Leben am Rande: unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Sizilien – zwischen Schutzbedürfnis und der Illusion von Schutz

Der vorliegende Bericht – erstellt von Borderline Sicilia auf der Datengrundlage von 2019 – liefert ein Abbild der Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) in Sizilien, einer Region, die weiterhin die meisten unbegleiteten Minderjährigen sowie die größte Zahl an entsprechenden Einrichtungen hat, obwohl die Zahl der Ankünfte der Migrant*innen auf dem nationalen Territorium seit 2017 zurückgegangen sind.

Im Laufe dieser letzten Jahre nahmen die UMF eine wachsende Rolle unter den in Italien Ankommenden ein, nicht nur in quantitativer Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die Herausforderungen für das Aufnahmesystem. Trotz geringerer Ankunftszahlen und der zurückgegangenen Zahlen von UMF auf sizilianischem Boden in Bezug zur Vergangenheit hat sich die Qualität der von den Kommunen und Aufnahmezentren erbrachten Dienstleistungen nicht verbessert. So müssen nach wie vor Verzögerungen, Mängel, Rechtsverletzungen und illegitime Praktiken festgestellt werden.

Die vorliegende Arbeit bezieht sich auf die Zeit vor Corona, das alle unsere Lebensbereiche erschüttert hat, einschließlich der der Migrant*innen in Italien. Was die Situation der UMF betrifft, haben wir festgestellt, dass sich alle im Bericht genannten Schwierigkeiten, von der Zeit des Lockdowns bis heute, weiter vergrößert und verstärkt haben. Die UMF, die in diesem Zeitraum in Italien ankommen, werden für die Zeit der Quarantäne in Notunterkünfte gezwungen, zusammen mit Erwachsenen und für eine Zeitspanne, die länger dauert als von den Gesundheitsbehörden vorgesehen. Dies passiert, weil solche Einrichtungen nicht auf so eine Art von Prophylaxe ausgerichtet sind und die Überbelegung es nicht erlaubt, die Isolierung in korrekter Weise durchzuführen. Zudem wurde das Klima im Inneren dieser Einrichtungen – und auch noch zum Zeitpunkt der Abfassung des Artikels – durch starke Spannungen charakterisiert, die zu Protesten, Abschiebungen und Eingriffen durch die Ordnungskräfte in diesen Einrichtungen führen.

Aber die in den letzten Monaten festgestellten Probleme betreffen auch das tägliche Leben in den Zentren für UMF, in denen das im Bericht beschriebene anfällige Gleichgewicht völlig durcheinandergeraten ist: Verwaltungsvorgänge und Eingliederungsprozesse in die Gesellschaft und in die Arbeitswelt wurden unterbrochen und in vielen Fällen gestoppt, Schulbesuche gestrichen, es kam zu unerwarteten Verlegungen und somit zu Entwurzelungen. In vielen Einrichtungen wurde eine Quarantäne durchgeführt, die nicht von der ständigen Anwesenheit der Mitarbeiter*innen begleitet wurde, bei der es auch keine klaren Erläuterungen des Geschehens und der angewendeten und anzuwendenden Maßnahmen gab, was zu einem wachsenden Unbehagen bei den Minderjährigen führte. Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Schwierigkeiten derjenigen, die gerade erst volljährig geworden sind, wenn sie aus den Zentren kommen und auf der Suche nach einer angemessenen Wohnung oder einem Arbeitsplatz sind.

 

Untersuchungsmethode

In methodischer Hinsicht basiert der Bericht auf der Erhebung von qualitativem Datenmaterial, das in die offiziellen quantitativen Informationen (des Innenministeriums, der Jugendgerichte und der Sozialdienste) integriert sind. Ziel ist es, auf diese Weise einen vollständigen Rahmen des Phänomens abzustecken, das in Übereinstimmung mit der Methode des Monitorings analysiert wird, die Borderline Sicilia seit Jahren praktiziert: eine gemischte Untersuchungsmethode, die gleichzeitig Statistiken und offizielle Zahlen mit Lebensgeschichten und direkten Zeugnissen von Menschen, die diese Erfahrungen gemacht haben, verknüpft.

Kawsu19 Jahre, Gambia

Kawsu kommt 2016 in Pozzallo an, er verbringt vier Monate in einer Erstaufnahmeeinrichtung, obwohl er sofort angegeben hatte, Opfer sexuellen Missbrauchs gewesen zu sein. In der Einrichtung lebt er mit Jugendlichen zusammen, die ihn aufgrund seiner Homosexualität beleidigen. Schließlich wird er in eine Anschlussaufnahmeeinrichtung in Marsala gebracht, wo er einen Aufenthaltstitel erhält, aber nicht in die Schule geschickt wird.  Kawsu verlässt oft die Einrichtung, um auf dem Feld zu arbeiten, aber keine/r der Mitarbeiter*innen interessiert sich dafür. In der Zwischenzeit schließt diese Einrichtung aufgrund ökonomischer Probleme und Kawsu wird – ohne jede Vorwarnung – in eine Gemeinde in der Provinz Syrakus verlegt und ist damit komplett aus dem einzigen Umfeld gerissen, das er kannte. So entschließt er sich in den Ghettos auf dem Land zwischen Marsala und Campobello di Mazara zu leben, wo wir ihn getroffen haben. Kawsu ist gezwungen zu arbeiten, um seine fünf Geschwister in Gambia zu unterhalten. Er ist sich bewusst, dass er mit seinem Leben auf der Straße das Risiko eingeht, alles zu verlieren, aber er behauptet, dass das Leben in den Gemeinschaften zu überhaupt nichts führt. Folglich zieht er es vor, unsichtbar zu bleiben, dafür aber etwas Geld in der Tasche zu haben.

 

Analyseleitlinien

Rechtliche, soziale und pädagogische Aspekte sind die Analyseleitlinien, mit denen Borderline Sicilia die vor Ort gesammelten Daten und Informationen untersucht hat. Dabei wurde versucht, die der sozialen und administrativen Hürden, auf die die UMF in Sizilien stoßen, nachzuzeichnen.

Was den administrativen Schwierigkeiten betrifft, so fokussiert sich die Untersuchung auf die unterschiedlichen Aufenthaltstitel, die die UMF erhalten, auf die Änderungen in Folge der Einführung des Sicherheitsdekrets, das die Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen abgeschafft hat und Fristen und andere benachteiligende Modalitäten des Zugangs zu den Prozessen festlegt und Probleme im Zusammenhang mit dem Erreichen der Volljährigkeit betont. Der Bericht überprüft zudem die tatsächliche Umsetzung einiger Schutzmaßnahmen bezüglich der UMF, die vom Gesetz Zampa erwünscht sind: den multidisziplinären Zugang zur Überprüfung der Altersfeststellung, die Rolle des ehrenamtlichen Vormunds und die Verfahrensweisen bei einer Fortsetzung des begonnenen administrativen Verfahrens.

Zudem werden die Aufnahmebedingungen von Minderjährigen untersucht: das seltene oder fehlende sozialpädagogische Angebot, die Schwierigkeit einer echten beruflichen Eingliederung, die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen, die teilweise deswegen kontraproduktiv sind, weil die Minderjährigen auf dem Weg in die Volljährigkeit infantilisiert werden, die Unzulänglichkeit der Dienste, die den sozialpsychologischen Profilen der Minderjährigen gewidmet sind.

Die Analyse der Zahl der UMF in Sizilien im Vergleich zu anderen Regionen hat gezeigt, dass sich der größte Teil der Minderjährigen, die 2019 volljährig wurden, in Sizilien aufhielt. Dies machte auch die Notwendigkeit deutlich, einen besonderen Fokus auf die Kontrolle der Bedingungen der gerade volljährig gewordenen Jugendlichen zu richten und auf die Effektivität ihrer Eingliederung in soziale Arbeitsstrukturen, in denen sie noch als Minderjährige waren.

 

Schwierigkeiten

  • Mehr als drei Jahre nach dem Inkrafttreten des Gesetzes Zampa werden die dort eingeführten Vorschriften offensichtlich unter verschiedenen Gesichtspunkten nicht eingehalten und es sind weiterhin Verfahren in Kraft, die die wichtigsten Grundsätze der Reform von 2017 verletzen. Nicht allen Gesundheitseinrichtungen in der Provinz steht ein multidisziplinäres Team zur Altersfeststellung zur Verfügung. Nur diejenigen Minderjährigen, die eine tatsächliche Betreuung durch nahe Personen (Vormünder, Sozialdienste, Betreiber der Einrichtungen) genießen, können von einer Fortsetzung administrativer Verfahren profitieren, die den UMF garantiert, auch nach ihrer Volljährigkeit den eingeschlagenen Weg in die Selbstständigkeit weitergehen zu können. Die Grundausbildung, die man zur Einschreibung in die Listen der freiwilligen Vormünder benötigt, erlaubt es den in diesem Amt tätigen Personen nicht, die UMF angemessen beim Prozess der Eingliederung ins soziale Gefüge und bei administrativen Verfahren (Ausstellung und Umwandlung des Aufenthaltstitels, Einschreibung in der Schule und beim Nationalen Gesundheitsdienst) zu begleiten.
  • Der administrative Weg der UMF wird von zahlreichen rechtswidrigen Praktiken, die sich noch dazu häufig von Provinz zu Provinz unterscheiden – innerhalb der öffentlichen Verwaltung erschwert. Oft wird das Verfahren zur Erstellung einer Aufenthaltsgenehmigung für Minderjährige und die anschließende Umwandlung, aufgrund der Anforderung von Dokumenten, die vom Gesetz nicht vorgesehen sind, ein Hindernislauf.
  • Das System der Übernahme und des Schutzes der UMF, mit dem sich unterschiedliche institutionelle Akteure befassen, ist aufgrund der Zersplitterung der Kompetenzen auf lokaler und zentraler Ebene und aufgrund der unterschiedlichen Typen von Aufnahmezentren nicht in der Lage, die Aufnahmeeinrichtungen effektiv und wirksam zu überwachen.
  • Die Betreiber der Aufnahmeeinrichtungen verfügen, auch aufgrund der Kürzungen und der verzögerten Auszahlung der Mittel, über kein qualifiziertes Personal (gesetzliche Akteure, sprachlich-kulturelle Mediator*innen, Psycholog*innen) bei der Erbringung der Dienstleistungen für Minderjährige. Das verhindert, dass die soziale oder berufliche Eingliederung, die für jeden Minderjährigen vorgesehen ist, tatsächlich begonnen oder abgeschlossen wird. Außerdem werden in Sizilien Arbeitsstipendien und andere Formen bezahlter oder erstatteter Ausbildungspraktika von den Unternehmen allzu oft – manchmal sogar mit dem Einverständnis des Betreibers des Zentrums – als Mittel zur Beschäftigung von billigen Arbeitskräften und nicht als echte Chance für den Eintritt des Minderjährigen oder gerade erst Volljährigen in den Arbeitsmarkt genutzt.
  • Viele Aufnahmeeinrichtungen für Minderjährige befinden sich außerhalb der städtischen Gebiete, was einen erschwerten Zugang zu Alphabetisierungs- und Italienischsprachkursen (CPIA*), zu Schulbildung (Mittelschule) oder zur beruflichen Eingliederung bedeutet, die dem Jugendlichen sonst aber die Einschreibung in Kurse, einen fortlaufenden Besuch dieser und den Zugang zur Arbeitswelt garantieren würden.
  • Das Klima der Intoleranz und des Rassismus, zu dessen Verbreitung die Politik der Regierung beigetragen hat, betrifft alle in Italien lebenden Ausländer*innen, und Diskriminierung von Seiten der Institutionen oder der einfachen Bürger*innen macht sogar vor Minderjährigen keinen Halt. Auch in Sizilien ist im Laufe des Jahres 2019 ein starker Anstieg der Fälle von Rassismus, Diskriminierung und rassistischem Hass gegen Ausländer*innen und Migrant*innen zu verzeichnen [1]. In Messina zum Beispiel sind zahlreiche rassistische Vorfälle gegen Jugendliche belegt, die auf dem Weg von ihrer Einrichtung in die Schule oder ins Stadtzentrum waren.
Mamadou, 17 Jahre, Senegal

Mamadou sieht wie ein kleiner, schüchterner Junge aus. Er kam 2014 in Pozzallo an, hat erklärt volljährig zu sein, da er sich über sein wirkliches Alter (11 Jahre) überhaupt nicht im Klaren war. Mamadou hatte im Senegal nie eine Schule besucht und war Opfer von häuslicher Gewalt, mit der Folge von schweren Hörschäden. Trotz seines eindeutig kindlichen Äußeren und obwohl die Gebietskommission in Syrakus sein Einverständnis zur Altersfeststellung erbat, wurde diese Prüfung nie durchgeführt. Mamadou wurde in der Zwischenzeit in einem CAS* für Erwachsene untergebracht und dann in ein Zentrum SPRAR* verlegt, ohne dass irgendein Angestellter jemals Zweifel am wirklichen Alter des Kindes geäußert hätte. Nur eine Person außerhalb der Aufnahmeeinrichtung hat sich dafür interessiert und Zweifel an seiner Volljährigkeit vorgebracht und ihm geholfen, mit Hilfe der senegalesischen Botschaft seine Geburtsurkunde zu besorgen, die belegte, dass Mamadou noch 16 Jahre alt war. Nachdem dies der Staatsanwaltschaft des Jugendgerichts in Catania gemeldet wurde, wurde Mamadou jetzt in ein Jugendzentrum verlegt und wird von einem Vormund und den Sozialdiensten betreut.

 

Fazit und Empfehlungen

Der vorliegende Bericht zeigt, wie alle aufgezeigten Schwierigkeiten die volle Ausübung der Rechte von Minderjährigen und ebenso wie ihre Teilhabe am öffentlichen Leben als Bürger*innen behindern.

In Übereinstimmung mit zahlreichen Studien und Kontrollen der letzten Jahre zeigt der Bericht, wie derzeit ein Aufnahmesystem fortbesteht, das Rechte, Bedürfnisse und Perspektiven der UMF vernachlässigt, die ihre Heimatländer verlassen, um vor den ökonomischen, sozialen und kulturellen Entbehrungen zu fliehen und die, einmal in Italien, das Risiko eingehen, auf ähnliche Missstände zu stoßen.

Aus diesem Grund fordert Borderline Sicilia von den zuständigen Behörden:

  • die bei den öffentlichen Verwaltungen bestehenden Verfahren in Übereinstimmung mit den Richtlinien des Gesetzes Zampa zu aktualisieren, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der Pflegefamilien, und die Ausübung der Aufgaben der freiwilligen Vormünder durch die Bereitstellung von Fortbildungsmaßnahmen zu erleichtern;
  • den Einsatz der administrativen Weiterführungsmaßnahmen in all jenen Fällen, in denen die Minderjährigen nach dem 16. Lebensjahr in die Schule oder in die Arbeitswelt eingegliedert wurden;
  • eine zentrale Koordinierungsstelle für das Aufnahmesystem der UMF, die die institutionellen Zuständigkeiten vereinheitlicht, unter Berücksichtigung aller Arten von Aufnahmezentren, und die Stärkung der Funktionen der Kinder- und Jugendanwaltschaft, der die Kontrolle der Aufnahme- und der Schutzmaßnahmen im Interesse der Minderjährigen übertragen werden sollte;
  • die Eröffnung von Aufnahmezentren an dem Ort, an dem die wesentlichen Dienste für UMF in Anspruch genommen werden, um den Aufbau von integrierten Bildungswegen und von Berufseingliederung zu erleichtern, die notwendig sind, um die Minderjährigen in die Eigenständigkeit zu führen;
  • die Stärkung des Personals der Sozialdienste bei den lokalen Behörden je nach Zahl der UMF, die im Gemeindegebiet aufgenommen werden können;
  • die Verabschiedung von Präventionsmaßnahmen zur Sensibilisierung junger Menschen gegen alle Formen von Rassismus und Diskriminierung sowie die Schaffung lokaler Beobachtungsstellen, um die Wirksamkeit des Zugangs der UMF sowie der Jugendlichen, die gerade volljährig geworden sind, zu wesentlichen Dienstleistungen und Grundrechten (Wohnung, Arbeit, Schule, Gesundheitsversorgung) zu überprüfen.

 

Die Prüfung der im Bericht angegebenen Probleme des Schutzsystems für UMF macht klar, wie der Abbruch der geschützten Wege eine direkte Konsequenz der strukturellen Mängel des Aufnahme- und Schutzsystems ist. Der Fall in den Kreislauf von Straftaten, Arbeits- und Sexausbeutung stellt oft das tragische Ende dar, gleichzeitig mit dem Ende der Hoffnungen des Jugendlichen, die ihn dazu gebracht hatten, sich auf den Migrationsweg zu machen.

 

21. September 2020

Borderline Sicilia

 

Den vollständigen Bericht herunterladen (Italienisch)

Zusammenfassung herunterladen (Italienisch)

[1] Siehe den Bericht Siciliani brava gente. Rapporto sulle violenze e le discriminazioni nell’isola

 

*CPIA: Centri Provinciali di Istruzione per gli Adulti – Erwachsenenbildungszentren

*CAS: Centro di accoglienza straordinaria – Außerordentliches Aufnahmezentrum

*SPRAR: Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo – Schutzsystem für Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3.000 – 3.500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Geflüchtete dienen.

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Jutta Wohllaib