Der Brief einer Mutter

Die Grausamkeiten, die der Großteil der Migrant*innen erleiden, die nur ein würdiges Leben suchen, schaffen unauslöschliche Verletzungen. Sie gehen viel tiefer als die körperlichen und sie verschlimmern sich noch durch die Gewalttätigkeiten, die ihnen von dem italienischen Aufnahmesystem zugefügt werden. Ganz viele erzählen uns von den tragischen Erfahrungen in Libyen, in der Wüste, bei der Überfahrt, Momente, in denen viele von ihnen unterwegs jemanden verloren haben. Eine Reise, bei der der Tod immer anwesend ist und die tiefe Spuren in den Seelen dieser Menschen hinterlässt.

Zeichnung von Francesco Piobicchi

Alle diese physischen und psychischen Gewalterfahrungen werden von Italien unterschätzt: In den CAS* und in den SPRAR* sind die Psycholog*innen nur einige Stunden in der Woche anwesend und, weil Mediator*innen fehlen, gelingt es ihnen nicht immer, sich um die Menschen zu kümmern, die es brauchen; in der Folge sind die Menschen selber nicht bereit, sich ihnen anzuvertrauen. Professionelle Personen, die sich nicht immer in den Zentren auffinden lassen.

Dieser Mangel, zusammen mit anderen Faktoren, führt zu der Tatsache, dass die Migrant*innen immer öfter ihrem Schicksal überlassen werden. Für gewöhnlich ist das die Straße. Wir bekräftigen die Ansicht, dass diese Faktoren vielen Spekulant*innen nützen, dank einer Politik, die die Untaten begünstigt im Namen falscher Sicherheit: Ein Umlauf von Millionen Euro, der die großen Körperschaften begünstigt. Die Staaten investieren in Sicherheit, während die multinationalen Konzerne, die Waffen und Anlagen zur Grenzsicherung produzieren, ihre Umsätze Schwindel erregend steigern, und der Wettlauf um die Schließung lässt einzig die Zahl der Toten steigen, nicht nur auf dem Meer.

In der gerade vergangenen Woche sind an der libyschen Küste 160 Menschen tot gefunden worden. Tote, die von den politischen Entscheidungen Europas und Italiens verursacht wurden; durch ihre eigenen Anweisungen haben sie die Achtung der Menschenrechte ausgelöscht. Es sind so viele Tote, dass das Meer sie ans Ufer zurückbringt, wie ein Zeichen für eine Grenze, die seit langem erreicht ist.

Kürzlich hat die Mutter eines eritreischen jungen Mannes zu uns Kontakt aufgenommen. Er ist mit großer Wahrscheinlichkeit bei dem Massensterben am 16. Januar umgekommen, einem von vielen, die jetzt nicht einmal mehr in den Fernsehnachrichten erwähnt werden, die für die humanitären Organisationen nur noch statistisch von Bedeutung sind; sie zählen die Toten.

Zeichnung von Francesco Piobicchi

Die Frau hat uns gefragt, wie sie ihren Sohn beerdigen könne; und sie sprach schon in der Vergangenheit von ihm: „Mein Sohn hieß R., Eritreer, er war 27 Jahre alt. Seit 16 Monaten hielt er sich in Libyen auf. Ich habe leider keine großen wirtschaftlichen Möglichkeiten und der Vater von R. ist vor vielen Jahren an einer Krankheit gestorben. Mit R. haben wir entschieden, aus Eritrea wegzugehen; wir konnten auf diese Art nicht mehr leben, das war kein Leben. Trotz meines Alters habe ich beschlossen, meinen Grund und Boden zu verlassen, weil mein Sohn mich nicht allein lassen wollte. Also haben wir uns mithilfe erbarmungsloser Leute auf die Reise gemacht; sie haben uns, in Komplizenschaft mit Polizist*innen, die wir in der Wüste und an den Grenzen getroffen haben, alles geraubt. Alle unsere Ersparnisse waren nach kurzer Zeit aufgebraucht und mein Sohn hat sofort angefangen zu arbeiten; er hat zu mir gesagt: „ Mama, du musst sobald wie möglich zu deinem Bruder gehen, du kannst nicht in dieser Hölle bleiben.“ So hat R. in Libyen als Sklave gelebt, und er hat mich auf einen Kahn gebracht, und das war das letzte Mal, dass ich sein Gesicht glücklich und stolz gesehen habe, weil es etwas für seine Mutter getan hatte. Ich lebe dagegen in Angst, weil R. tot ist, aber ich kann ihn nicht mehr in den Arm nehmen, kann ihm nicht mal eine Zärtlichkeit geben; mir haben sie auch die Erfüllung dieses letzten Wunsches genommen. R. hat mich am 14. Januar angerufen und mir gesagt: „Mama, bald sind wir wieder zusammen, wir werden uns in den Arm nehmen. Sag dem Onkel, dass er ein Bett für mich vorbereiten soll; zulange habe ich auf der Erde geschlafen und in Europa will ich das nicht mehr.“ Seine letzten Worte waren: „Sie haben uns auf den Kahn gebracht mit der Pistole am Kopf, das Meer ist nicht sehr gut, aber sie sagen, dass wir aufbrechen. Wenn ich in Italien angekommen bin, rufe ich Dich sofort an. Ciao Mama.“ Das war leider das letzte Mal, dass ich R. gehört habe; im Verlauf des 17. Januars hat mich ein eritreischer junger Mann, ein Freund von R., angerufen; er hat mir mitgeteilt, dass während der Überfahrt ganz viele junge Leute gestorben sind und dass nur vier Körper geborgen werden konnten. Von R. gibt es keine Nachrichten mehr, ich denke, er ist tot. Aber ich möchte meinen Sohn ein letztes Mal in den Arm nehmen, möchte ihm dafür danken, dass er mir das Leben gerettet hat. Ich lebe, und ich muss weiter leben wegen des großen Geschenkes, das er mir gemacht hat. Ich möchte seinen Körper sehen, gepeinigt von so viel Gewalt, ich will seine Wunden versorgen, bevor ich ihm eine würdige Beerdigung mache. Könnt ihr bitte etwas tun?“

Schweigen war die einzige Antwort, zu der wir fähig waren. Ein Kloß im Hals hat uns blockiert. Wir mussten auch die Tränen zurückhalten, die Wut, den Kummer, wie jedes Mal, wenn wir ein Zeugnis erhalten, wie jenes von L. Wir sind mit den Institutionen von Trapani in Kontakt. Wir warten darauf zu erfahren, wann die vier Leichname, die geborgen wurden, beerdigt werden. L. möchte gerne kommen und eine Blume auf das Grab von einem der vier jungen Männer legen, denen sie sich nahe fühlt wie ihrem Sohn; der einzige Trost, der einer Mutter geblieben ist, der wir alles genommen haben.

Alberto Biondo
Borderline Sicilia

*CAS – Centro di accoglienza straordinaria, außerordentliches Aufnahmezentrum

*SPRAR – Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 – 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Geflüchteten dienen

Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber