Wir besuchen das SPRAR in Vittoria, eine Aufnahmeeinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – wie lange können sie in Italien bleiben?

Letzte
Woche sind wir zurückgekehrt ins SPRAR* für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
von Vittoria, in der Provinz Ragusa. Vor einem Jahr waren wir schon einmal zu
einem kurzen Besuch dort. Die Einrichtung wird von der Kooperative ‚Nostra
Signora die Gulfi’ geleitet. Sie umfasst eine Wohnung, die bis zu 13 Personen
beherbergen kann und eine separate Wohneinheit mit 8 Betten. Dort wohnen
bereits volljährige junge Erwachsene, die vorher im Hauptgebäude untergebracht
waren.

Wir werden
von der Verantwortlichen Noemi Favizza empfangen, die uns auf einem kurzen
Rundgang die aktuelle Situation schildert. Das Haus kennen wir bereits von
unserem Besuch im letzten Jahr. Es liegt unweit des Stadtzentrums, ist
geräumig, mit Schlafzimmern mit drei oder vier Betten, einer gemeinsamen Küche,
einem Aufenthaltsraum, einer Veranda, einer Waschküche und verschiedenen
Büroräumen. Überall herrscht grosse Ruhe, weil die Jugendlichen am Sommerfest
des Ortes teilnehmen. Nur einer ist hier, weil er auf eine Arztvisite wartet.
Es ist wirklich schade, dass wir die Jungen nicht sehen! Noemi hofft natürlich,
dass sie es geniessen heute, sie unterstreicht die Begeisterung mit der sie die
Einladung ans Sommerfest angenommen haben. Aktuell wohnen in dem 2014
eröffnetem Zentrum 6 Migranten bei 8 möglichen Plätzen im Alter zwischen 13 und
18 Jahren, die Meisten zwischen 16 und 17. Sie kommen aus dem Senegal, aus Gambia,
aus Bangladesh und aus Ägypten. Einige von ihnen sind seit etwa einem Jahr
hier, andere seit ein paar Monaten.

Alle ausser zwei von ihnen haben schon
einen eigenen Tutor. Viele von ihnen haben nach ihrer Vorladung zur Kommission eine
zweijährige Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen erhalten. Bei dieser
Thematik kommt die Leiterin auf die Schwierigkeit zu sprechen, die Gäste in
allen Phasen der Aufnahmeprozedur mit der maximalen Aufmerksamkeit zu begleiten.
„Oft kommen sie nach Monaten im Erstaufnahmezentrum und den sie betreffenden
Gerichtsbeschlüssen zu uns und haben noch nicht einmal den Antrag auf
humanitären Schutzstatus gestellt. Dann müssen wir im SPRAR den ganzen
bürokratischen Prozess so schnell wie möglich vorantreiben, denn die
Jugendlichen sind durch die lange Wartezeit schon sehr entmutigt. Unsere
Einrichtung beschäftigt zurzeit 4 Erzieher, eine Bezugsperson für die
Jugendlichen, eine medizinische Fachkraft, einen Nachtwächter, der auch als
Übersetzer tätig ist und eine Haushälterin. Noemi erklärt, dass diese die
Jugendlichen anweist in der Reinigung des Hauses und in der Küche. Die
Sozialarbeiter, der Psychologe und die Rechtsberatung sind auf Abruf
erreichbar. Einige der Betreiber sprechen französisch und / oder englisch. Der
Übersetzer ist ein unentbehrlicher Mediator für die arabisch sprechenden
Migranten.

Alle bekommen ein tägliches Taschengeld von 2.50 Euro. „Die Jüngsten
bitten uns, ihnen bei der Verwaltung des Geldes zu helfen, das sie vorher für
Spiele und Getränke vergeudet haben. Für sie bewahren wir das Taschengeld im
Sekretariat auf und geben es ihnen, wann sie es wünschen. Wir versuchen ihnen
den sinnvollen Umgang mit Geld zu vermitteln. Andere verwalten ihr Geld
selbständig und versuchen es zu sparen, im Hinblick auf ihre Projekte in der
Zukunft, vielleicht in Deutschland oder woanders“ erklärt Noemi.

Die
heterogene Zusammensetzung der Bewohner was Alter und Herkunft und ihre
Bedürfnisse betrifft, hat die Betreiber dazu bewogen, mit allen einzeln an
deren individueller Zukunftsplanung zu arbeiten, was über die übliche Betreuung
in einer Aufnahmeeinrichtung wie das SPRAR hinausgeht. Alle besuchen die
Italienischkurse, die einen auch für ihre Alphabetisierung, die andern um die
Sprache zu beherrschen. „Sie sind zudem an der Abendschule in Vittoria
eingeschrieben, wo zwei von ihnen dieses Jahr die „Scuola Media“ (ähnlich der
Hauptschule) bestanden haben. Zudem haben wir mit dem Zentrum der lokalen
Arbeitsvermittlung eine Vereinbarung für Praktikumsstellen. Zurzeit sind es 2 Jugendliche, die davon profitieren.

Wir haben
viele Aktivitäten, die die Integration fördern: Von Fussballturniere zu
Ausflügen ans Meer. Aber unser Hauptaugenmerk gilt nach wie vor der
Legalisierung ihres Aufenthaltes und der Beschaffung der Dokumente, denn das
ist die Hauptsorge der Flüchtlinge.“ „Die Vorbereitung der Jugendlichen auf die
Anhörung vor der Kommission ist uns sehr wichtig“ fährt Noemi weiter, „auch
weil das für uns eine Gelegenheit ist, sie besser kennenzulernen.“ Aber trotz
unserem Bemühen ist es so, dass viele Jugendliche hier bei uns und an andern
Orten in Sizilien noch vor der Anhörung weggehen oder sobald sie einen Ausweis
bekommen haben. Vor allem die Jugendlichen aus Somalia gehen meist direkt nach
der Ankunft weg und die aus Subsahara Afrika reisen nach Deutschland oder nach
Frankreich weiter.“

Das
gleiche berichtet die Haushälterin, als wir eine Woche später ins SPRAR
zurückkehren. Wir beabsichtigen die angegliederte Wohnung für die Volljährigen
zu besuchen. „Manchmal ruft mich M., der nach Deutschland weitergereist ist, am
späten Abend oder in der Nacht an. Er hat dort als Reinigungskraft nachts
Arbeit gefunden. Wie er sind andere in Spanien und anderen Ländern, wo sie
Verwandte gefunden haben und Arbeit, die dort niemand machen will.“ Ein
trauriger Epilog für die, die es nicht mehr länger ertragen können, jahrelang
auf eine ungewisse Zukunft zu warten (auch wenn die Dokumente in Ordnung sind),
und ein Opfer des Schwarzmarktes der illegalen Arbeit und ein unsichtbarer
Bürger dieser Welt zu werden.

Während wir warten, sprechen die Verantwortliche
des Hauses und der Mediator mit einem somalischen Migranten, der erst vor drei
Tagen im Zentrum angekommen ist. „Er wollte zu Fuss nach Deutschland und er ist
bis heute verwirrt. Wir haben ihn über seine Rechte aufgeklärt und die Risiken,
die er eingeht, aber wir wissen nicht, was er tun will. Manchmal entfernt er
sich aus dem Zentrum, ohne uns zu informieren, und wir sind in Sorge um ihn.“

In
einer völlig anderen Situation scheinen die vier Migranten zu sein, die in der
Wohnung für Volljährige leben, die wir besuchen. Die neue Wohnung hat vier
Zimmer mit je zwei Betten für acht Personen, Büros, Badezimmer, Küche und einen
Aufenthaltsraum mit einer Veranda. Die Idee zum Betrieb dieser Wohnung ist die
des Aufbaus der Autonomie und der Vorbereitung auf den Austritt aus dem Zentrum
der Migranten, und das geht besser mit einer kleineren Anzahl Bewohner. In
Noemis Begleitung stelle ich mich vor und werde von einem andern Betreiber
hineingebeten und zusammen mit drei der Bewohner setzen wir uns zu einem
Gespräch in den Aufenthaltsraum. Die Bewohner kommen aus Senegal, Nigeria und
Ghana und alle drei sprechen ziemlich gut italienisch. Zwei von ihnen haben den
Volksschulabschluss und beenden ihre Praktika als Sanitärinstallateur und
Monteure für Kunststoffmaterialien in ortsansässigen Betrieben. Die Migranten
ruhen sich beim Fernsehen aus. S. ist der mitteilsamste und erzählt mir stolz
von seinen Lernprozess und dass er hofft, einen Lehrgang zum kulturellen
Mediator machen zu können, der im September beginne.

„Ich bin
vor einem Jahr in Augusta angekommen und habe dort in den „Schulen“ gewohnt
(die ehemaligen Verdi Schulgebäude, die für einige Monate zu einem SPRAR
umfunktioniert wurden). Von Augusta haben sie mich in die „Zagare“ nach Mellili
geschickt und nun bin ich seit fünf Monaten hier. Ich habe die Schule
abgeschlossen und ich möchte die Ausbildung zum Mediator machen. Denn sonst bin
ich ruhelos – nur schlafen, essen und warten geht nicht. Und ich will in
Sizilien bleiben, weil ich glaube, dass das in Italien der beste Ort ist.“ S.
zählt mir alle Sprachen und Dialekte, die er kennt auf und fügt an, dass er
sich wünscht auch deutsch zu lernen. „Hier unter uns im Haus reden wir
italienisch, denn wir müssen das lernen, das ist wichtig. Und man muss auch
sizilianisch lernen, aber zuerst italienisch.“ In Anbetracht von so viel
Entschlossenheit entsteht ein wenig Hoffnung.

Aber wir fragen uns, wie lange
diese Jugendlichen in Italien bleiben und menschenwürdig leben können, wenn
jeden Tag Nachrichten
eintreffen von all den anderen
auch auf der Flucht.

Lucia Borghi

Borderline Sicilia Onlus

*SPRAR: Sistema di protezione per rifugiati e
richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge, kommunales
Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis

Übersetzung
aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne