Vom Meer zum Gefängnis. Die Kriminalisierung von Migration im Bericht von Arci Porco Rosso und Alarm Phone
Artikel vom 15. Oktober 2021
PALERMO, 15. Oktober 2021- Mehr als 2.500 Personen wurden in den vergangenen 10 Jahren wegen Menschenhandels festgenommen, auch wenn sie nichts anderes getan hatten, als ein Boot über das Mittelmeer zu fahren. Hunderte von ihnen befinden sich immer noch in Haft in Italien, wie der heute veröffentlichte Bericht von ARCI Porco Rosso* und Alarm Phone zeigt.
Es ist das erste Mal, dass offizielle Daten über die Festnahme der sogenannten Schmuggler*innen gesammelt und analysiert wurden. Im vergangenen Jahr hat die italienische Polizei im Durchschnitt einen von 100 Migrant*innen, die über das Meer nach Italien kamen, festgenommen. Der Vorwurf lautet „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“, eine Straftat, die bis zu 15 Jahre Haft und Millionen Euro Geldstrafe zur Folge haben kann. In einigen Fällen – beispielsweise bei Todesfällen während der gefährlichen Überfahrt des Mittelmeeres – wurden Haftstrafen von 30 Jahren oder lebenslänglich verhängt.
Der Bericht analysiert ca. 1.000 Fälle von festgenommenen, des Schmuggels angeklagten Migrant*innen. Das Migrationsgesetz deutet darauf hin, dass jede Person, die einem oder mehreren Menschen dabei hilft, vorschriftswidrig italienischen Grund und Boden zu betreten, mit einer langjährigen Haftstrafe rechnen muss. Selbst, wenn die angeklagte Person nur das Boot gefahren hat und wenn sie selbst ein*e Migrant*in ist.
Cheikh Sene, ein Aktivist des Vereins ARCI Porco Rosso aus Palermo, der an der Berichterstellung mitgearbeitet hat, erklärt:
„Ich musste zwei Jahre sitzen, nur weil ich ein Boot gefahren habe. Ich habe das Leben von Menschen gerettet, die keine andere Wahl hatten. Nun wollen wir für die Freiheit und für die Menschenrechte anderer Migrant*innen kämpfen, die zu Unrecht in Haft sitzen.“
„Menschen migrieren nach Europa, weil Europäer*innen auch in unseren Ländern sind, jede*r sollte das Recht haben sich nach Belieben zu bewegen, wir sind alle Menschen“, sagt Sene weiter.
Die Vereine haben für die Forschung hunderte von Personen befragt, darunter mehrere, die des Menschenhandels beschuldigt werden, sowie Anwält*innen, Richter*innen, Mitglieder der italienischen Küstenwache ‚Guardia Costiera Italiana‘ und Gefängnispersonal.
Der Bericht weist darauf hin, dass viele Migrant*innen für schuldig befunden werden, obwohl die Beweise, die vor Gericht gegen sie verwendet werden, äußerst schwach sind. Maria Giulia Fava, eine juristische Mitarbeiterin, die an der Ausarbeitung des Berichts mitgearbeitet hat, verkündet:
„Es handelt sich um politisch bedingte Prozesse. Bei der Jagd nach den Schmuggelnden, die als Sündenböcke für alles verantwortlich gemacht werden, werden Verfahrensgarantien verletzt. Die Grundsätze, auf die ein Strafverfahren sich berufen sollte, werden leichtfertig missachtet.“
Die inhaftierten Migrant*innen kommen aus vielen verschiedenen Ländern. Der Bericht schätzt, dass 35 % aus Nord Afrika, 20 % aus westafrikanischen Ländern und weitere 20 % aus Osteuropa kommen. Dabei handelt es sich um Menschen aus Afghanistan, Bangladesch, Libyen, Senegal, Syrien, der Ukraine und vielen anderen Ländern.
Die Kriminalisierung von Menschenschmuggler*innen ist Teil eines besorgniserregenden Trends in der italienischen Justiz und Politik, bei dem Rettungsschiffe von NGOs beschlagnahmt und strafrechtliche Ermittlungen gegen die Besatzungsmitglieder eingeleitet werden. Auch andere europäische Länder haben Schmuggelnde verhaftet und verurteilt, so zum Beispiel in Griechenland, wo vor Kurzem jemand zu 146 Jahren Gefängnis verurteilt wurde.
Sara Traylor, eine Aktivistin von ‚Alarm Phone‘ kommentiert:
„Die Kriminalisierung von Migration ist ein wesentlicher Bestandteil von einem gewalttätigen Grenzregime, das wir abschaffen müssen. Europa muss seine ungerechte und tödliche Migrationspolitik und die Folgen, die diese für das Leben der Menschen hat, anerkennen und dafür Verantwortung übernehmen.“
„Die Menschen ins Gefängnis zu schicken, wird die Migration nicht stoppen oder sicherer machen.“
Den Bericht finden Sie unter: https://dalmarealcarcere.blog/
Für Informationen, Anfragen und Kommentare wenden Sie sich an Richard: arciporcorosso@gmail.com / +39 3245820120.
ARCI Porco Rosso ist eine kulturelle Vereinigung, die seit 2016 den Sportello Sans Papiers im historischen Zentrum von Palermo belebt.
Alarm Phone ist ein transnationales Netz von Aktivist*innen, die eine Telefonleitung betreiben, um in Not geratene Menschen im Mittelmeer zu unterstützen.
*ARCI: Associazione ricreativa e culturale italiana – Verband der Förderung von Kultur, Bildung, Frieden, Menschenrechte, und Wohlfahrt
Aus dem Italienischen übersetzt von Laura-Lucia Wiese