Die Schuld und die dunkle Seite des Aufnahmesystems: Was erwartet diejenigen, die sich aus dem Meer retten können?
In der vergangenen Woche haben ungefähr 1000 Migranten die sizilianischen Küsten erreicht und somit die Häfen von Catania, Augusta und Pozzallo. Neue Routen und verzweifelte Navigationssysteme, die bezeugen wie unaufhaltsam die Flucht ist von denen, die sich zwischen Revolten und immer eingeschränkteren Seenotrettungsdienste bewegen. Migranten, die flüchten um zu überleben, es aber leider nicht immer schaffen.
Auch heute kam die Nachricht, dass 4 Leichen aus einem havarierten Schlauchboot südlich von Lampedusa geborgen wurden http://www.ansa.it/sicilia/notizie/2014/12/23/immigrazionesalvati-67-migranti4-morti_e4512fcb-805e-4f8f-880a-e3d66e889634.html, während vor nicht einmal 20 Tagen 18 Migranten 50 Meilen von Libyen entfernt verhungert und verdurstet sind. Der Rettungsdienst kommt angeblich nicht mehr rechtzeitig um die ständigen und möglichen Blutbäder zu verhindern http://www.ansa.it/sicilia/notizie/2014/12/05/immigrati-nuova-tragedia-in-mare-a-largo-di-lampedusa_e833e7d1-5561-4325-ace9-4dec87369b92.html.
Unentschuldbare Mängel, die sich dank des Schweigens der Presse breit machen können und die Unmöglichkeit einer Anklage von Seite derjenigen, die keine Stimme mehr haben, ausnutzt. Während sich auf der anderen Seite diejenigen, die sich retten konnten, in dem sogenannten Aufnahmesystem verfangen, in dem jeder Tag dunkler wird.
Unter den 700 Migranten die in Augusta an Land gekommen sind http://www.ansa.it/sicilia/notizie/2014/12/21/ad-augusta-mercantile-con-700-migranti_19f5924b-ac71-4ec2-ad28-0864d8df6d88.html wurden nämlich einige am selben Tag noch nach Sirakus und Messina verlegt. Somit bestätigen sich die derzeit angewandten, zur Struktur gewordenen und durch den Notstand gerechtfertigten Gepflogenheiten, Migranten in Einrichtungen unterzubringen, die eine hohe Personenkapazität vorweisen und somit in ein riesiges Wartezimmer verwandelt werden.
Die Einrichtungen in der Umgebung von Sirakus, von denen einige in der skandalösen Ermittlungen gegen die Mafia Capitale verwickelt sind http://siracusa.gds.it/2014/12/21/mafia-capitale-e-centri-di-accoglienza-per-migranti-inchiesta-anche-a-siracusa_283114/, befinden sich nämlich sehr nah an einem Kollaps, wie einige der dort untergebrachten oder sich bereits auf der Weiterreise befindenden Jugendliche berichten. Auch im Zentrum Umberto I in Sirakus gibt es eine sehr hohe Zahl an Menschen, die warten oder auf Durchreise sind. „Das Problem hier ist, dass wir wirklich sehr viele sind“, erzählt mir L., der in Sirakus untergebracht ist. „Zum Glück bin ich erst seit zwei Monaten hier und in Kürze werde ich woanders hin versetzt, aber ein Zentrum mit so vielen Menschen wird natürlich zu einem Lager, indem die Mitarbeiter trotz aller Mühe nicht länger wie 10 Minuten mit einem sprechen können.“
Durchreisezentren, die sich in Orte des langen Wartens verwandeln, in denen man in der Schwebe lebt und in denen der einzige Feind den es zu bekämpfen gilt, insbesondere in einem fremden Land, die Unsicherheit ist. Vor nur wenigen Tagen haben wir mit einigen Jugendlichen gesprochen, die im Pala Nebiolo in Messina untergebracht sind. Noch vor der Ankunft der letzten Personen waren dort bereits 200 Menschen untergebracht. Viele Migranten aus Gambia, Senegal, Mali und Nigeria haben sich mitten im Winter, nur mit dünnen Jacken und Badelatschen bekleidet, vor der Zeltstadt versammelt. „Wir sind seit zwei Wochen hier, ich habe meinen Cousin sterben sehen, er war in meinem gleichen Boot“, sagt M., unfähig seine Worte zu unterdrücken. Wie er, haben auch andere Jugendlichen des Zentrums einen der letzten Schiffbrüche überlebt. „Ich schaffe es hier nicht zu schlafen, wegen der Kälte und der vielen Gedanken. Ich lebe mit anderen 7 Personen in einem Zelt und nachts bleibt mir nichts anderes übrig als an das zu denken, was ich vor kurzem erlebt habe. In diesen Zuständen kann ich nicht einmal überlegen, umso weniger kann ich die Zukunft planen“, schließt M. ab. Der Reihe nach ergreifen dann auch die anderen das Wort, am Ende überlagern sich ihre Stimmen in der Aufregung: „Ich bin seit einem Monat hier“, sagt C. „Und ich bin am Ende. Ich habe keine warme Kleidung, manchmal klaue ich etwas aus den Mülltonnen, schmeiße es dann aber schnell zurück, aus Angst mir Flöhe oder Läuse einzufangen oder noch mehr wie jetzt zu stinken. Nur ich weiß was ich für ein Bett und ein Dach über dem Kopf geben würde. Tagsüber gehe ich oft raus zum beten, weil ich Christ bin, aber mein Tag beschränkt sich darauf, weil wir kein Geld sondern nur Zigaretten und Telefonkarten haben. Was könnte ich anderes machen?“. Viele möchten von ihrer Reise erzählen, aber hauptsächlich die Spuren zeigen, von dem was ihnen in Libyen widerfahren ist: Verletzungen und Narben durch Schusswaffen auf den Beinen und im Gesicht: „Wenn man es sieht glaubt man es uns vielleicht mehr“. Bilder und Geschichten von manchmal endlosen Reisen. Einige scheinen durch die Erzählung ihrer Erlebnisse etwas erleichtert. „Nachdem ich zwei Jahre lang auf Reise war, bin ich jetzt voller Mut, denn ich glaube mein Projekt realisieren zu können“ sagt D., ein Tänzer und Schlagzeuger: „Vor zwei Jahren war ich kurz davor an einem großen Festival in Holland teilzunehmen, aber dann wurde mein Bruder ermordet und mein Leben wurde völlig durcheinandergebracht. Jetzt wo ich in Europa angekommen bin, kann ich mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Träume sind dafür da, dass man ein Weg findet sie zu realisieren“.
Entschlossenheit und Enthusiasmus, wie ihn die Migranten wenige Zeit später zeigen, als sie dem Aushang eines Spruchbandes an einem Gerüst im Zentrum beiwohnen. Dieses wurde von einigen Aktivisten am Welttag für die Rechte von Migranten organisiert. Sie applaudieren, pfeifen, fragen und finden Antworten auf die Bedeutung dieser Geste und fühlen sich dabei stärker und nicht mehr so alleine. Und weniger wie Gefangene eines kranken Systems.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia Onlus
Aus dem Italienischen von Linde Nadiani