Vorverurteilung statt Unschuldsvermutung: der Fall Medhanie Berhe

Der Fall und die Personenverwechslung

Die Gefühlswelle anlässlich des Massakers in Lampedusa am 3. Oktober 2013 – als 368 Eritreer*innen ihr Leben verloren – gab dem Projekt, die Verfolgung von Menschenschleusern auf der Route zwischen Afrika und Europa mit größerem Nachdruck zu betreiben, den üblichen rhetorischen Anschub.

“Il generale” – Foto der Buchhandlung Vicolo Stretto in Catania

Im Jahr 2016 verkündete die Staatsanwaltschaft Palermo stolz die Festnahme einer der großen Fische im Geschäft des Menschenhandels, nämlich Medhanie Yehdego Mered im Sudan. In Italien wurde diese Nachricht mit großer Genugtuung der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Der Staatsanwalt Ferrara beschrieb ihn mit folgenden Worten: „Einer der vier wichtigsten Schleuser Nordafrikas.“ Auch internationale Medien berichteten eindringlich von seiner Festnahme und machten ihn als „Verantwortlichen für das Massaker in Lampedusa“ aus, den Angaben der britischen Antikriminalitätsbehörde entsprechend.

Jedoch gingen nach der Veröffentlichung der Nachricht etliche Anrufe von eritreischen Bürger*innen ein. Sie bestritten, dass der Mann, der festgenommen worden war, Mered sei. Von diesen Zweifeln ausgehend war die unermüdliche Untersuchung des sizilianischen Korrespondenten des The Guardian, Lorenzo Tondo, geboren. Tondo hat den Fall von Beginn an verfolgt und dessen komplizierten Verlauf nun in einem Sachbuch mit dem Titel „Il generale“ veröffentlicht. Seine Untersuchungen belegen, dass es sich um einen der kontroversesten juristischen Fälle unserer Zeit im Bereich der Migration handelt.

Mered, dessen Spitzname “Il generale” lautet, wird von Polizeibehörden auf der ganzen Welt gesucht. Das Problem ist, dass der vom Sudan ausgelieferte Mann, der sich seit nunmehr drei Jahren in Haft in Palermo befindet, vermutlich nicht er ist, sondern Medhanie Tesfamariam Berhe, ein Tischler aus Eritrea. Dieser Mann steht nun vor Gericht und wird für jemanden gehalten, der er nicht ist. Alles begann im Mai 2016, als er in Khartum gefangen und in die Haftanstalt in Palermo verbracht wurde. Menschenhandel wurde ihm zur Last gelegt. Von Beginn an kamen Ungereimtheiten und Widersprüche zum Vorschein, insbesondere fehlte es an Ähnlichkeit zwischen dem Gefangenen und dem Foto des Steckbriefs des Schleusers Meled. Die Ermittlungen gingen weiter, auch wenn nach und nach klar wurde, dass die Beweise – abgehörte Gespräche und Telefonate, Aussagen Hunderter Eritreer*innen sowie DNA-Proben – die Anklage widerlegten, die mittels Methoden gesammelt wurden, die üblicherweise im Kampf gegen die Mafia angewendet werden.

Beschuldigung und Bestrafung der Migrant*innen

Dank der Rekonstruktion von Lorenzo Tondo ist es möglich, in diese Geschichte und den paradoxen juristischen Vorgang einzudringen und festzustellen, wie sich um diesen Mann herum ein Narrativ der Beschuldigung und Bestrafung gebildet hat, trotz Mangel an Beweisen. Im Gegenteil entlastet ihn die überwiegende Mehrheit der bisher gesammelten Beweise.

Momentaufnahme der Buchvorstellung in Catania – Foto der Libreria Vicolo Stretto

Drei Jahre sind seit Beginn des Prozesses vergangen. Das vorläufige Ende wird er nächste Woche finden. Die Unhaltbarkeit der Anklage ist überdeutlich. Berhe ist der perfekte Sündenbock für Italien und Europa, um mit dem Finger auf die Schleuser zu zeigen, die als einzige Verantwortliche für die Toten im Mittelmeer gelten sollen. Er soll herhalten als Zeichen dafür, dass der Kampf gegen die Schleuser im vollen Begriff ist.

Der Fall Berhe lässt sich mühelos in einen klaren historisch-politischen Kontext einfügen. Begründet auf dem Prinzip der Kriminalisierung von Migrant*innen und von Migration: die Festnahmen und Anklagen gegen vermeintliche Schleuser häufen sich und stehen für den Kampf gegen die organisierte Kriminalität, die einen Teil der Migrationsströme bedient. Diese Einordnung des Geschehens folgt der sicherheitspolitischen Logik, die die Migration als Prozess darstellen will, der ausschließlich von Kriminellen und der Mafia betrieben wird. So wird die Politik der Grenzschließung und der Unterdrückung rechtfertigt, die hingegen die wahre Ursache für das Aufblühen des Menschenhandelns und der Toten an den Grenzen sind.

Wir wissen allerdings nur zu gut, dass die sogenannten Schleuser, die die Schiffer voller Migrant*innen in die Häfen steuern, selbst auch nur Geflüchtete sind, die aus Notwendigkeit handeln, die unter Anwendung von Gewalt gezwungen werden, derart zu handeln.

Die Suche nach der Wahrheit und nach den Verantwortlichen für die Massaker und Gewalt

Im Verfahren der Delegitimisierung der Migrant*innen kann der vermeintliche Schleuser bestens die Rolle des Kriminellen einnehmen und der Justiz ausgeliefert werden, die Rolle des Verantwortlichen der Tragödien auf den illegalen Migrationsrouten, des unter allen Umständen Schuldige, auf den Europa öffentlich und offiziell all seine Schuld ablädt.

Wieder einmal treffen die Konsequenzen der europäischen Schuld die Migrant*innen, die einfache Zielscheiben sind und getroffen werden, um nicht die Verantwortung zu übernehmen für die Gewalt, die gegen Migrant*innen ausgeübt wird. Das Sterben im Meer geht unter Schweigen weiter, die wahren Verantwortlichen machen unbehelligt weiter.

Die Widerstandskraft von Berhe ist außergewöhnlich. Er hält aus seiner Zelle heraus diesem Justiz- und Medienspektakel stand, gegen ihn läuft ein Verfahren für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat. Ihm zur Seite stehen hartnäckige Journalist*innen wie Tondo und Anwält*innen wie Michele Calantropo, die ihn seit 2016 gegen die ihm zur Last gelegten Verbrechen verteidigen. Ihnen ist es zu verdanken, dass sich die Geschichte dieses Mannes auf internationaler mehr denn auf nationaler Ebene verbreitet hat, und sich offen zeigt, dass es sich bei diesem Fall um eine große Ungerechtigkeit handelt. Der Beitrag, den die genannten Personen in der beständigen Suche nach der Wahrheit leisten, verdient heute mehr denn je die größtmögliche Unterstützung von allen gesellschaftlichen Kräften und von der öffentlichen Meinung. Sie soll es schaffen, Berhe zu entlasten und wie ihn alle Migrant*innen, die unrechtmäßig verurteilt werden, schlicht weil sie Migrant*innen sind. Wir dürfen hoffen, dass die Beweisaufnahme vor Gericht in einem Urteil mündet, das die wahren Tatsachen würdigt.

Die Diskreditierung und Vorverurteilung, die gegen Migrant*innen und ihre Helfer*innen stattfindet, wird nicht unangefochten bleiben: auch wenn man versuchen wird, das Chaos aufrechtzuerhalten und den Sachverhalt zu verdrehen, ist klar, dass die wahren Verantwortlichen für die Schiffbrüche, Toten und Rechtsverletzungen Italien und die übrigen Mitglieder der europäischen Union sind. Sie sind die Verursacher von schwersten Straftaten gegen Migrant*innen. Wenn es stimmt, dass in den Machtinstitutionen, in den sozialen Medien und in den Straßen immer jemand sein wird, der bereit ist, Unschuldige zu verurteilen, so ist ebenso wahr, dass es immer jemanden geben wird, der sich dem entgegensetzt und beständig die Wahrheit aufrecht erhalten wird, bis früher oder später die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Silvia Di Meo

Borderline Sicilia

 

Übersetzung von Alma Freialdenhoven