Würde – tunesisches Tagebuch vom Weltsozialforum in Tunis

Die
Verschwundenen – 25. März, Avenue Bourguiba

Heute morgen
um halb zehn versammeln sich Mütter und Verwandte von auf See vermissten
Migranten im Zentrum von Tunis. Um die zwanzig sind es, die die Fotos ihrer
Kinder, Brüder hochhalten, die sie seit ihrer Abfahrt nach Italien nicht mehr
gesehen haben. Hunderte sind es, die vermisst werden. Aber sind sie wirklich in
Italien angekommen, wie ihre Verwandten hoffen? Es steht zu befürchten, dass
sie es nicht geschafft haben, auch wenn einige ihre Kinder auf Bildern einiger
Nachrichtensendungen im Hafen von Lampedusa erkannt haben. Sie sind sicher,
dass es sich um ihre Kinder handelt, doch in den meisten Fällen ist dieses
Erkennen eher eine Hoffnung denn eine Sicherheit. Aber wie kann man die
Hoffnung verlieren, wenn es keinerlei Sicherheit gibt, dass das eigene Kind tot
ist?

Imed Soltani gehörte
zu der Delegation von Familienangehörigen, die 2012 nach Italien gekommen war,
um Informationen über die Vermissten zu erhalten Doch bis heute haben sie weder
von der tunesischen noch von der italienischen Regierung Antworten auf ihre Fragen
bekommen. Heute, am Vortag des Beginns des Welt Sozial Forums in Tunis, wollen
die Familien einen Appell an die EU-Vertretung in der tunesischen Hauptstadt übergeben.
Imed hat in Tunesien eine Vereinigung mit dem Namen “La Terre pour tous – Die
Erde für alle” gegründet. Gemeinsam mit der italienisch-tunesischen
Frauengruppe “2511” aus Mailand haben sie diesen Appell geschrieben und ihn an
die Europäische Union adressiert, damit vielleicht hier endlich jemand an der
Findung Wahrheit interessiert ist: “Tunesien, September 2010, Februar, März,
April, Mai 2011, September, November 2012, Februar 2013” – das sind die Daten
der Abfahrten von Booten, die vielleicht nie angekommen sind…

Im Appell vom
19. März fordern sie von der Europäischen Union:

1)
Die Ortung der Boote, als von
diesen die Notrufe während der Reise abgesetzt wurden und den Erhalt aller in
diesen Tagen gesammelten technischen Daten und Informationen;

2)
Die namentliche Kontrolle durch
unsere Techniker vom Austausch der Informationen über die Fingerabdrücke,
zwischen den italienischen und tunesischen Behörden und eine ausgeweitete
Kontrolle in europäischen Datenbanken;

3)
Ein technischer Vergleich der
Videos, in denen die Eltern ihre eigenen Kinder wiedererkannt haben, mit Fotos
der Kinder und die zur Verfügung-Stellung von Archivbildern, die diesen
vorangegangen sind und denen, die danach gemacht wurden;

4)
Das Bergen der Körper der auf den Überfahrten
Verstorbenen und der Wrackteile.

Nach einer guten Stunde haben sich an die zwanzig
Verwandten mit Fotos und Bannern angefunden: “Genug der Tote im Mittelmeer”,
“Die Erde gehört allen!”. Bei der Vertretung der EU lässt man zwei Personen als
Delegation hinein, sie erklären, worum es ihnen geht.

Doch am Ende bleibt es ungewiss, wer diesen verzweifelten
Appell zur Kenntnis nehmen wird.


Auftaktdemo WSF 26.März in Tunis

Sit in 25. März in der Avenue Bourgiuba: