Minderjährige wegen Menschenhandels vor Gericht
Artikel vom 13. September 2022
Essenziale.it – Er kam ins Gefängnis, weil er das Boot steuerte, das ihn und hundert weitere Personen auf der Flucht aus Libyen nach Italien brachte. Saidu Bangura versteht nicht, warum man ihn bei seiner Ankunft inhaftierte: Er hat doch nur dafür gesorgt, dass alle überleben.
Auch Joof Oisaineu ist über das zentrale Mittelmeer nach Sizilien gelangt. Nicht mal 16 Jahre war er damals alt, der jüngste an Bord. Viele Stunden lag er in der Mitte des kleinen Boots auf dem Rücken: Er war seekrank. So könnte er überhaupt nicht sagen, wer am Ruder saß: „Es war dunkel und mir war schlecht.” Seit sieben Jahren beteuert er gegenüber der italienischen Justiz nun seine Unschuld. Als das Boot gerettet wurde, war er so dehydriert, dass man ihn gleich ins Krankenhaus brachte – wie hätte er in diesem Zustand navigieren sollen? Doch schon im Krankenzimmer wird er polizeilich überwacht, bei seiner Genesung festgenommen und vor Gericht gestellt. Die italienische Justiz glaubt ihm nicht, dass er minderjährig ist: Das Röntgenbild seines Handgelenks schätzt ihn auf 18. Auch Saidu hat man vor Gericht stets als Volljährigen behandelt: Dabei wurde er am Tag vor seinem 18. Geburtstag festgenommen. „Durch die Notstandsgesetzgebung im Bereich Immigration entstehen monströse juristische Fehler”, erklärt Cinzia Pecoraro, die Ousaineu vor Gericht verteidigt.
Wie viele Minderjährige in den vergangenen Jahren wie Bangura und Ousaineu auf italienischem Boden festgenommen, vor Gericht gestellt und teilweise auch verurteilt worden sind, weil sie Boote mit irregulären Migrant*innen an Bord steuerten, kann nicht genau gesagt werden. Angeklagt werden sie wegen Beihilfe zur illegalen Einreise, was nach Artikel 12 des italienischen Migrationsgesetzes als Verbrechen gilt. Im Laufe der Jahre wurde der Gesetzestext immer wieder verändert und nach Meinung vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen mitunter regelrecht als Waffe zur Kriminalisierung einreisender Personen und sich mit Migration befassenden NGOs eingesetzt.
Inzwischen jedoch weht ein etwas anderer Wind und viele dieser Prozesse enden ergebnislos. Im Mai wurden einige wegen Beihilfe zur illegalen Einreise angeklagte Freiwillige des Vereins Baobab Experience freigesprochen, der in den letzten sechs Jahren etwa hunderttausend Männer, Frauen und Kinder auf Zwischenstation in Rom humanitär unterstützt hatte. „Hier in Palermo hat es in vielen der Prozesse, in denen Jugendliche und junge Männer als sogenannte Schlepper vor Gericht standen, einen Freispruch gegeben. Allmählich beginnen die Gerichte zu verstehen“, erzählt Cinzia Pecoraro. „In anderen sizilianischen Gerichten läuft das leider anders – da kann man auch heute noch dreißig Jahre Knast einsacken.“
Nach Meinung der beiden Anwältinnen, die Banura und Ousaineu verteidigt haben – Pecoraro in Palermo und Paola Ottaviano in Catania –, ist die Festnahme vermeintlicher Schlepper Teil einer Strategie: Europa und die italienische Öffentlichkeit sollen sehen, dass Italien entschlossen gegen den Menschenhandel aus Libyen vorgeht. Dieses Bedürfnis, Härte zu demonstrieren, sei 2013 durch die internationale Empörung über das Unglück vom 3. Oktober entstanden, bei dem wenige Hundert Meter vor den Küsten Lampedusas mindestens 368 Menschen ertranken.
Seither habe es die sizilianische Staatsanwaltschaft geradezu darauf angelegt, den Straftatbestand ‚Beihilfe zur illegalen Einreise‘ anzuwenden. Unter Anklage hätten dabei immer wieder Minderjährige gestanden: Jugendliche, mitunter Kinder, die als Erwachsene vor Gericht gestellt wurden. Ein Vorgehen, das für die eigentlichen kriminellen Organisationen natürlich überhaupt keine Konsequenz hat: Die eigentlichen Menschenhändler bleiben einfach in Libyen. „Die Boote, die das zentrale Mittelmeer überqueren, haben keine Mannschaft. Die Schlepper und Menschenhändler sind nicht an Bord: Sie bleiben in Libyen“, erklärt Stefania Gasparri, Freiwillige beim Centro Astalli in Catania. Seit 1999 hilft der Verein „Männern und Frauen auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung, die oft Opfer von Folter und Gewalt werden, und nach unvorstellbaren Reisen am Rande des Aushaltbaren hier bei uns ankommen.“
Zwangslage
Das Ende der 1980er Jahre gegründete Observatorium Antigone „für die Rechte von Minderjährigen im Strafvollzug” schlug bereits 2017 Alarm. „Beim Besuch der vier Jugendstrafanstalten auf Sizilien und dem Jugendgefängnis Quartuccio im sardischen Cagliari haben wir mehrere Jugendliche getroffen, gegen die man diese fürchterliche Anklage erhoben hatte: Menschenhandel“, erklärt die Koordinatorin des Observatoriums, Susanna Marietti. „Das ist Wahnsinn. Ich erinnere mich an einen Jungen, der ausschließlich einen seltenen Dialekt eines afrikanischen Landes sprach und überhaupt nicht verstand, wie ihm geschah. Er saß wegen Menschenhandels im Knast, war aber ganz offensichtlich Opfer. Zehnfaches Opfer.”
Nach Angaben des Justizministeriums geht das Phänomen zurzeit zurück. Die Staatsanwaltschaft in Catania begann 2017 ihren Kurs zu ändern: Staatsanwalt Carmelo Zuccaro verfasste ein Rundschreiben, das er bei einer Audienz vor der parlamentarischen Kontrollkommission für die Umsetzung des Schengener Freizügigkeitsabkommens, für die Überwachung der Aktivitäten von Europol und für Kontrollen im Feld der Immigration erläuterte. „Es forderte dazu auf, den Tatbestand der Beihilfe zur illegalen Einreise nicht allzu weit zu fassen, da man wusste, wie selten er tatsächlich auf diese Jugendlichen zutraf“, erinnert sich Marietti.
In der Tat handelt es sich üblicherweise um Jugendliche, die „vielleicht eine Hand am Ruder hatten oder Wasserflaschen verteilten. Sie trifft keine Schuld, weil sie höchstwahrscheinlich von den Menschenhändlern in Libyen Anweisungen erhalten haben, was sie an Bord tun sollen“. Staatsanwalt Zuccaro erkannte die „Zwangslage“ der Jugendlichen also an, kritisierte aber die Rolle der Seenotrettungs-NGOs. Das unmittelbare Eingreifen der NGO-Schiffe mache auch die Ermittlungen gegen die Hintermänner krimineller Organisationen überflüssig und behindere die Ermittlungen insgesamt.
Daten über inhaftierte und angeklagte Jugendliche auf Sizilien erhielt die Organisation Antigone lediglich von der Jugendstrafanstalt Bicocca in Catania: 2012 waren sieben Jugendliche wegen der Führung von Booten mit irregulären Migrant*innen an Bord angeklagt, im Jahr darauf neun, 2014 waren es 15, wiederum neun im Jahr 2015 und zwölf im Jahr 2016. In diesen Jahren füllte sich die Jugendstrafanstalt (Istituto penale per minorenni – IPM) von Catania also mit nicht-italienischen Jugendlichen, die wegen Beihilfe zur illegalen Einreise unter Anklage standen. In vielen Fällen wurde Artikel 4bis des Strafvollzugsgesetzes angewendet, der die Gewährung von Vergünstigungen verbietet, was eigentlich seit 2018 im Jugendstrafvollzug nicht mehr erlaubt ist.
Die Frage müsste lauten: Warum kriminalisieren?
„Viele dieser jungen Menschen waren einfache Fischer”, erklärt Elvira Iovine vom Centro Astalli Catania, die als Freiwillige im Jugendgefängnis arbeitet. „Sie kannten das Meer und wussten eben, wie man ein Boot steuert.“ „So vertraute man ihnen die Steuerung der Boote an”, fügt Maria Randazzo, Direktorin des IPM in Catania, hinzu. „Sie verteilten Wasser und Essen, übernahmen manchmal das Steuer, oder wurden wegen ihrer technischen Kompetenzen beauftragt, das GPS-Handy zu bedienen. Manche von ihnen gelangten in diese Positionen, weil sie Französisch oder Englisch sprechen und sich mit allen Personen an Bord zu verständigen wussten. Doch aus alledem zogen sie nicht den geringsten Gewinn: Sie gehören keiner kriminellen Organisation an.“
Erst im Gefängnis erfuhren die Angeklagten, worin die Straftat der Beihilfe zur illegalen Einreise, derer man sie bezichtigt, eigentlich besteht. Nur wenige der Jugendlichen „könnten tatsächlich aus Schlepperfamilien kommen und wissen, was sie da tun“, erklärt die Direktorin weiter. Fast alle seien aus Situationen extremer Armut geflohen, wofür sich ihre Familien nicht selten hoch verschuldeten. In den libyschen Lagern haben sie Folterungen erlitten. Richard Brodie vom soziopolitischen Zentrum Arci Porco Rosso im palermitanischen Altstadtviertel Ballarò sagt: „Die Frage ist nicht, warum diese Menschen das Ruder übernommen haben. Die Frage ist, warum sie kriminalisiert werden!“
Das europäische Journalist*innenkollektiv Lost in Europe, das seit 2018 die Geschichten unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter in Europa erzählt, hat in diesen Jahren versucht, das Phänomen der „minderjährigen Schlepper“ umfassend aufzuarbeiten. Dank ihrer Arbeit konnten wir ein Video über Saidu Bangura und Joof Ousaineu für die italienische Presseagentur realisieren. Auch die ganz ähnliche Geschichte des jungen Senegalesen Moussa (Name von der Redaktion geändert), der nach seinem Landgang in Trapani im Alter von 16 Jahren verhaftet wurde, gelangte an die Öffentlichkeit: Ismail Einashe hat im März dieses Jahres in der BBC darüber berichtet.
Nach Angaben des Berichts „Vom Meer ins Gefängnis“, den das 2014 gegründete Projekt für Notrufe in Seenot geratener Migrant*innen auf dem Mittelmeer Alarm Phone zusammen mit Arci Porco Rosso herausgegeben hat, wurden zwischen 2013 und 2021 mindestens „2.500 Migranten als ‚Schlepper‘ angeklagt – und zwar in gerichtlichen Schnellverfahren“. Diese schockierende Bestandsaufnahme ergibt sich durch den Vergleich polizeilicher Daten mit Presseberichten. „Wir haben zahlreiche Urteile zu fünf, acht, zehn Jahren Haft erlebt. Auch lebenslängliche Haftstrafen waren dabei – wenn die Reise Todesopfer gefordert hat“, erzählt Richard Brodie vom Arci Porco Rosso. „Der Punkt ist: Anstatt die eigentliche kriminelle Organisation und ihre Bosse zu suchen, nimmt die Polizei einen von hundert Migranten fest, um gegen ihn wegen dieses Tatbestandes zu ermitteln. Die Zahlen sind sehr hoch.”
Den Motor starten
Saidu Bangura war dreizehn Jahre alt, als er aus Sierra Leone und von seiner Familie väterlicherseits floh, um erfolglos seine Mutter zu suchen, die die Familie in seiner frühen Kindheit verlassen hatte. Er durchquerte die Wüste, wurde entführt, gefoltert, erpresst: erst in Algerien, dann in Libyen. Fünf Jahre dauerte seine Reise, bevor er 2018 in Pozzallo ankam und noch am Landesteg verhaftet und wegen der Steuerung eines Bootes mit irregulären Migrant*innen an Bord angeklagt wurde. Das war am Tag vor seinem achtzehnten Geburtstag – doch Italien stellte ihn als Volljährigen vor Gericht.
„Mein Vater wollte mich umbringen, weil er dachte, ich hätte mich zum Christentum bekehrt“, erzählt Joof Ousaineu. Im Verdacht, den Islam verraten zu haben, floh er aus Gambia. „Es stimmt, ich bin in die Kirche gegangen. Aber ich wollte nur zuhören”, sagt er. Er durchquerte den Senegal, Mali, Niger und gelangte schließlich nach Libyen. Das Boot, auf dem er seine Reise von Zwara aus fortsetzte, wurde von einem Schiff der italienischen Küstenwache geborgen. Einige seiner „Reisegefährten“ sagten, er habe es gesteuert. Er, den man wegen Dehydrierung ins Krankenhaus brachte. Er, dem die ganze Zeit über schlecht gewesen war. Er, der sein 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte.
„Bei seiner Ankunft gab Joof sein tatsächliches Alter an“, sagt Anwältin Pecoraro. Aber da die Röntgenaufnahme seines Handgelenks „mit Volljährigkeit kompatibel ist“, verbringt Joof elf Monate im Pagliarelli-Gefängnis in Palermo. Minderjährig unter Volljährigen. „Er ist unschuldig“, fügt Pecoraro hinzu. „Als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin, habe ich sofort gesehen, dass er ein Kind war.“ Die Anwältin kontaktierte die gambische Botschaft und erreichte mit ein bisschen Glück Ousaineus Familie. Sie schickte die Geburtsurkunde und seinen Schülerausweis mit Lichtbild nach Italien, wo Pecoraro sie dem Gericht vorlegte.
Sein strahlendes Lächeln ist traurig heute. „Ich kann nicht schlafen”, erzählt er.
„Der Richter holte den Jungen aus dem Gefängnis und schickte die Akte ans Jugendgericht zurück“ erzählt die Anwältin. „Im Urteil stellte er die Effizienz der in Italien genutzten Technik der Altersbestimmung in Frage.“ Die Parameter, die zur Interpretation des Röntgenbilds genutzt werden, so stehe es in diesem Urteil, „beziehen sich auf die angelsächsische Bevölkerung der 1950er Jahre.“ Sie können folglich „nur schwer auf die afrikanische Bevölkerung von heute Anwendung finden“. Ferner habe die Methode ohnehin eine erklärte Ungenauigkeit von sechs bis 24 Monaten.
Heute lebt Ousaineu in der Nähe von Palermo, in Partinico. Er arbeitet als Schäfer und wohnt in einer WG. Sein Prozess vor dem Jugendgericht läuft weiter. Und seine Anwältin will alles tun, um seine Unschuld zu beweisen. „Wir schaffen das“, versichert sie. „Joof konnte nicht einmal sehen, wer das Boot steuerte.“
Saidu Bangura lebt jetzt in einem Wohnprojekt mit kirchlicher Trägerschaft. Er arbeitet als Pizzabäcker in Modica und wartet auf die Anhörung vor Gericht, um auf Bewährung freizukommen. Auch seiner Anwältin, Paola Ottaviano, ist es nach vielen Jahren gelungen, seinen Fall an das Jugendgericht zu bekommen. „Ich wusste doch nicht, dass das ein Verbrechen ist”, sagt Bangura. Ja, das Boot habe er gesteuert. „Aber was hätte ich denn machen sollen? Ich habe versucht, mir das Leben zu retten. Uns das Leben zu retten.”
In Libyen, an dem Sammelort, wo man die wartenden Migrant*innen irgendwann auf die Boote zur Mittelmeerüberfahrt gen Italien zwängt, war Bangura der mit dem wenigsten Geld und dem meisten Verstand. „Eines Nachts haben sie mich und einen anderen Jungen an einen kleinen Hafen gebracht. ‚Wenn du es schaffst, den Motor anzumachen, bist du frei‘, haben sie gesagt.“ Er schaffte es, kam aber nicht frei: Eine Woche lang trieben ihn die Schlepper – die eigentlichen, die, die in Libyen bleiben, damit die europäische Justiz sie nicht findet – jeden Abend hinaus an den Strand. Er sollte lernen, wie man Boote steuert. „Wenn ihr umdreht, erschießen wir euch“, sagte sie am letzten Abend zu ihm, nachdem sie ihn und andere Personen in ein Boot gesetzt hatten. Sein strahlendes Lächeln ist traurig heute. „Ich kann nicht schlafen, mein Gehirn denkt die ganze Zeit an alles, was passiert ist, und es hört einfach nicht auf“, erzählt er.
„Ich war sehr wütend darüber, Ausländer, Afrikaner, Schwarzer zu sein. Ich glaube, deswegen haben sie mir angetan, was sie mir angetan haben“, sagt Ousaineu mit seiner unsicheren, schüchternen Sprechweise im Kabinett seiner Anwältin in Palermo. „Ich hoffe, dass all das irgendwann ein Ende hat, dann werde ich wirklich frei sein.“ Er träumt davon, Koch zu werden. Aber er hat keine Aufenthaltsgenehmigung, und arbeitet schwarz. Im Moment beschränkt er sich darauf, seine Gerichtstermine wahrzunehmen. Wenn überhaupt, finden sie alle paar Monate statt. Immer wieder werden sie verschoben. „Jedes Mal verliere ich einen Arbeitstag. Oft nur, um dann festzustellen, dass die Anhörung wieder verschoben worden ist.“
Cecilia Ferrara, Angela Gennaro
Aus dem Italienischen übersetzt von Laura Strack