Kritik am Hotspot in Pozzallo durch den parlamentarischen Untersuchungsausschuss; Ankunft weiterer unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge im Zentrum
Am 23. Juni besuchte der parlamentarische Untersuchungsausschuss für Migrant*innen den Hotspot von Pozzallo. In einer Serie von Untersuchungen werden vor allem Aufnahmeeinrichtungen, die zugleich Identifizierungszentren sind, geprüft. Die Untersuchung bestätigte die mangelhafte und besorgniserregende Situation innerhalb des Zentrums: Mängel am Gebäude, Probleme mit der Wasserversorgung, Verletzung der Privatsphäre und ein zu langes Einbehalten von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Lediglich die Verfahren der Identifikation der Geflüchteten würden mit größter „Sorgfalt“ durchgeführt, so wie es die gängige Herangehensweise eines Hotspots ist.
Nach dem Besuch im Hotspot hat Borderline Sicilia seine Berichte einem Senator und Kommissionsmitglied überreicht. Die Berichte wurden die Tage zuvor bereits dem ordentlichen Gericht sowie dem Jugendgericht (im Rahmen des Projekts OPENEUROPE gemeinsam mit der Regionalabteilung von ASGI*) vorgelegt, um den verlängerten und nicht zulässigen Aufenthalt unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge sowie die schlechten Bedingungen in der Unterkunft anzuprangern. Der Bericht der Kommission ist klar und deutlich und wird in Kürze im Parlament eingehen. Die Situation im Hotspot bleibt bis dahin unverändert.
Erst gestern kamen im Hafen von Pozzallo wieder 456 Migrant*innen an. 17 von ihnen sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Mädchen und Jungen, die nun zu weiteren 60 Geflüchteten, die bereits seit Wochen in der Unterkunft festsitzen, dazu stoßen. Sie alle sind immer noch im Zentrum, da dieses Mal lediglich 300 Personen unmittelbar nach ihrer Ankunft nach Nord- und Mittelitalien umgesiedelt wurden. Auch Human Rights Watch sprach diese Woche von Menschenrechtsverletzungen sowie inakzeptablen Zustände innerhalb des Zentrums. Diese halten nicht nur weiter an, sondern verschlechtern sich zunehmend aufgrund der steigenden Anzahl neuer Bewohner*innen. Dies führt logischerweise zu einer beengten Wohnsituation und einer Überfüllung der Unterkunft. Eine Unterscheidung zwischen Frauen und Männern oder Kindern und Erwachsenen sucht man hier ebenfalls vergebens.
Die gestern mit dem englischen Schiff Enterprise angekommenen Migrant*innen stammen aus Bangladesch, Ghana, dem Sudan, Senegal, Kamerun, Nigeria und Ägypten. Sie wurden aus vier verschiedenen Schlauchbooten auf Höhe der libyschen Küste gerettet – auf offenem Meer, wo es immer weniger Schiffe gibt, die sich um die Rettung von Flüchtlingen kümmern. Stattdessen überlässt man das Leben-Retten lieber kleinen Booten privater Organisationen, sogar an Tagen, an denen ca. 5000 Personen an den Küsten Italiens ankommen. Die Operationen nach der Ankunft im Hafen werden hauptsächlich von Frontex übernommen, das mit mindestens 25 Mitarbeiter*innen an den Landungsstegen verstärkt präsent ist. Sie fangen die Geflüchteten zusammen mit der Polizei direkt bei Ankunft ab und verhören sie mit dem Ziel vermeintliche Schlepper oder Zeugen ausfindig zu machen. Die Migrant*innen haben vor der Untersuchung und Befragung nicht einmal die Möglichkeit zur Ruhe zu kommen und sich nach den Strapazen einen Augenblick auszuruhen.
Auf die ersten medizinischen Untersuchungen, die noch an Bord des Schiffes stattfinden, folgen in der Tat sofort Befragungen, Durchsuchungen mit dem Metalldetektor sowie Kontrollen der persönlichen Habseligkeiten, bevor die Geflüchteten daraufhin direkt zum Hotspot gebracht werden. Nicht zu vergessen sind auch die Bäder aus Chemikalien, die die Geflüchteten über sich ergehen lassen müssen. Während dessen erhalten sie Hausschuhe, ein kleines Überlebenskit des Roten Kreuzes sowie Klopapier, Desinfektionsmittel und Wasser. Schwangere Frauen und Opfer von Gewalt werden unmittelbar ins Krankenhaus gebracht. Vor Ort befinden sich Mitarbeiter von IOM*, UNHCR*, Save The Children, Terres des Hommes, Emergency sowie ein Team von MEDU*, deren Aufgabe es ist die Flüchtlinge aufzufangen, anzuhören und ihnen Schutz zu garantieren, bevor besonders schutzbedürftige Personen weiter verlagert werden. Mutmaßliche Schlepper sowie Zeugen werden sofort isoliert und von der Polizei überwacht. Wir fragen uns, wer sie informiert und vor allem auf welche Weise sie darüber informiert werden, was gerade passiert, welche ihre Rechte sind und was sie in den nächsten Stunden erwartet. Letztlich werden sie immer in irgendwelche Autos gesetzt und sind nichts weiter als neue Zahlen in den Statistiken. Diese sprechen heute von 57 Verhaftungen seit Anfang des Jahres in Ragusa. Verhaftet wurden dabei Personen, die an der illegalen Einwanderung mitbeteiligt gewesen sein sollen. Über diejenigen, die erst nach Monaten wieder aus dem Gefängnis entlassen werden oder jene Umstände, die viele dazu zwingen, sich zwischen dem Überleben und dem sicheren Tod zu entscheiden, erfährt man jedoch nichts.
Unterdessen kamen gestern weitere 765 Migrant*innen in Catania an Bord des Bootes Spica an. Unter ihnen auch die Leiche einer schwangeren Mutter, deren achtjährige Tochter die Überfahrt überlebt hat. Ein weiterer Todesfall, der zeigt, wie allgemeine Gleichgültigkeit und neue unmenschliche Methoden bei der Ankunft der Migrant*innen Hand in Hand gehen. Einige Busfahrer, die die Flüchtlinge aus Sizilien nach Mittel- oder Norditalien transportieren, haben bereits dagegen protestiert, auf der langen Fahrt bis Cosenza keine Pausen machen zu dürfen. Die Polizei scheint es dabei wenig zu interessieren, dass es in den Bussen keine Toiletten gibt und die Geflüchteten, Überlebende nach einer langen Überfahrt im Meer, lediglich mit einer Flasche Wasser und einem Sandwich versorgt wurden – es sind die Vorschriften eines demokratischen Staates, der sich selbst als gastfreundlich bezeichnet.
Weitere 1139 Personen kamen mit dem Rettungsschiff Bourbon Argos in Augusta an. Das Schiff der Organisation Ärzte ohne Grenzen führte dabei zehn Rettungsaktionen durch und rettete Menschen aus neun Schlauchbooten und einem kleinen Lastkahn. Unter den Geretteten befinden sich mindestens 30 Personen mit Verbrennungen oder Brandwunden. Diese gehen auf den Kontakt mit Treibstoff in Kombination mit salzhaltigem Wasser zurück. Es scheint einige seien sogar trotzdem sie am Ende ihrer Belastungsgrenze waren, ins offene Meer gesprungen, um das Rettungsschiff zu erreichen. Für viele ist die Zeltstadt am Hafen von Augusta der erste Ort, an dem sie etwas zur Ruhe kommen können. In der Zeltstadt kommen Migrant*innen seit Monaten für einige Tage unter. Die Bedingungen sind dabei oftmals schlecht: so ist die Zeltstadt völlig überfüllt und nur unzureichend ausgestattet. Zur Zeit leben mehr als 1000 Personen in der Zeltstadt, die eigentlich für maximal 400 Personen ausgelegt ist. Fehlende individuelle Betreuung, keinerlei Informationsquellen, die den Geflüchteten Orientierung bieten könnten, Schwierigkeiten besonders Schutzbedürftige sofort zu erkennen sowie Familien nicht zu trennen sind nur einige der Folgen dieser dürftigen Unterbringung. Es ist ein weiterer symbolischer Ort, an dem unrechtmäßige Dinge passieren und an dem immer mehr Menschen ankommen – Menschen, die lebende Zeugen dafür sind, dass sich etwas ändern kann und muss.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia Onlus
*ASGI (Associazione per gli Studi Giuridici sull’Immigrazione): Verein für juristische Studien zur Immigration
*IOM – International Organization for Migration: Internationale Organisation für Migration
+UNHCR – United Nations High Commissioner for Refugees: Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge
*MEDU – Medici per i diritti umani: Ärzte für Menschenrechte
Aus dem Italienischen von Marlene Berninger