Die Aufnahmezentren in den Madonien (Palermo) – 3.Teil
„Wir sind Menschen“
Im Naturpark der Madonien gibt es außer wunderbarer und unberührter Landschaft, zahlreichen Tieren und einer üppigen Vegetation zwei Einrichtungen, die als Sammellager zur Aufnahme genutzt werden: Baita del Faggio und Piano Torre Hotel. Bei der Eröffnung im Dezember 2013 war die Verwaltung der Parrivecchio SRL übertragen worden. Im Mai fand eine Übergabe zugunsten der Kooperative Scarabeo statt.
Beide Zentren sind aufgrund ihres geografischen Standortes schwer zu erreichen.
Mitten in den Bergen: Piano Torre und Baita del Faggio
Ist man einmal dort, bleibt es aufgrund widersprüchlicher und unpräziser Aussagen derer, die hier leben oder arbeiten, trotzdem schwierig, die Wirklichkeit wahrzunehmen. Mit dem Ziel, besser zu verstehen und die unterschiedlichen Versionen möglichst gut zusammenzufügen, habe ich mich zweimal dorthin begeben.
Sowohl der Kulturmittler, der mich beim ersten Mal begrüßt, wie auch die Verantwortliche für die Verwaltung, der ich beim zweiten Besuch begegne, bestehen darauf, dass die beiden Zentren CARAs (Sammelunterkunft für Asylsuchende) sind. In Wirklichkeit sind es übliche CAS (außerordentliches Aufnahmezentrum).
Baita del Faggio: Die Einrichtung ist zurzeit geschlossen. Der Vermittler beschreibt das Zentrum als eine zeitlich befristete Lösung (für die Dauer von einigen Monaten) für die allererste Aufnahme. Er sagt mir, dass Gruppen mit vielen Migranten sofort nach ihrer Ankunft hierher verlegt würden. Er erzählt mir, dass einmal 200 Eritreer während der ersten Nacht des Aufenthaltes in der Baita verschwunden seien. Die andere Mitarbeiterin sagt mir dagegen, dass das Zentrum nur im Augenblick geschlossen sei. Die Aufnahme in der Baita sei wegen eines fehlenden Dokumentes ausgesetzt worden. Ich frage, ob das aufgrund der Fluchten in der Vergangenheit sei und sie antwortet, dass nur einmal ein Jugendlicher weggelaufen sei, um nach Deutschland zu gehen; er sei aber kurz darauf zurückgekommen.
Hotel Piano Torre: Das Zentrum beherbergt seit ca. 3 Monaten 43 junge Männer unterschiedlicher Nationalität (Mali, Senegal, Gambia, Sierra Leone…)
Die jungen Männer sind bis jetzt zu medizinischen Untersuchungen nach Palermo gebracht worden, aber für die Besuche beim Allgemeinmediziner sucht man nach einer Möglichkeit, eine Beziehung nach Cefalù herzustellen. Bislang begab sich der Mediziner ein, zwei Mal die Woche ins Zentrum. Beim zweiten Besuch wird mir gesagt, dass sie gerade die letzten STP fertig machen, da in den vier Monaten einige Migranten überhaupt kein Gesundheitsproblem hatten. (STP=Vorübergehend Anwesender Ausländer; ein codierter Ausweis, der den Ausländern überlassen wird, die sich nicht in das Nationale Gesundheitssystem einschreiben können, weil sie sich irregulär auf italienischem Territorium aufhalten).
Was das Essen angeht wird mir versichert, dass man eine ausgewogene Diät verfolge: Reis und Beilage zum Mittag, Fleisch und Beilage am Abend. Die Gerichte werden im Zentrum gekocht; so ist die Frische gesichert. Die Migranten bestätigen, dass sie praktisch jeden Tag ungewürzten Reis essen, viele Kartoffeln und Fleisch, wenn’s gut geht, ein-, zweimal die Woche.
Die Kleidung wird von einem informellen Netz von Bekannten in der Kirche und unter Privaten gesammelt. Von den Kleidungsstücken, die den Mitarbeitern übergeben werden, landet nur ein Teil bei den Migranten. Die Mitarbeiter erklären, dass die gespendeten Kleidungsstücke oft zu groß oder zu klein seien und dass sich die jungen Männer manchmal weigerten, Kleidung für Mädchen oder ältere Menschen anzuziehen. Die Version der Migranten lautet anders: Die Mitarbeiter prämieren die ruhigsten Gäste mit Kleidung und denen, die protestieren, entziehen sie sie.
Taschengeld gibt es 2,50€ pro Tag. Die Jugendlichen beklagen sich, indem sie sich ironisch darüber auslassen, dass sie mitten im Busch leben und das Taschengeld nicht verwenden können. Sie gebrauchen das Geld vor allem, um Creme, Zigaretten und Rasierklingen im Zentrum zu kaufen. Die Mitarbeiterin sagt mir, damit sie nicht in das Dorf hinabsteigen müssten, würden sie Tabak und Creme mitbringen und direkt im Hotel verkaufen.
Der nächste Ort ist ca. 9km entfernt, entlang einer kurvigen Straße inmitten von Bäumen. Im Auto braucht man eine viertel Stunde, wenn man 40-45Km/h fährt, zu Fuß aber scheint die Entfernung unendlich. Die Flüchtlinge können, wie in jedem anderen CAS, vom Morgen bis zum Abend hinausgehen, aber wo sollen sie hin? Um was zu machen? Die Migranten sagen mir mehrmals, dass sie sich wie im Gefängnis fühlen. „Wir sind Menschen“, machen sie geltend, als habe das jemand in Zweifel gezogen. Sie erzählen mir, dass wilde Tiere in der Nacht vom Geruch des Essens angelockt würden und versuchten, in die Einrichtung hineinzukommen. Als ich abends das Hotel verlasse, stoße ich auf zwei Wildschweine. Sie wollen verlegt werden; diese Sorge übertrifft bei weitem das Bedürfnis, die Papiere zu bekommen. „Auch wenn ich die Dokumente bekomme, was soll ich hier damit anfangen? Sie den Bäumen zeigen?“, fragt ein Asylsuchender.
Die Migranten haben zu niemandem Vertrauen. Sie sind überzeugt, dass die Polizei, die Verwalter, die Mitarbeiter und die Eigentümer des Hotels in der Absicht handeln, sie in Unbehaglichkeit und Entbehrung leben zu lassen. Mir scheint eher, dass die Migranten der letzte Gedanke derer sind, die tatsächlich ihr Schicksal bestimmen. Aber vielleicht lässt der Glaube, dass sie wenigsten der grausamen Aufmerksamkeiten würdig sind, diese jungen Männer sich weniger weit entfernt und vergessen von der Welt fühlen.
Sie erzählen mir, wie sie versucht haben, ihre Anliegen nach draußen zu tragen. Am 18.August sind 33 Migranten zum ersten Mal zur Polizei von Isnello gegangen; bei dieser Gelegenheit wurde ihnen die Verlegung versprochen. Für Ende des Monats war die Verlegung von 33 Person tatsächlich geplant, wurde aber von Baita del Faggio durchgeführt, wo sich 36 Personen befanden: 33 wurden nach Norditalien geschickt, zwei von ihnen waren Minderjährige und folglich wurden sie in geeignete Zentren verlegt, ein Migrant wurde nach Piano Torre gebracht. Den Gästen von Piano Torre zufolge waren die Verlegungen eigentlich ihnen zugedacht gewesen, aber die Verwalter der Zentren hätten es vorgezogen, sich von den Undiszipliniertesten zu befreien, den Jugendlichen aus der Baita. Sie sind am 3.September zur Polizei zurückgekehrt, um zu protestieren, diese Mal ohne Resultat. Die Polizei hat ihnen nur gesagt: „Ach, ihr seid noch hier?“
Die Migranten erklären mir, dass sie am Anfang ruhig gewesen seien. Um mir ein Beispiel dafür zu geben, wie sie nach und nach das Vertrauen und die Geduld verloren hätten, erzählen sie mir folgendes Ereignis. Als sie angekommen sind, sei ihnen gesagt worden, wenn sie das Schwimmbecken gereinigt hätten, könnten sie es benutzen. Aber nachdem sie sie es gereinigt hatten, durften sie nur einmal ein Bad nehmen. Die Mitarbeiterin sagt, richtig, denn das Schwimmbad gehöre nicht zum geschuldeten Service. Um sich zu rechtfertigen, erklärt sie, es seien die Eigentümer des Hotels, die es verwalten und dass die Organisation Scarabeo kein Recht habe auf das Schwimmbecken. Und dann bemerkt sie, dass ohne einen Bademeister niemand darin schwimmen dürfe. Aber das wurde den jungen Männern nicht erklärt, bevor sie es wieder nutzbar gemacht hatten. Die Migranten legen noch eins drauf indem sie mir sagen, dass sie sich doppelt auf den Arm genommen gefühlt hätten, als sie gesehen haben, dass die Touristen dafür bezahlt haben, um das Schwimmbecken zu nutzen, das sie gereinigt hatten. Touristen? Während meines zweiten Besuches frage ich die Mitarbeiterin, ob die Einrichtung auch noch als Hotel oder Restaurant genutzt wird. Sie sagt, nein. Ich lege die Frage wieder den Migranten vor: „Jungs, was jetzt? Die Mitarbeiter sagen mir, dass es hier keine Touristen gibt.“ Sie antworten mir fassungslos, dass die Touristen kommen, oft im Hotel übernachten und das Schwimmbecken benutzen. Sie erklären mir, dass es ihnen nicht erlaubt sei, am Pool zu stehen oder sich im Gemeinschaftssaal aufzuhalten, wenn Touristen da sind. Sie gehen, um „Mamma Sara“ zu rufen (die für die Verwaltung Verantwortliche) und sie fordern sie auf, ihre Version in ihrer Gegenwart zu wiederholen. Sara besinnt sich langsam eines Besseren. Zuerst gibt sie zu, dass Personen zum Mittagessen dagewesen sind; dann erklärt sie, dass diese sich manchmal den Nachmittag über hier aufgehalten und das Schwimmbecken benutzt hätten. Nach einigem Zögern und dem Druck der Migranten, weicht sie zurück und bestätigt, dass eine Fußballmannschaft gekommen sei, um zu trainieren und das sie über Nacht geblieben ist. Sie beeilt sich aber zu betonen, dass sie damit nichts zu tun habe: Es seien die Eigentümer, die für die Nutzung der Einrichtung verantwortlich sind. Die Jugendlichen präsentieren mir diese Meinungsänderung als Beweis für die Tatsache, dass man dem, was die Verwalter sagen, nicht vertrauen dürfe. Über die Absichten der Personen kann man nichts erfahren, aber das Zuschieben der Verantwortung zwischen Kooperative und Eigentümer der Einrichtung legt nahe, dass es wenig Transparenz in der Leitung der Verwaltung des Zentrums/Hotels gibt.
Bevor ich gehe, kommt junger Mann zu mir, der während des öffentlichen Gesprächs abseits stand. Er befiehlt mir streng, ihm zu helfen. Der Ton seiner Stimme ist beinahe bedrohlich. Die Motivation, die er anführt, unterscheidet sich von der der anderen: Er sagt, er habe gesundheitliche Probleme und dass die Ärzte nur so tun, als ob sie ihn heilen würden. Ich bitte ihn, sich deutlicher zu erklären, und er fügt dies hinzu: „ Seit ich hier angekommen bin, fühle ich Dinge unter der Haut, die mich stechen. Der Doktor hat mir eine Salbe gegeben, die ich einige Tage auftragen soll. Ich habe das gemacht, aber es hat sich nichts verändert. Sie haben mich untersucht, aber nichts gefunden. Aber ich spüre, da gibt es etwas in mir, das mich unter der Haut sticht.“ Ich kann mir nur vorstellen, dass es sich um eine Psychose handelt, offenbar unbehandelt. Am Tag nach meinem zweiten Besuch ist die Polizei am Zentrum vorbei gekommen und hat versprochen, dass sie innerhalb von 20 Tagen die Aufenthaltserlaubnis für 3 Monate bekommen würden. Die Jugendlichen haben keine Zeit verloren und zum dritten Mal ihre Priorität bekräftigt: Die Notwendigkeit, verlegt zu werden.
Carlotta Giordano
Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen von Rainer Grüber
Anmerkung der Redaktion: Die Madonie sind ein Gebirgszug, ca. 55 km östlich von der Provinz- und Regionshauptstadt Palermo.