Die Italienische Lotterie der Aufnahme

Die Kritik von Oxfam Italien

Das italienische Aufnahmesystem lässt den Zufall das Schicksal tausender flüchtender Personen entscheiden, die in unserem Land angekommen sind. So lautet die Anklage im neuen Bericht „Die italienische Lotterie der Aufnahme“. 8 von 10 Migrant*innen sind „not“-untergebracht in siebentausend außerordentlichen Aufnahmezentren, die oftmals keine angebrachten Leistungen für die Integration anbieten. Oxfam Italien verlangt von der italienischen Regierung eine radikale Reform, die das Recht auf gleiche Behandlung sicherstellt, über die „Notfall“-Maßnahmen hinaus, die die Verwaltung der Migrationsströme ins Auge fassen.

Die Defizite des Aufnahmesystems in Italien

Der Bericht „Die italienische Lotterie der Aufnahme“ benennt die schwachen und irrationalen Elemente des italienischen Systems, in dem die Migrationsbewegungen immer noch gehandhabt werden, als seien sie eine Ausnahme. Das Schicksal tausender Personen, die sich psychisch und physisch in katastrophalen Zuständen befinden, wird auf willkürliche Art und Weise bestimmt. Zum Beispiel wie folgt:

• Die Asylbewerber*innen, die in unser Land kommen, werden Opfer von summarischen Identifikationsprozeduren und einer ineffizienten Bürokratie, die sie zufällig in die eine oder andere Einrichtung, in die eine oder andere Stadt schickt, einfach auf der Basis momentan zur Verfügung stehender Schlafplätze.

• Die individuellen Geschichten werden nicht in Betracht gezogen: man kann in Einrichtungen landen, in denen tausende von Personen zusammengepfercht untergebracht sind oder in welchen, in denen man auf anständige Art und Weise in Integrationsprogramme und den Arbeitsmarkt eingeführt wird.

• Das Risiko bleibt hoch, dass Familienangehörige voneinander getrennt werden, dass de facto das Recht verweigert wird, einen Asylantrag zu stellen oder dass bei der Verwaltung des unendlichen Ausnahmezustands unmögliche Lebensumstände, soziale Spannungen und lange Wartezeiten verursacht werden.

Die Zahlen des „Ausnahmezustands“

In Italien werden auf 1000 Einwohner*innen 3 Asylbewerber*innen aufgenommen. Eine Zahl, die den „Invasions“-Alarm, auf den bei jeder neuen Ankunft hingewiesen wird, keinesfalls rechtfertigt. Vor allem, wenn man beachtet, dass in Deutschland diese Zahl bei einem Verhältnis von 8 zu 1000 liegt.

Trotzdem wird die Situation in Italien grundsätzlich der Logik des Ausnahmezustands folgend gehandhabt. Dementsprechend werden immer wieder neue außerordentliche Aufnahmezentren (CAS*) eröffnet, was sich nachteilig auf das gewöhnliche System der SPRAR* auswirkt. Inzwischen werden die Asylbewerber*innen dem einen oder dem anderen System per Zufall zugeteilt.

Im März dieses Jahres waren die Menschen, die über Meer oder über Land nach Italien gekommen und in das Aufnahmesystem aufgenommen worden waren insgesamt 174.356. Also 3,5% der ausländischen Bewohner*innen in Italien und 0,29% der Gesamtbevölkerung.

Aber 136.477 Migrant*innen, also 78% der Gesamtanzahl, wohnen in den insgesamt 7.000 CAS* (große Hotels, ehemalige Kasernen, Wohnungen, oft abgelegene Orte), die in ganz Italien verteilt sind und in denen die Qualität und das Niveau der Aufnahme sehr uneinheitlich sind; 13.302 leben in CARA* und 895 in den Hotspots.

Nur 23.682 Personen wurden den SPRAR zugeteilt, welche, außerhalb der Ausnahmezustandslogik, in Zusammenarbeit mit örtlichen Akteur*innen, einen Prozess der Begleitung und der Integration bieten, durch ein Angebot an Sprachkursen, durch die Eingliederung in die Schule, in die Ausbildung und in den Arbeitsmarkt.

Tatsächlich befindet sich Italien unter den Ländern, die innerhalb der EU am wenigsten das Recht auf die verschiedenen Schutzformen oder auf den Schutz aus humanitären Gründen zuspricht.

Die Lotterie des Asylgesuchs

Nicht alle Orte, in denen ein Asylantrag gestellt werden kann, sind gleich: wer in Italien Asyl sucht und beispielsweise nach Caltanissetta geschickt wird, bekommt in 64% der Fälle einen positiven Bescheid, während wer nach Siracusa geschickt wird, nur mit 35 prozentiger Wahrscheinlichkeit.

Eine Ineffizienz und Ungleichheit, die sich auch in den Wartezeiten auf die Bescheide widerspiegelt. Durchschnittlich können 8 Monate zwischen dem formellen Asylantrag und der Anhörung bei der Territorialen Asylkommission liegen. Nur in 12,7% der Fälle findet die Anhörung binnen 3 Monaten statt. Die Folge ist, dass sich der Integrationsprozess erheblich verlangsamt, vor allem wenn die Asylsuchenden einfach „sich selbst überlassen“ werden, wie es in einigen Fällen vorkommt.

Die Zeugenaussage von Moses

„Als wir im CARA angekommen sind, hat man uns alle in ein großes Zimmer gebracht und uns gezwungen, zu zweit auf einer auf dem Boden liegenden Matratze zu schlafen. Auch Essen war ein Kampf, wenn du zur Essenszeit nicht sofort losgestürmt bist, hast du nichts mehr vorgefunden.“ So Moses Stevens, der in Sierra Leone im humanitären Bereich tätig war und auf Grund von Drohungen fliehen musste, die auf seine Kritik an weiblicher Genitalverstümmelung in seinem Dorf folgten. Der sehr lange Weg durch Guinea, Burkina Faso, Mali und Niger hat ihn nach Libyen gebracht, wo er ohne Grund vier Monate lang festsaß. In Italien angekommen hat er alle drei Aufnahmeeinrichtungen durchlaufen: das CARA von Mineo, ein CAS in der Toskana und schlussendlich ein SPRAR in Pergine Valdarno (Provinz von Arezzo), im Rahmen eines Projekts von Oxfam Italien.

Was wir von der italienischen Regierung fordern

• Die Definition eines gleichförmigen und gerechten Aufnahmesystems, das angepasst ist an den Umfang der Migrationsbewegung und an die Bedürfnisse der Menschen, welche mehrheitlich besonders schutzbedürftig sind, das die Dichotomie CAS/SPRAR überwindet, das allgemein gültige und hohe Standards setzt, und das Aufnahme (auch kurzer und mittlerer Dauer) und Integration zusammendenkt;

• Eine Überarbeitung der Strategien zur Verwaltung der Migrationsbewegungen, die die Einwanderung wegen Arbeitssuche, Familienzusammenführung, Studium und Asyl erleichtern;

• Politische Maßnahmen, die sichere und legale Wege der Migration nach Italien und die EU ermöglichen. Dies ist ein zentrales Element, um die spontanen und oft gefährliche Einwanderungsversuche von Geflüchteten und Migrant*innen zu reduzieren.

Oxfamitalia.org

*CAS (centro di accoglienza straordinaria) – außerordentliches Aufnahmezentrum
*SPRAR (sistema di protezione per richiedenti asilo e rifugiati) – reguläre Aufnahmezentren für Geflüchtete mit Aufenthaltserlaubnis und Menschen, die ein Asylgesuch aufgegeben haben
*CARA (Centro di Accoglienza per Richiedenti Asilo ) – Aufnahmezentrum für Asylsuchende

Übersetzt von Antonia Cinquegrani