Morgen werden wir die Schiffbrüchigen sein
Der 3. Oktober auf Lampedusa zwischen Defilee der Politiker_innen und Gedenken
„Wegen Trauerfall geschlossen. In der Stille und dem Rispekt gegenüber unseren Brüdern und Schwester, die auf dem Meer vor Lampedusa gestorben sind“ liest man auf den Anschlägen an den geschlossenen Türen einiger Geschäfte auf Lampedusa. Doch die Stille ist es, die auf sich warten lässt.
Proteste am Flughafen
Die Organisation des 3. Oktober auf Lampedusa zeigt wieder einmal das Paradoxe und die Komplexität dieser Insel. Um 8:30 Uhr am Morgen beginnt ein Protestaufmarsch vor dem Flughafen. Einige Politiker_innen sind angekommen, unter ihnen der Europarlamentarier Martin Schulz, die Abgeordnetenhauspräsidentin Laura Boldrini und die italienische Außenministerin Federica Mogherini. „Keine blutrote Show auf unseren Körpern“, „Wahrheit über den 3. Oktober“, „Jeder Tag ist der 3. Oktober” liest man. Zu Recht. Mussten wirklich gerade heute diese Politiker_innen kommen und sich mit einer Gruppe von Überlebenden und Familienangehörigen dieses Unglücks zeigen? Lampedusanische Vereinigungen wie Askavusa, aber auch viele andere, unter ihnen Geschäftsleute und diejenigen, die die ersten Schiffbrüchigen in jeder tragischen Nacht retteten, protestieren gegen diese erneute Farce.
Für diese Lampedusaner_innen ist es jedoch nicht nur das “eine-gute-Figur-machen” der Politiker_innen: „Ein Tag, der in Stille und Reflexion hätte begangen werden sollen wird für politische Propaganda und für die Durchsetzung der Militarisierungsstrategien und der Spekulation der Insel Lampedusa missbraucht. Die Würde und die Rechte der Lampedusaner_innen, die ihnen von der italienischen Verfassung her garantiert sein müssten, werden seit Jahrzehnten mit Füßen getreten. Wir vermuten, dass es der politische Wille ist, die Lebensqualität der Lampedusaner_innen bewusst niedrig zu halten, um die Militarisierung und den Ausverkauf der Insel möglichst einfach zu machen. So werden auch die Radaranlagen an der Westküste mit zwei neuen und stärkeren Radars ausgetauscht und die Anzahl der militärischen Anlagen sowie des Militärs unter den Augen aller erhöht“ liest man auf dem Flugblatt.
Nach einer langen Diskussion dürfen vier Personen der Protestkundgebung an der Pressekonferenz in einem Saal des Flughafens teilnehmen. Alessandro Puglia, Journalist, beschreibt deren Beitrag in der Tageszeitung Repubblica: „Wir haben die Toten gesehen, ihr habt sie ermordet, ihr dürft sie nicht Opfer eines Unglücks nennen! Die Vereinigung Askavusa, die seit Jahren auf der Insel aktiv ist und sich für die Rechte von Migrant_innen einsetzt, hat diesen Protest gegen die Politiker_innen organisiert. (…) Während Schulz höhere finanzielle Mittel für die Seenotrettung ankündigt, gehen vor dem Flughafengebäude die Protestrufe weiter: „Mörder, Mörder!“
Auch Vito Fiorino, der Besitzer des Bootes, welches am 3. Oktober 2013 47 Menschen gerettet hat, weigert sich, an dieser Veranstaltung teilzunehmen. Das Komitee 3. Oktober (eine Vereinigung, die diesen Gedenktag mitorganisiert) und die Kommune Lampedusa/Linosa hatte die acht Männer und Frauen, die am 3.10. auf einer privaten Ausfahrt auf dem Boot waren, eingeladen. Doch er wie auch seine damaligen Mitfahrer_innen sind enttäuscht und wütend. „Wir haben nun 12 Monate mit der Gleichgültigkeit gelebt, nun wollen wir Stille“ sagt er. Niemand sei ihnen nach dem erlebten Trauma der Rettung in dieser Nacht, in der sie so viele Menschen haben sterben sehen, nahe gewesen. Niemand wollte sie hören, nicht die Bürgermeisterin, nicht die Behörden, bei denen sie Anzeige über das von ihnen Gesehene und über die verzögerte Rettung der Küstenwache erstatten wollten.
Zwischen Protest und Gedenken am Hafen
Der Protest setzt sich am Fährhafen fort. Dort liegen die Schiffe des Zolls und der Küstenwache, die die Politiker_innen, aber auch eine Gruppe von Überlebenden und Verwandten erwarten, um mit ihnen an den Unglücksort zu fahren. Auch am Schiffsfriedhof, der sehr sichtbar mitten im Ort liegt, wird protestiert. Auf diesem hat sich die RAI breitgemacht. Man versucht, die Interviews, die den Politiker_innen ein Jahr nach der Katastrophe viel zu viel Raum lassen, zu stören. Immer noch sprechen sie davon, dass man das Sterben auf See beenden müsse, ohne aber die europäische Migrationspolitik wirklich zu ändern. Im Gegenteil, statt dessen spricht man von der Verstärkung der Grenzschutzagentur Frontex, als wäre das die Lösung.
Vier Überlebende erreichen den Hafen, sie haben das Boot verpasst, dass sie an den Unglücksort bringen soll. Mit ihren Blumen in der Hand stehen sie verloren und verzweifelt auf das Meer blickend da. Das ist die andere Seite dieses Tages. Überlebende und Verwandte, die versuchen, ihre aufwühlenden Gefühle zu unterdrücken. Letztlich fährt ein im Hafen gebliebenes Schiff des Zolls mit ihnen hinaus, damit sie ihre Blumen dem Meer und den Toten übergeben können. Für sie war dieser Schritt wichtig.
Am Hafen
Proteste am Schiffsfriedhof
Der Marsch
Um 17 Uhr füllt sich der Platz vor der Kirche, viele Menschen, die man normalerweise nicht hier sieht. Viele sind für das SABIR-Festival hier, ein um den 3. Oktober herum vom ARCI, dem Komitee 3. Oktober und der Kommune Lampedusa/Linosa organisiertem Festival der „Kultur und Musik“. Es fehlt nicht an Polemiken gegen diese Veranstaltung, wurden doch in diesem Rahmen so viele „wichtige Personen“ eingeladen, um in diesem Moment der vorgetäuschten Staatstrauer gesehen zu werden. Ordnungskräfte haben es sich im ersten Stock eines Wohnhauses mit direktem Blick auf den Eingang der Kirche gemütlich gemacht, bewaffnet mit Ferngläsern und schusssicheren Westen, wer weiß, wen oder was sie fürchten. In der Kirche zelebriert der Erzbischof von Agrigento eine Messe für die Toten. Gegenüber hat die rechtsgerichtete Lega Nord einen Stand aufgebaut. Erschreckend und unschön: sie nutzen fast dieselben Worte für ihre Proteste. „Schluss mit dem unnötigen Showlaufen der Politiker, genug der Steuern und Schikanen, wir wollen Bildung, Gesundheit, Transporte, saubere Energie“.
Die Messe ist zu Ende und die Eritreer_innen sammeln sich für einen Marsch zur Porta d’Europa, dem Tor Europas, wo Don Mussie Zerai, der inzwischen berühmte eritreische Pfarrer, eine Messe zelebrieren wird. Es sind viele Teilnehmende, in erster Reihe laufen die Eritreer_innen mit ihren Banner „Schützt die Menschen, nicht die Grenzen“. Unter ihnen auch die Bürgermeisterin Giusi Nicolini. Nach ihrer Einladung der politischen „Elite“ zum Jahrestag des 3. Oktober nach Lampedusa gab es auch gegen sie viele Polemiken.
Der Himmel öffnet seine Schleusen – morgen werden wir die Schiffbrüchigen sein
Immer mehr Blitze begleiten den Gedenkzug. Der Himmel hat sich inzwischen in eine bedrohlich blau-schwarze Masse verwandelt. Am Hafen fallen die ersten Tropfen. Aber die Eritreer_innen singen weiter, friedlich zieht der Marsch und noch immer bleiben viele Menschen dabei.
An der Porta d’Europa angekommen beginnt Don Mussie Zerai mit der Messe. Das Wasser des Meers scheint sich wegen der Toten, die es verschlungen hat, zu erzürnen. Der Himmel öffnet seine Schleusen und ein unglaubliches Unwetter mit Blitzen und Donner scheint die Rufe der Toten und Vermissten hinunterzusenden. Die Eritreer_innen sagen, dass die Toten Nachrichten mit dem Regen schicken. Standhaft trotzen alle dem Sturm. Eine angstbringende, aber auch bewegende Szenerie.
Überall haben sich Flüsse auf den Straßen gebildet, der Regen raubt jegliche Sicht und man rutscht, jederzeit mit dem Gefühl im Nacken, dass der nächste Blitz trifft. Jemand überholt, genauso bis auf die Haut durchnässt sagt er lächelnd: „Morgen sind wir die Schiffbrüchigen!“ Er hat Recht. Wenn wir nicht schnellstens etwas an dieser Politik des Todes ändern werden wir das eines Tages bezahlen.
Die Eritreer_innen sind zufrieden mit dem Umzug und der unter einem Himmel zelebrierten Messe, der schien, als wolle er uns alle zu Boden drücken. Aber sie fragen sich auch, ob sie an diesem ach so „großenTage“ für die Politiker_innen nicht doch irgendwie instrumentalisiert worden sind.
Judith Gleitze
Borderline Sicilia/borderline-europe