Tausende von neuen Ankünften an den Küsten Siziliens. Ein System, das weiterhin Tote und Diskriminierung produziert
Mehr als 2800 Migrant*innen sind seit Anfang dieser Woche gerettet worden und viele weitere sind in Ankunft. Verzweifelte Fluchten aus Libyen, die für viele schon wenige Meilen vor der Küste enden, von der aus sie aufgebrochen sind; wie für mindestens 600 Migrant*innen, die von der libyschen Küstenwache gestoppt und in die Hölle zurückgebracht wurden, aus der es ihnen gelungen war zu entkommen. Unterdessen wird die Desinformation durch italienische und europäische Medien auf gnadenlose Weise fortgesetzt. Mittlerweile rechtfertigen sie den Anstieg der Aufbrüche mit den günstigen Wetterbedingungen oder der Schließung der Balkanroute und kehren die Ankünfte aus Ägypten, die nicht so leicht zu begründen sind, unter den Teppich. Die politischen Manöver und die Instabilität in den Herkunftsländern bleiben nur ein Widerhall aus der Ferne und ohne Nachklang in Italien, während die Migrant*innen weiterhin sterben, auch an der ägyptischen Küste.
Porto di Augusta
Foto di Lucia Borghi
Unkenntnis und Gleichgültigkeit gehen Hand in Hand und halten den unmenschlichen Mechanismus dieses Systems am Leben, das man immer noch als „Aufnahme“ bezeichnet. Für viele ist es sehr bequem, das zu glauben. Nur den Körpern der Migrant*innen gelingt es, diese scheinheilige Rhetorik zu demaskieren. Sie schreien die ganze Gewalttätigkeit, deren man sich nicht bewusst werden will, ins Gesicht. Diese Gewalttätigkeit wird von Dynamiken produziert, die uns direkt betreffen und die wir nicht vertiefen möchten. Der Blick der italienischen Medien beschränkt sich auf die Landeplätze und die Anlandung werden zu Meldungen in den täglichen Nachrichten. Die Ankunft der Siem Pilot mit 730 Migrant*innen an Bord in Pozzallo vergangenen Dienstag wurde als ein Ereignis abserviert, das mit Effizienz durchgeführt wurde, ohne bei den Dynamiken zu verweilen, die der Ankunft vorangegangen waren und nachfolgen und möglicherweise höchst besorgniserregende Praktiken entfesseln. An Bord des norwegischen Schiffes hat das Personal von Frontex nämlich schon die ersten Untersuchungen durchgeführt, mit ausgeklügelten Mitteln der Informations- und Satellitentechnik. Man weiß allerdings nicht, mit welchen Schutzmaßnahmen, und vor allem geschah dies ungeachtet des Zustands der extremen Schutzbedürftigkeit der Migrant*innen, die gerade aus dem Meer gezogen wurden. Endlich an Land, ging die Zählung der „mutmaßlichen Schlepper“ mit der Verhaftung von sechs Personen weiter, darunter drei noch Minderjährige, auch wenn laut Zeugenaussagen eine „erzwungene Anwerbung“ derer, die verhaftet wurden, erfolgt sein mag. Dies ist ein weiterer absurder Mechanismus der Festung Europa, die Migrant*innen zwingt, sich „Schleppern“ anzuvertrauen, um sie dann zu kriminalisieren. Die sukzessive Verlegung von 550 der neu Angekommenen nach Messina und Mineo hebt zudem auch die Sinnlosigkeit und die Grenzen der Herangehensweise Hotspot hervor. Es ist unmöglich, eine so hohe Anzahl an Personen dort durchzuschleusen. Ebenso finden sich auch die Migrant*innen, die für die „relocation“* bestimmt sind, immer häufiger in CAS* wieder, da das HUB* in der Villa Sikania und die wenigen anderen in Italien voll belegt sind. Aber das alles bleibt verborgen oder wird benutzt, um die Notstandsmaßnahmen zu rechtfertigen, die Italien dauernd braucht, um Kontrollen zu umgehen und mit Ausnahmen vom Gesetz zu handeln. Unterdessen wird weiterhin gestorben, vor, während und nach der Reise übers Meer und die Menschen werden als Nummer oder Körper ohne Stimme betrachtet. Körper, die zu fleischgewordene Zeugenaussagen dessen werden, was die europäische Flüchtlingspolitik produziert. Wie jene 796 Migrant*innen, die am 30. März im Hafen von Augusta angekommen sind, an Bord des italienischen Marineschiffes Aliseo. Der elende Zustand derer, die gestern angekommen sind, haben verursacht, dass sich die Anlandung um gut vier Stunden verzögerte, um den vorgesehenen medizinischen Untersuchungen Zeit zu lassen, besonders bei einem Migranten, bei dem im Nachhinein ein Magengeschwür diagnostiziert wurde. Aber noch viele andere konnten sich nicht mehr auf den Beinen halten, sie waren, jetzt an Land, sichtbar ausgelaugt. Im auferlegten langsamen Übergang in Gruppen vom Landungssteg zur Zeltstadt haben sich einige bei jedem kleinen Vorrücken direkt auf dem Asphalt ausgestreckt, anstatt sitzen zu bleiben, bis sie in der Voridentifikationsprozedur an der Reihe waren. Im Nachhinein haben wir erfahren, dass ein anderer Geflüchteter, der sich schon während der Überfahrt in einem ernsthaften gesundheitlichen Zustand befand, nachdem er eilig ins Krankenhaus gebracht worden war, in der Nacht gestorben ist. Ein weiteres stilles Opfer, wie so viele, die Tage oder Monate nach der Ankunft von uns gehen, die Invaliden bleiben oder seelisch aufgeben, völlig unbemerkt. Während unserer letzten Besuche in den sizilianischen Zentren sind die Fälle von Unwohlsein und die Notwendigkeit psychologischer Unterstützung immer zahlreicher geworden. Die Fälle wurden uns direkt von den Betreibern angezeigt und werden auch von letzten Berichten der Mediziner bestätigt, die damit beauftragt sind, Unterstützung anzubieten. Fast die Hälfte der Migrant*innen, die in Augusta angelandet sind, stammen aus Somalia, während andere überwiegend aus den Ländern südlich der Sahara kommen: Alle haben unmenschliche Lebensbedingungen kennengelernt, zumindest in Libyen und für jeden von ihnen fragt man sich, wie dessen Zukunft aussehen könnte. In einem Europa, das versucht, die Bewegungen derer, die überleben wollen, zu kontrollieren und die Migrationspläne derer zu verwalten, die dabei zum lebenden Zeugnis bösartiger Politiken werden. Sie sprechen mit ihren eigenen Körpern, weil sie noch immer keine Stimme haben.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia Onlus
*„relocation“ – Verlegung innerhalb Europas
*CAS – Centro di accoglienza straordinaria, außerordentliches Aufnahmezentrum
*HUB – aus dem Englischen von „Sammelpunkt“, so heißen die neuen Verteilzentren für Asylsuchende
Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber