Wie die Hotspots das Asylrecht zunichtemachen
Von Alioscia Castronovo – Dinamopress – Verletzung der Menschenrechte, de facto Aushöhlung des Asylrechts und gesetzeswidrige Rückweisungen: im folgenden Interview klagt die Anwältin Paola Ottaviano von Borderline Sicilia das Vorgehen in den Hotspots an
Vor einigen Tagen erreichte uns die Nachricht, dass MSF das Aufnahmezentrum von Pozzallo verlässt. Der Grund für diese Entscheidung sind die unhaltbaren Zustände vor Ort und die fehlenden Garantien für die Einhaltung der Menschenrechte. Eben dieses Zentrum soll zu einem der Knotenpunkte des gesamten Hotspot-Systems eingerichtet werden…
Das CPSA* von Pozzallo ist offiziell ein Erstaufnahmezentrum. Im Laufe der Jahre ist es zu einem Abschiebezentrum geworden. Hier werden Migrant*innen wochen- und monatelang festgehalten und das ohne gültige richterliche Anordnung. MSF arbeitet seit einigen Jahren für die medizinische Versorgung der Insassen, was sehr wichtig ist, denn das garantiert die Präsenz einer unabhängigen Organisation in einer sonst geschlossenen Einrichtung. Der Zutritt ist nur den Organisationen der Betreiber und denen gestattet, die eine Vereinbarung mit dem Innenministerium haben (Acnur*, OIM*, Save the Children und das Rote Kreuz).
MSF war der Garant für die Erfassung der besonders gefährdeten Menschen und die Beanstandung der Verletzung der Menschenrechte. In ihrem letzten Bericht hat MSF festgehalten, dass das Zentrum die Richtlinien zur Aufnahme von Migrant*innen in keiner Weise einhält. Der gleiche Bericht verurteilt die Praxis der verzögerten Zurückweisungen der letzten Monate. Auch andere Organisationen, wie wir von Borderline, beanstanden seit September diese illegitimen Praktiken der Polizeiorgane von Ragusa, Palermo, Trapani, Syrakus, Catania und vor allem Agrigento, wo das Zentrum von Contrada Imbriacola als Hotspot in Betrieb genommen wurde. Das Zentrum auf Lampedusa ist der erste offizielle Hotspot in Italien. Pozzallo wird in Kürze eins, denn es hat bereits die Praktiken der Hotspots übernommen und vor ein paar Tagen ist ein Hotspot in Trapani in Betrieb genommen worden.
Was ändert sich durch die Maßnahmen der Hotspots am Asylrecht und an den Zurückweisungen?
Allem voran scheint es mir sehr wichtig Folgendes hervorzuheben: Die Unterscheidung in Wirtschaftsmigrant*innen und Geflüchtete unmittelbar bei ihrer Ankunft durch die Polizeieinsatzkräfte ist die Hauptaufgabe der Hotspots. Es ist der Angelpunkt der europäischen Politik, die um Vereinbarungen ringt, die Verteilung der Geflüchteten in Europa zu organisieren. Als Gegenleistung für die Einrichtung von Hotspots haben Italien und Griechenland die Festlegung von Quoten in Europa erreicht, was als wichtiger Schritt für die Verwirklichung des Asylrechts triumphal verkündet, aber tatsächlich gar nie realisiert wurde. Es waren rein politische Abkommen, auf denen die italienische Road Map aufgebaut ist. Diese ist ein politisches Dokument, kein juristisches. Es gibt keine Gesetze oder Anordnungen, die auf die internationalen Schutzbestimmungen Bezug nehmen.
Mit der Road Map wurde der Hotspotapparat geschaffen, nämlich die Unterscheidung in Geflüchtete, die ein Recht auf Asyl haben und Wirtschaftsmigrant*innen, die über kein solches Recht verfügen. Eine Unterscheidung, die auf vollkommen willkürliche Weise durch die Einsatzkräfte der Polizei gemacht wird. Ich betone, dass das Asylrecht ein subjektives Recht ist, es muss für jede Person individuell beurteilt und angewendet werden. Das Asylrecht verbietet kollektive Zurückweisungen z. B. aufgrund der Nationalität und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat diese wiederholt verurteilt. Wenn wir die Road Map aufmerksam lesen, wird sofort klar, dass sie genau in diese Richtung geht: Es gibt eine Liste von Ländern mit Rücknahmeabkommen und in diese werden die Migrant*innen zurückgeschickt.
Unter diesen Ländern sind auch Nigeria und Gambia: als Anwälte beraten wir viele Migranten aus Nigeria, deren Widersprüchen zu 80% stattgegeben wird, obwohl Nigeria als Herkunftsland von Wirtschaftsmigrant*innen eingestuft ist. Was bedeuten würde, dass sie aufgrund ihrer Nationalität kein Asyl erhalten würden. Zudem sind Gambia und Nigeria in der Road Map als Nationen aufgeführt, mit denen Italien polizeiliche Zusammenarbeit wünscht. Das wiederum würde bedeuten, dass die Migrant*innen bei ihrer Ankunft von Polizeibeamten aus dem Land kontrolliert würden, aus dem sie geflüchtet sind. Es existieren hunderte von Seiten in internationalen Berichten über die politische Situation in Gambia und Nigeria. Ich erinnere mich an den Fall der 66 Frauen aus Nigeria, die auf Lampedusa angekommen in Abschiebehaft nach Ponte Galeria transferiert und abgeschoben wurden, obwohl der zuständige Richter die Weisung als ungültig erklärt hatte.
Was sind die materiellen Konsequenzen, die solche Praktiken für die Migranten bedeuten?
Diese Vorgehensweisen sind nicht nur absolut ungesetzlich, sie sind zerstörerisch für das Leben dieser Menschen nach einer Reise, deren Bedingungen wir aufgrund ihrer Berichte kennen – nach der Durchquerung der Wüste, nach dem Aufenthalt in Libyen, einem Staat im Chaos, von dem grauenvolle Gewalttaten überliefert sind, wo auch Folter üblich ist – sowohl in den Gefängnissen als auch in den Sammellagern vor der Überfahrt nach Europa.
Bei ihrer Ankunft sehen sie sich Polizei – und Frontexbeamt*innen gegenüber, die sie mit dem sogenannten „Foglio notizie“ konfrontieren, einem Fragebogen, mit dem die Beamt*innen die Beweggründe zur Reise aufnehmen. Zudem ist auf vielen Fragebögen das Motiv der Flucht und Asylsuche nicht einmal aufgeführt. Der Spielraum in der Handhabung der Fragebögen ist groß: in vielen von uns dokumentierten Fällen, wird den Migrant*innen der Fragebogen vorgelegt, bevor sie darüber informiert wurden, dass sie das Recht haben, Asyl zu beantragen. Wie können sie von einem Recht Gebrauch machen, von dem sie nichts wissen?
Manche werden gar nie nach dem Grund ihrer Reise gefragt. Einige erzählen, nie einen solchen Fragebogen gesehen zu haben. Es gibt Fälle, bei denen die Polizeibeamt*innen in der Befragung schon vor den Antworten der Migrant*innen die Felder ankreuzen, oder auf dem Formular vermerkt ist, dass die Person die Unterschrift verweigert habe. Aber die Migranten selber versichern, dass sie nie ein solches Formular gesehen hätten. Andere berichten, dass sie die Anordnung zu ihrer Rückschaffung schon auf dem Schiff von Lampedusa nach Porto Empedocle erhalten hätten.
Es ist tatsächlich so, dass Migrant*innen, kaum sind sie an Land, mit einer schriftlichen Rückweisungsanordnung in der Hand auf die Strasse gestellt werden. Die Gründe dafür haben nichts mit ihrem Werdegang zu tun, sondern hängen von ihrer Staatsangehörigkeit oder von gänzlich zufälligen Bedingungen ab, wie zum Beispiel die Anzahl Schlafplätze in den Aufnahmezentren, welche bestimmt, wie viele aufgenommen und dass die Anderen infolge dessen zurückgewiesen werden. So landen viele auf der Straße – ohne Geld aber mit dem Befehl über den Flughafen Rom Fiumicino in ihr Heimatland zurückzukehren.
Das, was die Polizei damit erreicht, ist eine Masse von illegal sich im Lande aufhaltenden Menschen, die in ihrer rechtsfreien Situation Opfer von Menschenhändler*innen und Ausbeuter*innen jeglicher Art werden. Sie erhalten keinen Schlafplatz, keine Verpflegung, keine Unterstützung und keine Information über ihre Handlungsmöglichkeiten und über das, was ihnen tatsächlich widerfährt. Einige unter ihnen haben das Glück, mit humanitären Organisationen in Kontakt zu treten, mit Aktivist*innen, die sich solidarisch für sie einsetzen, indem sie Beschwerden schreiben und ihre Rechte einfordern. Den Anderen bleibt nichts anderes übrig, als sich mit illegaler, schlecht bezahlter Arbeit ausbeuten zu lassen.
Zudem haben wir dokumentiert, dass unbegleitete Minderjährige, Schwangere und besonders gefährdete Menschen zurückgeschickt werden. Es geschehen paradoxe Dinge: Vor einigen Wochen ist ein abgewiesener Jugendlicher, der nicht wusste wohin er sich wenden sollte, einfach vor dem Eingang des Zentrums in Pozzallo geblieben. Einige Tage später haben die gleichen Ordnungshüter die Abschiebungsanordnung zerrissen und ihn wieder ins Erstaufnahmezentrum eingelassen. Die meisten in den letzten Monaten zurückgewiesenen Migrant*innen kommen aus dem Senegal, aus Mali, Pakistan, Guinea, Gambia und Nigeria.
Was die Situation in Sizilien betrifft, wo ihr als humanitäre Organisation aus den verschiedenen Provinzen berichtet: wie sieht es dort aus und wie könnt ihr intervenieren?
In allen Provinzen Siziliens haben sich Unterstützungsnetze gebildet. Sie setzen sich aus Anwälten, antirassistischen Aktivisten und humanitären Organisationen zusammen. In Catania zum Beispiel, wo eine kollektive Abschiebungsanordnung für 32 Migranten ausgestellt wurde, haben wir uns mit dem Centro Astalli*, mit dem antirassistischen Netzwerkes Catanias, mit Arci*, Asgi* etc… zusammengetan. Wir haben für 15 dieser zurückgewiesenen Migrant*innen Unterkunft gefunden. Sie wurden von Moscheen und der Caritas aufgenommen. Andere lebten für Monate auf der Straße, wieder andere sind abgereist. Wir haben um Unterredungen bei der Präfektur und der Polizeibehörde gebeten und die Unrechtkeit dieser Praxis angeprangert. Es wurde uns bestätigt, dass die Direktiven für das Vorgehen von der EU und der italienischen Regierung kommen.
Auch in Palermo haben wir uns für zurückgewiesene Gruppen gewehrt. Es ist so, dass in Palermo und Catania auch jene Migrant*innen landen, die in Lampedusa, Pozzallo und andern Provinzen abgeschoben werden.
Beispielhaft für das Chaos, das diese Apparate auslösen, ist ein Ereignis in Trapani: dort wurden zwei Tage nachdem das CIE* in einen Hotspot umgewandelt wurde, 198 Personen ausgewiesen. Zusammen mit Anderen haben wir diese Tatsache verurteilt. Darauf hat die Präfektur die Öffnung einer Turnhalle angeordnet, die das Rote Kreuz betreuen sollte. Aber auf Grund des schlechten baulichen Zustandes sind die Migrant*innen doch wieder in den Hotspot zurückgebracht worden, wo sie nun ihre Asylanträge in die Wege leiten. Dennoch, die Abschiebebefehle wurden bis jetzt nicht annulliert. Die Schizophrenie dieses Systems tritt klar zutage. Es ist zudem eine ungeheure Geldverschwendung, da viele Anordnungen ausgeführt und nachher wieder rückgängig gemacht werden. In Tat und Wahrheit dienen diese Abschiebeanordnungen lediglich der Statistik, die der europäischen Union beweisen soll, wie viele Migrant*innen abgewiesen werden. Selbst den Polizeibehörden wird klar, dass mit solchem Vorgehen die öffentliche Ordnung durcheinandergerät und dass das keinen Sinn macht.
Welche Forderungen stellen sie als Aktivist*innen und antirassistische Bewegungen?
Zusammen mit anderen Organisationen haben wir ein Dokument ausgearbeitet, in dem wir den sofortigen Stopp der Praxis der verzögerten Zurückweisung und die Schließung der Hotspots verlangen. Wir lehnen die Gefangennahme der Migrant*innen ab, die sich nicht identifizieren lassen. So wie es der Fall ist in Lampedusa, wo Eritreer*innen, die ihre Identifizierung verweigert haben, seit Monaten festgehalten werden. Dass die Identifikationen mit Gewalt erzwungen werden, sind gravierende Vorkommnisse. Ausserdem funktioniert das Quotensystem nicht. Denn man kann Menschen nicht in Länder schicken, in die sie nicht wollen. Das gleiche gilt für das Dubliner Abkommen, das die Migrant*innen unabhängig von ihrem eigenen Willen auf Länder verteilt, in die sie nicht wollen.
Was wir wollen, ist ein Asylrecht, das seinem Namen gerecht wird: In den letzten Jahren wurden unter großen Anstrengungen auch Fortschritte erzielt. In Italien zum Beispiel, wo dieses Recht immer noch sehr schwierig durchzusetzen ist, waren Jahre nötig für den Kampf, die Mobilisierung, das Lobbying, für Prozesse, Beschwerden und die Umsetzung der Direktiven der EU nötig. Mit diesen Praktiken werden wir um Jahre zurückgeworfen und das Asylrecht wird mit Füßen getreten.
Das dürfen wir nicht zulassen. Kein politisches Abkommen darf sich über europäische und nationale Direktiven der internationalen Schutzbestimmungen hinwegsetzen, wenn damit Menschenrechte immer offensichtlicher verletzt werden. Wir können sagen, dass das Hotspotsystem das Asylrecht schwer untergräbt. Wir können heute keine solchen Rückschritte zulassen.
Besuche die Website der Organisation Borderline Sicilia !
*CSPA: Centro Soccorso e Prima Accoglienza – Erstaufnahmezentrum
*ACNUR: Alto Commissariato delle Nazione Unite per i Rifugiati oder UNHCR United nations High Commission for the Refugees
*OIM: Organizzazione Internazionale per la Migrazione oder IOM Internationale Organisation für Migration, International Organization for Migration
*Centro Astalli – servizio dei gesuiti per i rifugiati in Italia – humanitäre Institution der Jesuiten für die Geflüchteten in Italien
*Arci: Associazione Ricreativa e Culturale Italiana: gegründet 1957 – ein sozialer Förderverein in Italien, gegen Faschismus und für die Allgemeine Erklärung der Menschrechte
*CIE: Centro di Identificazione ed Espulsione – Zentrum für die Identifikation und die Abschiebung
*Asgi: Associazione per gli studi giuridici sull‘ immigrazione – Verein für juristische Studien zur Einwanderung
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne