Geschichte eines Flüchtlings in Europa: Der Fluch des Fingerabdrucks

Was wird aus den Flüchtlingen, die aus Afrika übers Mittelmeer nach
Lampedusa kommen? In Italien leben sie auf der Straße, in Deutschland
will sie auch niemand. Die Odyssee des Kidane Teklit Yared.
Von Massimo Bognanni

Stern – Es war ein Tag im Dezember 2010, an dem
Kidane Teklit
Yared beschloss, nicht mehr er selbst zu sein. Freunde hatten ihm
verraten, wie es gemacht wird. Der junge Eritreer ging in einen
Supermarkt in Rom, kaufte eine Tube der Enthaarungscreme „Veet“, die
sich gewöhnlich Frauen auf die Beine schmieren. „Nicht länger als sechs
Minuten einwirken lassen“ – Kidane ignorierte den Warnhinweis.

Er tauchte die Spitzen seiner schmalen Finger in die
ätzende Paste. 10 Minuten, 20 Minuten. Zunächst kribbelte es, dann
brannte es. Erst nach einer halben Stunde hielt er es nicht mehr aus und
wusch die Creme
ab. Einen Tag musste er nun warten bis zum nächsten Schritt. Die
Herdplatte glühte. Kidane presste seine in Öl getränkten Fingerkuppen
auf die heiße Platte. Das
Pochen in den verbrannten Kuppen quälte ihn noch Tage. Daran konnte auch
die Vaseline nichts ändern, die er auf die Wunden schmierte. Als fühlte
er noch immer den Schmerz, reibt sich Kidane die Hände, wenn er heute
von der höllischen Prozedur erzählt. Kidane ist ein Flüchtling. Seit er
2008 die Mittelmeerinsel Lampedusa
erreicht hat, sind die Fingerabdrücke seine Feinde. Sie identifizieren
ihn als Immigranten, der in Italien in die EU gelangt ist.

Kidanes
Geschichte ist die einer Odyssee durch Europa. Sie zeigt, was aus den
Zehntausenden afrikanischer Flüchtlinge wird, die auf Lampedusa landen.
Wie sie durch Europa irren, immer in der Hoffnung, bleiben zu dürfen.
Wie sie wegen einer EU-Verordnung namens „Dublin II“ doch immer nach
Italien zurückgeschickt werden, wo sie auf der Straße leben müssen. Es
ist die Geschichte über das Versagen
der europäischen Flüchtlingspolitik, die Elend in Kauf nimmt, statt es
zu bekämpfen. Und es ist eine Geschichte darüber, wie Deutschland die
Verantwortung
für afrikanische Asylsuchende an die südeuropäischen Staaten abschiebt.
Der Weg in Kidanes Welt beginnt
in einem Außenbezirk von Rom, an der UBahn-
Station Ponte Mammolo, ein paar Schritte quer über einen Parkplatz.

Ein Slum mitten in Rom

Gleich
an der „Via delle Messi d’Oro“, an der „Straße der goldenen
Kornfelder“, liegt die Barackensiedlung. Rund 150 Menschen hausen in den
Hütten aus Türen, Zaunresten und verrosteten Eisenplatten. Die meisten
der Flüchtlinge kommen aus Eritrea, Äthiopien und Somalia. Fließend
Wasser oder eine Heizung gibt es hier nicht. Es ist ein Slum in einer
der wohlhabendsten Hauptstädte Europas. Mit roter Farbe hat jemand
Nummern auf die Bretterverschläge
gesprüht. In der „49“ lebt Kidane, zusammen mit zwei
Freunden. Es riecht nach angebrannten Zwiebeln. An der Tür des
fensterlosen Kabuffs steht in schwarzen Buchstaben „God help us“.

Eigentlich
hätte er in Eritrea ein gutes Leben haben können, erzählt Kidane,
während er auf
einer durchgelegenen Matratze sitzt. Der 26-Jährige trägt die schwarzen
Haare kurz geschoren,
sein Bart ist säuberlich gestutzt. Als Mechaniker beim US-Unternehmen
Caterpillar habe sein Vater
für eritreische Verhältnisse sehr gut verdient, sagt er. Er selbst habe
am College von Massawa fünf Semester Meereskunde studiert.

„Meine
Familie hat Tausende Euro in meine Flucht nach Europa gesteckt“, sagt
Kidane in fließendem englisch. „Davon hätte ich in Eritrea eine Existenz
aufbauen können.“ Wenn er von seiner Familie
erzählt, wendet er den Blick ab, die Stimme wird so leise, dass
vorbeirasende Autos sie fast übertönen.
Nur noch selten telefoniere er mit seiner Mutter, vielleicht werde er
sie niemals wiedersehen.
So wie seinen Vater. Als der vor zwei Jahren starb, war Kidane bereits
in Europa. „Ich konnte mich nicht verabschieden.“

Sieben Jahre Gefängnis

In
Eritrea herrscht ein Einparteisystem, Kritiker sprechen von einer
Militärdiktatur. Grundrechte
gelten wenig. Die Religionsfreiheit steht nur auf dem Papier. Kidane ist
Mitglied der protestantischen Pfingstkirche, die dort verboten ist.
„Die Regierung
schloss unsere Kirchen. Wir trafen uns dann heimlich in Privathäusern
zum Gebet. 2007 wurden
wir verhaftet. Sieben Monate lang wurde ich ins Gefängnis gesperrt“,
erzählt Kidane. Bei einem
Gefangenentransport sei ihm die Flucht gelungen, damals habe er
beschlossen, seine Heimat zu verlassen. „Bekommen sie mich jemals wieder
in die Hände, stecken sie mich wieder ins Gefängnis und foltern mich“,
sagt er.

Seine Furcht ist begründet. Mitgliedern von
verbotenen Religionsgemeinschaften drohten in Eritrea „erhebliche
Schwierigkeiten“, auch Verhaftungen und Gefängnisstrafen, bestätigt das
Auswärtige Amt in Berlin. Schmuggler schleusten Kidane über die Grenze
in den Sudan, auf einem überladenen Geländewagen ging es durch die
Sahara nach Libyen. Von der Hauptstadt Tripolis fuhr er in einem
Fischerboot mit 350 weiteren Flüchtlingen in dreitägiger Fahrt übers
offene Meer nach Lampedusa. Im Oktober 2008 erreichte Kidane die
vermeintlich rettende italienische Küste. Doch aus der ersten Euphorie
wurde ein Albtraum. „Ich wollte doch nur in Sicherheit leben“, sagt er
vier Jahre später, „und jetzt sitze ich hier im Elend.“

Weil
er in seiner Heimat gefährdet ist, steht Kidane in Italien unter
„subsidiärem Schutz“: Er
hat eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis, darf arbeiten und sich eine
Wohnung suchen. Er ist normalen Bürgern bei der Gesundheitsversorgung
und Sozialhilfe gleichgestellt. Nach den Buchstaben des Gesetzes. Im
wirklichen Leben sind die Aufenthaltspapiere
jedoch so wertlos wie alte 1000-Lire-Scheine.
Denn Italiens Asylsystem gleicht einer Farce. Die Flüchtlinge erhalten
zwar eine Unterkunft, solange
ihr Verfahren läuft. Doch danach beginnt das Chaos.

Tausende Flüchtlinge in Italien obdachlos

Als
Kidane der Status als Schutzbedürftiger zugesprochen wurde, sollte er
das Übergangsheim auf Sizilien noch am selben Tag verlassen. Ohne neue
Bleibe, ohne Geld, ohne Sprachkenntnisse. Würde es nach Plan gehen,
hätte Kidane im Anschluss einen Platz im nationalen Schutzsystem für
Asylanten und Flüchtlinge SPRAR erhalten. Die Heime sind auf Integration
angelegt, bieten Sprachkurse und psychologische Betreuung. Christopher
Hein, Direktor des italienischen Flüchtlingsrats, einer
Menschenrechtsorganisation, schätzt, dass in Italien 75.000 anerkannte
Flüchtlinge und Schutzbedürftige leben: „Doch für sie gibt es nur etwas
mehr als 3000 Plätze.“ Und SPRAR-Direktorin Daniela Di Capua gibt zu:
„Derzeit brauchten wir mindestens 5000 Plätze. Das ist wegen der Löcher
im Haushalt nicht möglich.“

Die Folge: Tausende anerkannte Flüchtlinge sind in
Italien obdachlos. Allein in Rom lebten 6000 auf der Straße und in
Notunterkünften, schätzt Christopher Hein. So wie Kidane. Slums wie am
U-Bahnhof Ponte Mammolo gibt es auch in Turin und Mailand. Heimatlose
campieren in Zeltlagern, alten Eisenbahnwaggons
und besetzten Häusern. Notlösungen sind der Dauerzustand. Das
italienische Innenministerium
wollte sich dazu auf stern-Anfrage nicht äußern.
Hilfsorganisationen und Kirchen sind häufig die Einzigen, die sich
kümmern. Jeden Mittag stellt sich Kidane an der Essensausgabe des
Jesuiten-
Ordens im Zentrum Roms an, nicht weit vom wuchtigen, weißen
Nationaldenkmal des italienischen Staatsgründers Vittorio Emanuele II.
entfernt.

„Oft kommen so viele, dass das Essen nicht
für alle ausreicht“, sagt er. Deshalb reiht er sich schon vormittags in
die Schlange ein. „Unser Leben in Italien besteht nur aus Warten. Wir
warten auf eine Unterkunft, wir warten auf Essen“, sagt er, „ich möchte
endlich etwas tun, studieren, arbeiten, mich einbringen.“
Doch ohne festen Wohnsitz sei es unmöglich, eine Arbeit zu finden. Und
ohne Arbeit muss er auf der Straße leben. Der einzige Ausweg für ihn:
die Flucht in ein anderes Land.

Dann ging es nach Norwegen

Das
Geld für das Ticket bekam Kidane von einer Verwandten. Am 13. Mai 2009
landete er in der
norwegischen Hauptstadt Oslo, es sollte sein bestes Jahr in Europa
werden. Freiwillig meldete er sich
bei den Behörden, gab seine Fingerabdrücke
ab, beantragte Asyl. Schon wenige Tage nach seiner
Ankunft arbeitete er in der Bücherei. Später lebte er in der Hafenstadt
Bodø, ganz im Norden. Die
Unterkunft war kostenlos. 2000 Kronen, umgerechnet 270 Euro, erhielt er
jeden Monat vom Staat
für Lebensmittel und Kleidung. In einer Fischzucht für Kabeljau fand er
sogar acht Monate lang Arbeit,
der ehemalige Student der Meereskunde nahm dort die Wasserproben. Hier
verliebte er sich in ein Mädchen, ebenfalls aus Eritrea. Als er das
erzählt, strahlt der
sonst so ernste Mann für einen Moment. „Zum ersten Mal war ich in Europa
angekommen.“ Dann traf im Juli 2010 ein Schreiben ein. UDI stand auf
dem Briefkopf, Post von der norwegischen Flüchtlingsbehörde. Italien
habe seine Rückführung akzeptiert. Er werde abgeschoben.

Dort
gebe es eine Unterkunft für ihn, übersetzte ein
Anwalt. Der Fingerabdruck hatte ihn verraten.
Solche Abschiebungen sind in Europa seit 2003 möglich.
Damals wurde das Abkommen „Dublin II“ geschlossen. 29 bürokratisch
formulierte Artikel – die Ursache
für Kidanes Odyssee. Seitdem ist nur noch das Ankunftsland für das
Asylverfahren zuständig. Offiziell
sollte so das „Asyl-Shopping“ gestoppt werden, also das Weiterreisen von
Land zu Land, um sich
die großzügigsten Staaten auszusuchen. In Wahrheit entzogen sich die
wohlhabenden Länder Nordeuropas der Verantwortung für die Flüchtlinge
aus Afrika. Deutschland hat keine Außengrenzen zum Mittelmeer, für
afrikanische Asylbewerber ist es nahezu unmöglich, zuerst in der
Bundesrepublik Zuflucht zu suchen. Seit den 90er Jahren ist die Zahl der
Asylsuchenden hierzulande stark zurückgegangen; die
meisten stammen heute aus dem Irak und Afghanistan.

Fingerabdrücke sorgen für die Abschiebung

Die
Belastung durch Flüchtlinge – auch infolge des arabischen Frühlings –
ist extrem ungleich verteilt, wie die Statistik zeigt. Im vergangenen
Jahr stellten über
300.000 Menschen in den EU-Staaten einen Antrag auf Asyl, 40.000 mehr
als noch ein Jahr zuvor. Während die Zahl in Deutschland im Vergleich
zum Vorjahr
um rund 5000 auf 53.000 moderat stieg, verdreifachte sie sich in Italien
im gleichen Zeitraum von
10.050 auf über 34.000. Die Grundlage für die Dublin-
II-Praxis steckt in Computerservern in Straßburg. In der zentralen
Datenbank Eurodac sammelt
die Europäische Kommission ihre wichtigsten Beweismittel: die
Fingerabdrücke. Auch digitale Bilder
von Kidanes Abdrücken sind hier gespeichert, zusammen mit denen von
1,705 Millionen weiteren
Menschen. Zehn Jahre lang werden die Daten aufbewahrt. Sobald sich
Kidane in einem EU-Land
als Asylsuchender meldet, werden seine Fingerabdrücke mit der Datenbank
abgeglichen. Binnen
weniger Tage wissen die Behörden, dass Italien offiziell für ihn
zuständig ist – und bereiten die Abschiebung vor.

Am
22. Oktober 2010 wurde Kidane in eine Norwegian-
Air-Maschine nach Italien gesetzt. „Du bist fertig, du kannst gehen“,
habe ihm ein Polizist nach der Landung am Flughafen in Mailand nur
gesagt. Keine Spur
von der versprochenen Unterkunft. Ohne Ticket fuhr Kidane im Schnellzug
zurück nach Rom.
Er landete in der „Casa Anagnina“,
einem besetzten Haus in einem Außenbezirk Roms. Mit
den verspiegelten Fensterfronten wirkt das siebenstöckige Gebäude wie
ein ganz gewöhnliches Bürohaus, wären da nicht die Satellitenschüsseln
auf dem Flachdach, hingen da nicht Dutzende weiße
Kabelstränge an der Außenfassade. Ein Spalt im Metallzaun gibt den Weg
in das Gebäude frei,
das auch Kidane mehrere Monate einen Schlafplatz bot. Sie nennen sie die
„Gästeetage“. Wie in
einem Massentierkäfig leben die Menschen hier dicht gedrängt, nur eine
Handbreit Platz ist zwischen
den Matratzen und Bettgestellen, die überall in dem ehemaligen
Großraumbüro stehen. Ein Eritreer mit Kopftuch sagt: „Dublin II ist wie
Aids. Du stirbst
langsam daran.“

Untergekommen im Wellblechcontainer in Oberursel

Es
ist die Hoffnung, die stirbt. Fern der Heimat sitzen die Afrikaner an
einem Ort fest, der niemals
ihr Zuhause werden wird. Lethargisch liegen junge Männer auf den
Matratzen, sie trinken Schnaps aus Plastikflaschen. Manche der bis zu
700 Bewohner verlassen den Bau nur noch selten. Einige haben schon fünf
Abschiebungen hinter sich. Viele geben sich ganz auf. Kidane wollte das
nicht. Lieber verätzte er sich die eigenen Finger. Die zerstörten Kuppen
fielen niemandem auf, als er in den Zug nach Frankfurt stieg. Das
Ticket hatte er von seinen Ersparnissen aus Norwegen gekauft. Am 14.
Januar 2011 stellte der Eritreer seinen Asylantrag in der hessischen
Erstaufnahmeeinrichtung Gießen. Er nannte sich „Kidanemaryam“ und machte
sich vier Jahre jünger.

Wie alle Ankömmlinge wurde er zur „erkennungsdienstlichen Behandlung“
geschickt. Die Frau vom Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge (BAMF) ließ Kidane die frisch gewaschenen Finger einzeln auf den Scanner
legen. Wegen der verbrannten Fingerkuppen war der Abgleich mit der Eurodac-Datenbank nicht
möglich. Doch sie machten ihn verdächtig.
Ein beigefarbener Wellblechcontainer im hessischen Städtchen Oberursel wurde Kidane als
Unterkunft zugewiesen. Was er nicht ahnte: Das Dublin-Referat des BAMF in Dortmund trieb bereits seine Abschiebung voran.

Deutschland wollte ihn loswerden, unabhängig von den Bedingungen in seinem Einreiseland.
Die Behörde versuchte es in
Italien. Doch dort lehnte man
den Antrag ab. Keine Fingerabdrücke,
keine Übernahme, hieß
es aus Rom.
Die deutschen Behörden blieben
hartnäckig. Wenige Wochen
später wurden Kidane noch einmal
die Abdrücke abgenommen.
Inzwischen waren sie nachgewachsen,
Rille für Rille. Das
italienische Innenministerium
stimmte der Abschiebung jetzt
zu. Die Fingerkuppen hatten ihn
ein weiteres Mal verraten.
Das Absurde: Wäre Kidane
ohne Zwischenstopp in
Deutschland angekommen,
er hätte wohl Asyl erhalten.

Gefängnis ist besser als ein Leben in Italien

Der
Frankfurter Rechtsanwalt, Dominik
Bender, der sich auf Flüchtlingsrecht
spezialisiert hat, sagt:
„Mitglieder der Pfingstgemeinde
werden in Eritrea als Staatsfeinde
betrachtet und in aller Regel inhaftiert
– ohne Urteil, auf unbestimmte
Zeit und oft verbunden
mit Folter.“ Jemand wie Kidane
würde daher in Deutschland „mit
sehr hoher Wahrscheinlichkeit
als Asylberechtigter anerkannt“.
Die Polizisten holten Kidane am
frühen Morgen des 6. Dezember
2011 ab. Als es an seiner Tür pochte,
habe er kurz überlegt, aus
dem Fenster zu springen oder sich
unter dem Bett zu verstecken. „Es
gab keinen Ausweg, also blieb ich
einfach auf dem Bett sitzen“, erinnert
er sich. Nur wenige Minuten
für die Morgentoilette habe man
ihm gelassen,
noch nicht einmal
seine Habseligkeiten konnte er
zusammensuchen.

Am Frankfurter Flughafen weigerte
sich der Eritreer, das Flugzeug
nach Italien zu besteigen.
Zwei Wochen kam er anschließend
in Abschiebehaft. „Das Gefängnis
war immer noch besser
als das Leben in Italien.“
Eine Anwältin, die Kidane über
Mitarbeiter des Vereins Proasyl
kennengelernt hat, legte gegen
die Abschiebung Berufung ein –
erfolglos. Das Verwaltungsgericht
Frankfurt urteilte: „Die schwierigen Bedingungen, unter denen
der Antragsteller als Asylbewerber
in Italien lebte und die ihn bei
seiner Rückkehr dorthin wahrscheinlich
wieder erwarten, sind
kein Grund, das verfassungsrechtliche
Schutzkonzept infrage zu
stellen.“ Mit anderen Worten: Die
Drittstaaten-Regelung gilt, egal,
wie schlimm dort die Zustände
sind. Am 20. Dezember wurde
Kidane mit dem Lufthansa-Flug
LH 270 nach Italien geflogen.

Wie kann es sein, dass
Deutschland Schutzbedürftige
ins Elend abschiebt?
Verantwortlich ist Manfred
Schmidt, Präsident des
BAMF, einer Behörde des Innenministeriums.
Es gebe keine offiziellen
Berichte darüber, dass Italien
ein „flächendeckendes, systemisches“ Problem mit der Versorgung
von Flüchtlingen und
Schutzbedürftigen habe, sagt er.
Das Land biete Flüchtlingen
einen „europäischen Mindeststandard“.
Thomas Hammarberg kommt
zu einem ganz anderen Ergebnis.
Der Schwede ist Menschenrechtskommissar
des Europarats;
1977 hat er als Vertreter von Amnesty
International den Friedensnobelpreis
entgegengenommen.
Hammarberg hat mit Bewohnern
aus den Barackensiedlungen in
Italien selbst gesprochen. „Das
ist eine unmenschliche Situation“,
sagt er. Das Fehlen von
geeigneten Unterkünften sorge
ihn seit Langem, durch die Wirtschaftskrise
habe sich die Situation
noch verschärft.

Es ging wieder nach Italien

„Die Dublin-II-Verordnung sollte durch ein menschlicheres Verfahren ersetzt
werden“, fordert er. „Europa,
nicht nur Italien, braucht
ein System, das Flüchtlingsschutz
besser regelt und die Menschenrechte
garantiert.“
Behördenpräsident Manfred
Schmidt hingegen stützt sich auf
die Berichte einer eigenen Mitarbeiterin,
die in Rom für sein
Amt arbeitet. „Unsere Erfahrungen
zeigen, dass die nach Italien
überstellten Menschen nach
ihrer Rückkehr ein Zugticket bekommen,
um eine Unterbringung
erreichen zu können“, sagt er,
„Viele von ihnen wollen aber gar
nicht in die staatlichen Unterbringungen,
fahren lieber zu ihren
Freunden in die Großstädte.“

Auch Kidane landete wieder
bei seinen Freunden in der Großstadt
Rom. Allerdings nicht freiwillig.
Wegen starken Schneefalls
wurde sein Abschiebeflug am
20. Dezember 2011 auf den Mailänder
Flughafen Linate verlegt.
„Nach meiner Ankunft habe ich
kein Ticket und keinen Schlafplatz
bekommen“, sagt er. Die
erste Nacht habe er auf den
silberfarbenen Metallstühlen im
Flughafen-Terminal verbracht.
Nach den Recherchen in Italien
besuchte der stern
BAMF-Präsident Manfred
Schmidt in seiner Nürnberger
Behörde.

Erneute Klage gegen seinen abgelehnten Asylantrag in Deutschland

Nachdenklich schaute
sich der Amtsleiter durch seine
rahmenlose Brille die Bilder der
Baracken und besetzten Büros aus
Rom an. Entspricht das dem
„europäischen Mindeststandard“,
von dem Schmidt spricht? Würde
der Behördenleiter seine eigenen
Kinder, beide nur ein wenig jünger
als Kidane, dort leben lassen?
„Natürlich nicht.“ Schmidt kündigte
an, einen eigenen Bericht
über die Lage in Rom in Auftrag
zu geben. „Die Dublin-II-Verordnung
ist gut, auch wenn es in
der Praxis manchmal Probleme
gibt“, sagte er.
Kidane stellte nach seiner Rückkehr
in Rom einen Antrag auf
Unterkunft.

„Mindestens zwei bis
drei Monate Wartezeit“, hat jemand
mit Kuli auf den weißen
Schnipsel gekritzelt. Ein weiterer
wertloser Zettel. Nach Monaten
des Wartens brach Kidane in
diesem Sommer ein weiteres
Mal nach Deutschland auf – die
Zugfahrkarte hatten deutsche
Freunde bezahlt.
In diesen Tagen klagt Kidane
erneut gegen seinen abgelehnten
Asylantrag, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen
unterstützen ihn.
Nach den stern-Recherchen hat
ihn das BAMF vorübergehend
in den Wellblechcontainern in
Oberursel untergebracht. Trotz
des laufenden Gerichtsverfahrens
kann die Behörde ihn jederzeit
wieder zurück nach Italien
schicken.
Die Odyssee durch Europa ist
nach mehr als vier Jahren immer
noch nicht zu Ende. Doch Kidane
versucht es weiter: den Fluch der
Fingerabdrücke zu besiegen.

Video: Audio-Slideshow: Die Odyssee eines afrikanischen Flüchtlings