Tödliche Politik im Mittelmeer: die bewusst provozierten Schiffsbrüche vor der tunesischen Küste müssen beendet werden
Artikel vom 19. Dezember 2022
Presseerklärung – Bereits seit zwei Jahren kommt es vor der tunesischen Küste zu immer mehr Schiffbrüchen sowie zum Verschwinden von Booten mit Menschen auf der Flucht, die versuchen, Italien zu erreichen. Nach Angaben des FTDES (Tunesisches Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte) starben zwischen Januar und November 2022 mehr als 575 Menschen während der Überfahrt.
Diese Zahlen enthalten nicht die zahllosen unsichtbaren Schiffbrüche: Schiffe, die ohne eine Spur verschwinden und dabei Familien und geliebte Menschen in Ungewissheit zurücklassen, denen es dadurch unmöglich gemacht wird, zu trauern. An den italienischen und immer öfter auch an den tunesischen Stränden werden Leichen aufgefunden, die Leichenhallen sind überfüllt und selten vergeht eine Woche, in der keine Tragödie erfasst wird.
Obwohl die Europäische Union Tunesien immer mehr Mittel zur Verfügung stellt, um die Küsten zu überwachen und genau diese Tragödien zu verhindern, gibt es immer mehr Beweise, dass die tunesische Küstenwache direkt in gefährliche Manöver verwickelt ist, durch welche etliche Migrierende ihr Leben verlieren. Gemeinsam mit anderen Organisationen der tunesischen Zivilgesellschaft hat das Netzwerk Alarm Phone – ein Notruftelefon für Menschen, die sich auf dem Meer in Not befinden – zahlreiche Zeugenaussagen, Fotos und Videos gesammelt. Diese wurden in den sozialen Netzwerken veröffentlicht und belegen das gewalttätige Vorgehen der tunesischen Behörden bei den von ihnen durchgeführten Abfangaktionen auf dem Meer.
Die Praktiken der tunesischen Küstenwache werden immer alarmierender, wie unmittelbar betroffene Migrierende berichten: Schläge mit Stöcken, Schüsse in die Luft oder auf die Motoren der Boote, Messerstiche, gefährliche Manöver mit dem Ziel, die Boote zu versenken, sowie Forderungen nach Geld im Austausch für die Rettung. Dieses Vorgehen ist tödlich, wie im letzten Monat geschehen, als ein Boot mit Migrierenden nach Aussagen von Überlebenden von der tunesischen Nationalgarde gewaltsam gerammt wurde. Infolge des Angriffs, der vor der tunesischen Stadt Chebba stattfand, sind drei Kinder ertrunken, wie mehrere Medien berichteten [1].
Allerdings ist die Verwandlung der tunesischen Meeresroute in einen Meeresfriedhof nicht nur der bösen Absicht einer Handvoll Küstenwächter*innen zuzuschreiben. Diese Praktiken stehen im Zusammenhang mit einer immer weitergehenden Verschärfung der Kontrollen auf dieser Strecke, um die Zahl der Ankünfte an den italienischen Küsten um jeden Preis zu verringern. Zwischen 2011 und 2022 wurden Tunesien vom italienischen Staat 47 Millionen Euro für die Überwachung der Grenzen und der „Migrationsströme“ bereitgestellt [2].
Der größte Anteil dieser Mittel für die tunesische Küstenwache war für die Beschaffung von Patrouillenbooten, -schiffen und deren Instandhaltung bestimmt. Diese Mittel sind ergänzend zu einem Rückführungsabkommen zwischen den beiden Ländern vorgesehen, welches Italien erlaubt, tunesische Staatsbürger*innen mit vier Charterflügen pro Woche auszuweisen.
Neben Italien ist auch Tunesien in eine migrationspolitische Erpressung mit der Europäischen Union verstrickt, die das Land seit mehreren Jahren als einen Schlüsselakteur bei der Kontrolle der Mittelmeerrouten ausgemacht hat. Nachdem man sich darum gekümmert hatte, die lybische Route zu schließen, indem Milizen mit dem Auftrag finanziert wurden, geflüchtete Menschen in das Land zurückzuschicken, aus dem sie verzweifelt versucht hatten zu fliehen, ist es nun Europas Ziel, die tunesischen Küsten zu blockieren. Zwischen 2018 und 2023 wurden Tunesien 30 Millionen Euro aus dem Nothilfe-Treuhandfond der EU für Afrika zugeteilt, um ein „integriertes Überwachungssystem“ für die Meeresgrenzen zu implementieren [3]. Der Hauptprofiteur ist hierbei die tunesische maritime Nationalgarde, die trotz ihrer gewalttätigen Praktiken von der Europäischen Union direkt ausgebildet, ausgerüstet und finanziert wird.
Diese Unterstützung von italienischer wie von europäischer Seite hat es Tunesien ermöglicht, die Operationen zum Abfangen der Boote an deren Küste deutlich auszuweiten. Nach den Daten des FTDES wurden zwischen Januar und Oktober 2022 30.604 Personen auf See aufgegriffen, was 38 % mehr als im Vorjahr und sechsmal mehr als im Jahr 2018 sind [4]. Zur gleichen Zeit haben die Angriffe der Küstenwache und die Zahl der Schiffbrüche unaufhörlich zugenommen: Das ist der Preis, den die europäischen Länder allem Anschein nach zu zahlen bereit sind, um jene auf Distanz zu halten, die sie für unerwünscht erachten.
Wir, die tunesische und internationale Zivilgesellschaft, werden weiterhin auf beiden Uferseiten des Mittelmeers die gewalttätigen Praktiken, das repressive Kontrollregime der Mobilität, die Verletzung der Rechte auf dem Meer sowie die Externalisierungspolitik, die diese ermöglicht und befördert, dokumentieren, verurteilen und uns ihnen entgegenstellen.
[1] Giada Drocker, Una motovedetta tunisina ha inseguito una barca di migranti e provocato la morte di 3 bambini, Agi, 11 November 2022
[2] Matteo Garavoglia e Arianna Poletti, Tunisia, il muro della guardia costiera, Irpimedia, 2 November 2022
[3] Siehe Statewatch : https://www.statewatch.org/media/3241/eu-council-pact-tunisia-action-plan-11392-21-rev2.pdf
[4] Bericht von FTDES, Oktober 2022, “Des mouvements sociaux, suicides, violences et migrations”
Aus dem Italienischen übersetzt von Elias Miehe
Kontakte :
AR – Romdhane Ben Amor – Romdhane@ftdes.net – 0021697890979
EN – Valentina Zagaria – Zagariav@gmail.com – 0021654505787
FR – Sophie-Anne Bisiaux – Alarmphoneparis@riseup.net – 0033684472223
IT – Diletta Agresta – Sciabacaoruka@asgi.it – 00393290855475
Unterzeichnende Organisationen:
Action Aid international italia
Al Bawsala
ASGI
Association L’ART RUE
Association des mères des disparus
Association Femmes et Citoyenneté (AFC)
Association Joussour De Citoyenneté
Association Karama Pour les droits et libertés
Association „Mon droit“ pour la défense de l’enfant et de la famille
Association Nachaz-Dissonances
Association pour la Promotion du Droit à la Différence (ADD)
Association Tunisienne des Femmes Démocrates
Association Tunisienne pour les droits et les libertés (ADL)
Association Tunisienne de l’Action Culturelle (ATAC)
Association Tunisienne de Défense des Droits de l’Enfant (ATDDE)
Association Tunisienne de Prévention Positive Association Tunisienne de Soutien des Minorités
Association Washm Tunisie
Aswat Nissa
Avocats Sans Frontières (ASF)
Borderline Sicilia
Campagna LasciateCIEntrare
Caravane Migranti
Channel rescue
Collectif Soumoud
Comité de Vigilance pour la Démocratie
Comité pour le Respect des Libertés et des Droits de l’Homme en Tunisie (CRLDHT)
CNCD 11.11.11
Danseurs citoyens sud
EuroMed Droits
Fédération des Tunisiens pour une citoyenneté des deux rives (FTCR)
Fédération internationale pour les droits humains (FIDH)
Forum Tunisien pour les droits économiques et sociaux (FTDES)
Groupe Tawhida Ben Cheikh
Initiative Mawjoudin pour l’égalité
Intersection pour les droits et les libertés
Iuventa crew
Louise Michel M.V
MEDITERRANEA Saving Humans Italy
Melting Pot Europa
Mem.Med – Mémoire Méditerranée/ Memoria Mediterranea
Migration Control Info Project
Migreurop
No Peace Without Justice
Observatoire National pour la défense du Caractère Civil de l’Etat
Organisation Contre la Torture en Tunisie (OCTT)
Psychologues du Monde Tunisie
RESQSHIP
Rete Antirazzista Catanese
R42-sailtraining
Sea-Watch
Statewatch
SOS Humanity
Union des diplômés-chômeurs (UDC)
Watch the Med Alarm Phone