Eine weitere Tragödie vor der Küste von Zarzis: auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit
Artikel vom 20. Oktober 2022
Mitte September werden an der Küste Tunesiens bei Zarzis die Leichen von Opfern einer weiteren Schiffskatastrophe im Mittelmeer geborgen. Die Familien der Ertrunkenen und Bürger*innen der Stadt Zarzis kämpfen für Menschenrechte und fordern ein verbindliches Engagement der Behörden, um die anderen vermissten Toten zu bergen – sie verlangen Recht und Gerechtigkeit.
Am 21. September sind zwei Frauen mit einem ein Jahr und zwei Monate alten Mädchen und fünfzehn weitere Personen (die älteste 25 Jahre alt) an Bord eines Bootes von Zarzis‘ Küste aus Richtung Europa gestartet. Nach zwei Tagen ohne Nachrichten haben deren Familien die tunesischen, maltesischen und italienischen Behörden sowie die zivilen Such- und Rettungsdienste alarmiert. Angesichts der Passivität der nationalen Behörden gegenüber den dringenden Hilferufen der Angehörigen in Zarzis zur Suche der Vermissten, hat die dortige Vereinigung der Fischer vier autonome Suchaktionen auf See durchgeführt.
Am zweiten Oktober wird der Schiffbruch bestätigt: der Körper von Malek, einer Frau, wird am Strand von Djerba gefunden. Bald werden Fotos von weiteren Ertrunkenen, die an der Küste Tunesiens gefunden werden, veröffentlicht. Diese Leichen werden im Friedhof von Zarzis umgehend beigesetzt, ohne dass die Behörden DNA-Analysen veranlasst hätten. Am 12. Oktober wird die Vermutung einer Familie, ihren Angehörigen Aymen an seinen Kleidern erkannt zu haben, durch die Exhumierung der Leiche und den nun erfolgten DNA-Test bestätigt.
Bis heute konnten sieben Leichname identifiziert worden. Für die Familien bedeutet diese Bestätigung eines Schiffbruchs jedoch keineswegs die Erlösung aus ihrer Verzweiflung. Nach der Auffindung der Toten sollte ihre Identifikation mit Hilfe der DNA-Analyse sichergestellt werden. Denn nur das wird es den Hinterbliebenen möglich machen, ihre Angehörigen würdig zu begraben.
Seit mehreren Tagen finden in Zarzis Proteste von Familien, Schüler*innen und sozialen Vereinigungen statt. Sie verlangen die Wahrheit über das Verschwinden ihrer Mitbürger*innen und verurteilen das Vorgehen der Behörden, das leider nicht nur in Tunesien praktiziert wird: die im Meer aufgefundenen Ertrunkenen werden ohne DNA-Analyse umgehend bestattet. Unserer Ansicht nach zeugen diese Protestaktionen jedoch von einer viel weiter reichenden Anprangerung der immer härteren Auslagerungspolitik und ihrer Strategien, da die Kriminalisierung der Routen diese noch lebensgefährlicher macht.
Diese Tragödie hat 18 Personen das Leben gekostet und sie ist nur eine von vielen. In dieser rassifizierten Geografie des heutigen europäischen Raumes verlieren immer Menschen ihr Leben. Vor der Küste Tunesiens sind im Jahr 2022 bereits 544 Menschen vermisst oder verstorben. Nach dem Schiffsunglück von Teboulba in der Provinz von Monastir konnten vor kurzem weitere Leichen aus dem Meer geborgen werden. Diese Tragödien werfen ein Schlaglicht auf die rassistische und sicherheitspolitische Strategie der Grenzkontrollmechanismen und entlarven damit die Missachtung gegenüber dem menschlichen Leben.
Die unterzeichnenden Organisationen sind erschüttert angesichts dieser weiteren Tragödie, die jeden von uns betrifft:
- Sie bringen ihre bedingungslose Solidarität mit allen Familien, Kameradinnen, Freund*innen und Gemeinschaften zum Ausdruck, die von Schmerz und Verzweiflung zerrissen sind und die mit Würde behandelt werden sollten;
- Sie danken den Fischern einmal mehr für ihre Solidarität und ihren Einsatz bei der Suche und Rettung auf See;
- Sie verurteilen die Undurchsichtigkeit und Passivität der tunesischen Behörden, die keinerlei Massnahmen angeordnet haben, die nicht eingegriffen haben, um den Menschen in Not zu helfen und Such- und Rettungsaktionen durchzuführen. Sie verlangen eine gerichtliche Untersuchung zur Feststellung des wahren Tatbestandes.
- Sie erinnern daran, dass das Recht auf Freizügigkeit und die Bewegungsfreiheit festgeschriebene Menschenrechte sind. Sie betonen, dass die unzähligen Dramen der Migration die direkte Konsequenz der Nichtschaffung von sicheren See- und Landwegen in die Länder der europäischen Union sind.
Diesen Appell haben unterzeichnet:
- A Buon Diritto ONLUS
- ActionAid Italia
- Association BEITY
- Association Citoyenneté et Libertés
- Association d’Aides et Assistances aux Migrants
- Association des Juristes de Sfax
- Association des Tunisiens en France
- Association des Volontaires de Bouarada
- Association Enfants de la lune de Médenine
- Association Esmâani
- Association Humanitaires de Médenine
- Association Ifriqiya
- Association Intersection pour les droits et les libertés
- Association la Voix de l’Enfant Rural
- Association MADA pour la citoyenneté et le développement
- Association Petit Théâtre
- Association pour le Développement Durable et la Coopération Internationale de Zarzis
- Association pour le Leadership et le Développement en Afrique
- Association Tunisienne de défense des libertés individuelles
- Association Tunisienne de l’Action Culturelle
- Association Tunisienne de Soutien des Minorités
- Associazione per gli Studi Giuridici sull’Immigrazione
- Aswat Nissa
- Avocats Sans Frontières Tunisie
- Borderline Sicilia ONLUS
- Carovane Migranti – Italia
- Clinica legale per i diritti umani dell’Università di Palermo
- Coalition Tunisienne contre la Peine de mort
- Coalition Tunisienne pour la Dignité et la Réhabilitation
- Comité pour le Respect des Libertés et de Droits de l’homme en Tunisie
- EuroMed Rights
- Groupe Tawhida Ben Cheikh
- Institut Tunisien pour la réhabilitation – Nebras
- International Alert
- Ligue tunisienne pour la défense des Droits de l’Homme
- Mai più Lager – No ai CPR
- Mediterranea Saving Humans
- Med – Mémoire Méditerranée
- Mountada Ettajdid, Tunis
- Ongi Etorri Errefuxiatuak – Espagne, Pais Vasco
- Organisation Contre la Torture en Tunisie
- Organisation Mondiale Contre la Torture
- Psychologues du Monde-Tunisie
- Réseau Migreurop
- Réseau Tunisien pour la Justice Transitionnelle
- Rete Antirazzista Catanese
- Tunisia Tomorrow
- Un Ponte Per
- Union des Diplômés Chômeurs
- Watch The Med – Alarm Phone
Aus dem Italienischen übersetzt von Susanne Privitera