von Alessandro Pastore)