Von der Ankunft, zum Hotspot, bis zur Ausweisung. Wie über das Schicksal der Migranten entschieden wird

Von Redattore Sociale – Willkürliche
Unterscheidungen zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und Asylsuchenden, Blitzausweisungen,
irreführende Methoden, um an die Fingerabdrücke zu gelangen, zu wenige
Informationen an die Migranten bezüglich ihrer Rechte und ihres Schicksals.

Francesco Rita, Psychologe von Ärzte Ohne Grenze, der in dem
Erstaufnahmezentrum arbeitet, erzählt uns was seit einem Monat in dem
sogenannten hotspot in Pozzallo geschieht. „Was hier passiert, ist
entsetzlich!“ fasst er ohne Umschweife zusammen während eines von Laboratorio 53 in Rom organisierten
Kongress.

Insbesondere erklärt Francesco wie der
normale Ablauf ist, von dem Moment, in dem ein Boot in Schwierigkeiten gerät
und Alarm schlägt bis zu dem Moment, in dem die Flüchtlinge mit einem
Militärschiff nach Apulien oder Sizilien gebracht werden. „ Am Hafen stehen
alle herum, die Carabinieri, die Polizei, das Rote Kreuz, die Beamten von
Frontex – erklärt er. Zuerst geht das USMAF (Nautisches Amt für die Gesundheit,
Anm. d. Red.) an Bord, um den Gesundheitszustand der Schiffsbrüchigen zu
untersuchen, die dann in einer Reihe, barfuß und verwirrt, vom Boot gehen. Die
Polizei fotografiert jeden einzelnen und gibt jedem ein Armband. Dann werden
die Flüchtlinge per Bus zu den 20 Meter entfernten Untersuchungszelten von Ärzten ohne Grenzen gebracht“. Hier werden
die Flüchtlinge untersucht, um Fälle von TBC oder Krätze auszuschließen, und
sie werden durchsucht, „ Alles wird ihnen weggenommen, Schubänder, Gürtel,
Kleingeld“. Später im CSPA* „stellt ein Beamter von Frontex Fragen zwecks
Identifizierung und seit neuem auch die Frage: Warum bist du hier? Wenn die
Antwort lautet: Um zu arbeiten, wird derjenige binnen zwei Tagen ausgewiesen,
obwohl er gar nicht weiß warum, obwohl er gar nicht weiß, was Asyl bedeutet,
und obwohl er diese Fragen beantworten musste, nachdem er die letzen Tagen auf
See, mit der Angst zu sterben, verbracht hatte.“

Die Zweifel an der Verordnung, zwischen erzwungenen Identifizierungen und
Verwaltungsfestnahmen.

Der Start der Testphase der hotspots fiel im September zusammen mit dem
Inkrafttreten des gesetzesvertretenden Dekrets 142, das die Europäischen
Richtlinien 2013/33/UE und 203/32/UE bezüglich Aufnahmen- und Verfahrensweisen
zur Anerkennung des Internationalen Schutzes ausführt. „Dieses Dekret ist die
Antwort auf den europäischen Druck Richtung Italien, auf dass ein effizientes
Identifizierungssystem eingeführt wird: Im letzten Jahr sind von den 170.000
Menschen, die ankamen, nur 70.000 identifiziert worden – erklärt Salvatore
Fachile, ein Rechtsanwalt von Asgi*, der zusammen mit
seiner Kollegin Lordedana Leo versucht, ein wenig Klarheit in die Richtlinien
zu bringen -. Im Gegenzug verteilt Europa einen Teil der Flüchtlinge auf die
verschiedene europäische Länder. Das Gesetz spricht eine bürokratische Sprache,
die sogenannte road map hingegen benutzt die
Mediensprache mit Termini wie „hotspot“ und „hub“. Der von Italien
verwendete hotspot ist eine Methode, um direkt nach der Ankunft, die
Asylsuchenden von den Wirtschaftsflüchtlingen zu unterscheiden. Es wird die
Mitarbeit der italienischen Polizei, der polizeilichen Mediatoren, von Easo,
Frontex und Europol, unterstützt vom UNHCR, vorausgesetzt, um eine Person nach
Möglichkeit zu identifizieren und herauszufinden, ob diese Person die Absicht
hat, Asyl zu beantragen. In diesem Fall wird die Person weiter gereicht ins hub,
in das ehemaligen CARA*, wenn diese Person
aber nicht Asyl beantragen will, wird
sie ins CIE* gebracht oder sie bekommt direkt einen
Ausweisungs- bez. Abschiebungsbescheid“.

Der
zentrale Punkt, setzt Fachile seine Erklärung fort, besteht darin, dass das
Gesetz nie über „geschlossene Räume“ spricht – unterstreicht er -. Das würde
ein neues Vorgehen in der Festnahme einer Person voraussetzen, das
Verfassungsrechte und richterliche Kontrolle mit sich brächte. Wohingegen in der road map von solchen Orten
gesprochen wird. Und das können wir nicht auf den Artikel 14 d.lgs 286/98 (Testo Unico Immigrazione) beziehen. Der
andere kritische Punkt, laut den Rechtsanwälten von Asgi*, ist, dass im Gesetz
nie das Wort „gezwungene Identifizierung“ erwähnt wird: Die vorläufige
Festnahme darf nur 72 Stunden dauern, wenn ein Richter informiert wurde. Die Regierung handelt dem jedoch zuwider. Wir fragen
uns jedoch, welche Methoden für diejenigen angewandt werden, die sich der
Festnahme passiv widersetzten. Es gibt Gerüchte über Einzelfälle, aber keine
systematische Erhebung. In der Europäischen Agenda zu Migration 2015 jedoch
wird erwähnt, dass „Gewaltanwendung nur in Extremfällen“ zulässig sei, obwohl
Flyer verbreitet wurden, ohne spezifische Ortsangaben, in denen physische
Zwangsmethoden dargestellt werden. Wir sehen uns mit einer Praxis konfrontiert,
die während der Epoche des Faschismus als „Vorläufige Festnahme ohne
richterliche Kontrolle“ bekannt war. Langsam setzt sich diese Idee durch“.
Fachile unterstreicht, dass „sowohl die hotspots als auch die hubs keine
polizeiliche Einrichtungen sind, sondern vom dritten Sektor geführt werden und
somit die freiwilligen Helfer in Sachen verwickelt werden, für die sie nicht
zuständig sein sollten“.

Fingerabdrücke? Sie werden mit Betrug abgenommen. Ein zentrales Problem
bleibt die Identifizierung: Viele Flüchtlinge wollen nicht, dass ihnen die
Fingerabdrücke in Italien genommen werden, weil sie ihre Reise nach Nordeuropa
fortsetzen wollen. „Die gängigste betrügerische Methode an die Fingerabdrücke
zu kommen, besonders benutzt bei den Eritreern, die sich am meisten dagegen
sperren, ist es zu sagen, dass diese nicht benutzt werden, oder dass es sich um
eine vorläufige Festnahme ohne Folgen handle“ – ergänzt Francesco Rita,
Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen -. Diejenige, die als Wirtschaftsflüchtlinge
eingestuft wurden, werden binnen zwei Tagen mit einem Ausweisungsdekret hinauskomplimentiert
– sie verstehen aber nicht, was mit ihnen passiert und so warten sie draußen
vor dem Tor bis sie von jemanden erneut wegschickt werden und dann gehen sie
langsam weg und verlaufen sich in den umliegenden Feldern und gesellen sich zu
den vielen Schwarzarbeitern. 38 ausgewiesene Migranten sind stundenlang um
Pozzallo herum im Regen umhergewandert, bis der Bürgermeister sich
eingeschaltet hat und sie zurück kommen durften. Ein anderer Migrant hat sich
so lange und heftig beklagt, bis ein Polizist das Dekret zerrissen hat und ihn
wieder rein gelassen hat. Einige Polizisten haben uns vertraulich gesagt, dass
sie Ausweisungsquoten zu respektieren haben, unabhängig davon, wer ankommt.“

Die Migranten werden unzureichend informiert: Sie haben keine Ahnung was
auf sie zukommt. Und so landen sie in den CIE*. Ein weiterer
kritischer Punkt betrifft die Informationsvermittlung. „Der UNHCR versucht, den
Flüchtlingen ein paar Infos zu geben, während sie vor den Zelten warten, wo die
medizinische Untersuchungen stattfinden werden, oder während sie die 20 Meter
hinter sich legen, die den Hafen von den Zelten trennen, aber in Wahrheit
erfolgt keine Informationsvermittlung“, erklärt Francesco. Und er ergänzt, dass
falls ein Migrant seine Meinung ändert würde und doch einen Asylantrag stellen
würde, ihm eine Kommission innerhalb des CIE* zustehen würde und er bis zu 12
Monate dort bleiben dürfte. Wenn er aber die Absage anficht, wird ein Richter
den Vorgang nochmals prüfen und in der Sache urteilen, aber der Richter hat
keine Befugnis, die Wirkung des Ausweisungsdekrets aufzuheben. Dieser Aspekt
hat auch die Richter beunruhigt“, ergänzt Francesco. „Wir sind wirklich
desorientiert und wir diskutieren, ob wir in den CSPA bleiben oder doch
lieber austreten sollten – erklärt der Psychologe von Ärzte ohne Grenzen
abschließend. Im Moment werden wir wohl drin bleiben, aber wir fragen uns, was
wir diesen Methoden entgegensetzen können: Zusammen mit Vertretern anderen
Organisationen mussten wir zusehen, wie Kinder und Schwangere ausgewiesen
wurden und die einzige Möglichkeit, die uns bleibt, die Ausweisung zu
vermeiden, ist es, zu erklären, dass diese Menschen im Moment auf medizinische
Fürsorge angewiesen sind“.

Wir sind Zeuge einer Ausweitung der CIE*, die zusammen mit einem Paket
zwischenstaatlicher Vereinbarungen einhergeht, zwischen Europa und Staaten, die
der Rückführung ihrer Landsleuten zustimmen, auch mit Hilfe von mehr oder
weniger klar ausgesprochener Androhung der Kürzung humanitärer Mittel“ fügt
Fachile von Asgi hinzu.

(Elena Filicori)

© Copyright Redattore Sociale

*CARA: Aufnahmezentrum für Asylsuchende

*CIE: Zentrum zur Identifizierung und Ausweisung

*CSPA: Zentrum zur Ersten Hilfe und Erstaufnahme

*Asgi: Verein für juristische Studien zur Immigration

Aus dem Italienischen von Antonella Monteggia