Geschichten von Migranten auf der Flucht

Über jene die bleiben, jene die in ihr Heimatland zurückgeschickt werden und über die immer größer werdende Gruppe jener, die ihr Leben auf dem Meer verlieren.
Die Flüchtlingssituation bleibt, auch ein Jahr nach dem Unglück vom 3. Oktober 2013, dramatisch; Die Lage all jener Menschen, die nur eine Wahl haben, um den Bomben zu entkommen, zu Überleben und eine sichere Zukunft zu haben: die Flucht über das Meer. Allein an der Südküste Siziliens zählte man in der vergangenen Woche mindestens 528 Neuankünfte.
135 Personen, darunter 118 Männer, acht Frauen und neun Minderjährige wurden am 30. September vom griechischen Öltanker „Aegean Myth“ in internationalen Gewässern südlich von Malta geborgen und spät Abends in den Hafen von Pozzallo gebracht. Die zum Großteil syrischen und palästinensischen Flüchtlinge wurden von Polizeikräften, Frontex, Freiwilligen des italienischen Roten Kreuz (CRI), dem Zivilschutz, Ärzten vom Sanitätsbetrieb der Provinz (ASP) und von Ärzte ohne Grenzen (Msf) im Hafen empfangen.
Die Organisation Ärzte ohne Grenzen (Msf), hat in diesen Tagen ein Rundschreiben über die mutmaßlichen Ebola-Verdachtsfälle unter den Migranten veröffentlicht. Tatsachen ans Licht zu bringen und zu informieren wird wegen verzerrten Berichterstattung der negativ – Presse immer notwendiger, aber auch beschwerlicher (http://www.corrierediragusa.it/articoli/attualit%E0/pozzallo/27912-niente-ebola-a-pozzallo-per-i-medici-senza-frontiere.html). Die Flüchtlinge werden gleich in Busse geführt und ins nahe gelegene Erstversorgungs- und Erstaufnahme-Zentrum (CPSA) gefahren. Dort werden immer beachtlichere Gruppen in Empfang genommen, auch minderjährige Ägypter sind seit Anfang September dort untergebracht.
In derselben Nacht erreicht eine weitere Gruppe von Flüchtlingen, auf einem Glücksboot, welches den Kontrollen von MareNostrum entkommen konnte, die Küste zwischen Contrada Cirica in der Gemeinde Ispica und Contrada Granelli im Gebiet Pachino. Es sind insgesamt 77 Personen: 47 Männer, 13 Frauen und 17 Minderjährige, afghanischer und irakischer Herkunft. Trotz Erschöpfung, machen sie sich zu Fuß auf den Weg von Pachino nach Pozzallo. Unterwegs werden die Migranten von den Carabinieri erkannt und darauf von den Ordnungskräften ins Erstversorgungs- und Erstaufnahme-Zentrum (CPSA) von Pozzallo gebracht. http://www.radiortm.it/2014/10/03/i-migranti-bloccati-ispica-erano-arrivati-yacht-concluse-indagini/#more-259039

Am Morgen des 1. Oktober erreichen 316 weitere Migranten den Hafen von Augusta. Das Patroulienboot des Militärs „Cassiopea“ hat sie am Abend zuvor im Ionischen Meer, ungefähr 200 Meilen von Lampedusa entfernt, gerettet. Der große Kahn, auf dem sich alle 316 Personen befanden, war wegen schlechten Witterungsbedingungen in ernste Schwierigkeiten geraten. Zusammen mit den Mitarbeitern von Praesidium und einigen Journalisten treffen wir am Hafen ein und begeben uns zu den Ärzten von Msf, den Ordnungskräften, Mitgliedern von Frontex, Freiwilligen vom Italienischen Roten Kreuz (CRI) und dem Zivilschutz, die alle bereits auf den Bänken warten.
Viele Gesichter blicken oben aus dem Kahn hervor. Lächeln, schwarze Leichensäcke und Rettungswesten vermischen sich auf der Schiffsbrücke. Neben somalischen Frauen, deren Köpfe in bunte Tücher eingewickelt sind, ergründen junge Männer aus Subsahara Afrika die Menge, welche sie unten erwartet und viele Jugendliche ergeben Hände und Arme, um zu Grüßen. Zwar ist es bereits Herbst aber die Sonne scheint immer noch stark, als wir zusammen mit den ersten Ankömmlingen, begleitet von der Polizei, zum vorbereiteten Lager des Hafens gehen. Unterwegs wechsle ich die ersten Worte mit A., er stammt ursprünglich aus Dafur und erzählt mir von seiner langen Reise. „In Ägypten sind wir vor etwa acht oder neun Tagen aufgebrochen. Einige von uns waren bereits zuvor auf unserem „Schiff“, in der Nähe von Alexandria haben wir darauf gewartet, dass sich das Boot füllt und wir in See stechen können. Die Reise war lang und sehr anstrengend. Auch wenn ich unterwegs mein Zeitgefühl verloren habe, kann ich sagen, dass wir bestimmt länger als eine Woche unterwegs waren.“ Die selbe Reisedauer bestätigen mir auch andere Flüchtinge mit denen ich im Laufe des Tages spreche. Sie widerspricht damit den eiligen Schlüssen einiger im Hafen anwesender Bewohner, welche finden, dass diese Migranten, ihrem Befinden nach zu urteilen, eine kurze Überfahrt gehabt haben mussten. „Eigentlich hat meine Reise bereits im Jahr 2008 begonnen“, fähr A. fort. „Ich habe damals Dafur verlassen, nach einer langen Reise wurde ich in ein israelisches Gefängnis gesteckt. Es herrscht ein erbarmungsloser Rassismus dort, sodass Migranten mit dunkler Hautfarbe wegen ihrer bloßen Existens eingesperrt werden. Nach sechs Monaten im Gefängnis, habe ich beschlossen in den Sudan zurückzukehren. Nochmals habe ich versucht in meinem Heimatland zu leben, aber ich habe den täglichen Kampf ums Überleben nicht ausgehalten. Vor einem halben Jahr habe ich beschlossen erneut meine Heimat zu verlassen und dieses Mal über das Meer nach Italien zu flüchten. Jetzt bin ich sehr sehr glücklich angekommen zu sein.“
Viele der Migranten beugen sich nieder, um den heißen Asphalt zu küssen. Zum Zeichen der Dankbarkeit reiben sie eine Handvoll Erde zwischen ihren Händen und strecken sie dann dem Himmel entgegen. „Wir leben, wir leben“, das sind die ersten Worte die ich von einer Familie aus Gaza aufschnappe. „Die einzige Sorge, die mich gerade bedrückt ist, dass ich die Zurückgebliebenen nicht sofort benachrichtigen kann. Ich möchte ihnen allen sagen, dass ich überlebt habe“, sagt mir M.. Anfang September ist sie mit ihren Kindern und Kusinen aus Gaza geflüchtet.
Währendessen erreichen wir die Lagerhalle. Anders als bei vorhergehenden Ankünften, müssen sich die Migranten dieses Mal drausen auf dem asphaltiereten Platz zwischen den Zelten hinsetzten und sich stärken. Dort bleiben sie den halben Nachmittag lang der starken Sonne ausgesetzt, bis die ersten Maßnahmen und die Identifizierungsprozeduren beendet sind. Die Mitarbeiter von Praesidium beginnen damit den Migranten ein mehrsprachiges Faltblatt mit ersten Erklärungen zu ihrer Situation auszuteilen. „Stimmt es, dass sich mitlerweile nicht einmal mehr die Syrer frei bewegen können?“ fragt mich die junge S. aus Aleppo, die für die ganze Familie übersetzt. „Wir wissen noch nicht wo wir hingegen. Wir haben zwei Jahre in Ägypten gelebt, mein Vater hat in dieser Zeit gearbeitet ohne jemals entlohnt worden zu sein. Vielleicht bleiben wir in Italien, vielleicht nicht, wie sollen wir das entscheiden? Ich wünsche mir, dass ich zur Schule gehen kann und, dass meine Familie ohne Todesangst, Erpressung und Bedrohung leben kann. Das ist in Ägypten zurzeit nicht möglich.“
Die 316 Ankömmlinge stammen aus Syrien, Palästina, Ägypten, dem Iraq, Somalia, Eritrea und dem Sudan. Unter ihnen befinden sich 44 unbegleitete Minderjährige, sie werden in die Einrichtungen von Priolo und in die ehemalige Verdi Schule in der Via Dessiè gebracht. Als wir dort später hinkommen wird uns mitgeteilt, dass bereits 115 Jugendliche hier untergebracht sind. In der Lagerhalle läuft die Polizeiarbeit derweil auf Hochtouren. Vier mutmaßliche Schleuser, ägyptischer Herkunft, werden verhaftet und ins Gefängnis von Cavadonna gebracht. Außerdem, wie am nächsten Tag aus der Presse zu entnehmen ist, wurden 28 Erwachsene Ägypter identifiziert, die auf ihre sofortige Rückführung ins Heimatland warten. Es ist die x-te Erfüllung der Einigung, die Italien und die ägyptischen Regierung vereinbart haben. Eine Praxis die sich gegenüber der Narben, der nackten Füße und vor allem der soeben gehörten Geschichten jener, die es heue geschafft haben an Land zu gehen, von selbst erklärt. Z. sagt mit dünner Stimme „Es gibt sicher Personen denen es nicht so gut ergangen ist“, und spricht dabei auf einen Freund an, der vor einigen Monaten bei der Überfahrt ums Leben gekommen ist. „Das Gedenken an die Toten ist falsch. Es hilft nichts ihnen zu gedenken und zu weinen, jedenfalls nicht nur das allein. Auch Unglücke sind der Anfang von Forderungen und Handeln.“

Die Nachricht von einem erneuten Bootsunglück irgendwo entlang der libyschen Küste erreicht uns am folgenden Tag wie ein Bumerang http://www.ansa.it/sito/notizie/mondo/2014/10/02/-naufragio-al-largo-libia-10-morti-decine-dispersi-_9fad7420-8b86-4129-a633-692993b86056.html. Wieder eine neue Liste nicht angekommener Personen und überlebende Freunde, die von uns ein konkretes Handeln fordern.

Lucia Borghi
Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner