Schiffslandungen und Mazurka
Den ersten Eindruck den ich hatte, war der einer zweigeteilten Insel.
Flüchtlinge, Touristen und die Bewohner Lampedusas treffen sich wahrscheinlich nur an vier Orten: im Hafen im Augenblick der Ankunft, an der Mole von Cala Pisana, wenn sie für das Verbringen auf’s Festland eingeschifft werden, im Flughafen oder in der Poliklinik. Für den Rest des Alltags spielt sich das Leben der Urlauber und Ortsansässigen in absolut unterschiedlichen und parallelen Bahnen zu den Ereignissen, die die Umschiffung und den Aufenthalt der Flüchtlinge in den beiden Lagern betreffen, ab.
In der Zwischenzeit jedoch wimmeln die Straßen, Plätze, Bars, Geschäfte und die Strände von Ordnungskräften: Polizei, Carabinieri, Militär, Guardia di Finanzan (Zoll), Küstenwache und so weiter… Mannschaftswagen, Transporter, Dienstwagen sind überall geparkt und patrouillieren beständig die Straßen der Insel und die Kreuzungen des Dorfes, die Helikopter durchpflügen wiederholt den Himmel, um Bewegungen zu kontrollieren, das Territorium zu überwachen und die Rettungsdienste auf See zu vorauszugehen…meine Wahrnehmung von Lampedusa beginnt sich in unauslöschlicher Weise dem Dröhnen der Motoren und Flugzeuge anzugleichen… eine Geräuschkulisse, die ständig das Leben der Insel begleitet, egal was man macht…
Am Ende der Schicht gehen sie alle zum Meer, auf der Hauptsraße spazieren, sitzen in den Straßencafès, vielleicht mit der Familie oder den Freundinnen, oder beiben unter sich… mischen sich mit den Menschen aus Lampedusa und den Touristen die baden, die in die Diskothek gehen und die Mazurka auf der Piazza tanzen… Im Grunde beleben auch die verschiedenen Ordnungskräfte die Inselwirtschaft, und auch wenn es sehr wahrscheinlich spezifische Verträge gibt, die die täglichen Einkünfte der Hoteliers schmälern, ist es dennoch immer noch wahr, dass jene vor, während und nach der Hauptsaison auf der Insel logieren und dadurch andauernd Geld ausgeben und Zimmer mieten.
Lampedusa scheint mir immer mehr ein Soziales Laboratorium zu sein; eine Insel der Exzesse, in der Ortsansässige, ein paar Touristen, eine große Anzahl von Ordnungskräften abwechselnd in Uniform oder Urlaubsdress, mischen mit einem Mosaik von Angestellten der Verbände, die im Stadtzentrum arbeiten, Journalisten, Filmemacher und aufmerksamen und und neugierigen Reisenden auf der Suche nach Informationen, begierig darauf, eventuelle Flüchtlingsbewegung zu “sichten”… Der Eindruck ist, dass alle alles wissen wollen, alle zuhören, alle auf das aufpassen was gesagt wird, und dass Viele mit stillschweigenden Wissen beobachten. Träger entgegengesetzter Rollen, Schauspieler ohne ethische Werte im Spiel der unterschiedlichen Seiten, eingefangen in einer anscheinend touristischen Atmosphäre., in der es scheint, dass niemand dem anderen wirklich traut. Es scheint, als ob man in einem Konzentrat der Welt leben würde, in dem die klassischen Dynamiken der Gesellschaft gefiltert wurden und dann auf dem Vergrößerungsglas eines Mikroskops sichtbar gemacht werden. Der erste erschütternde Eindruck ist, dass man sagen würde, in Lampedusa exitstieren die Flüchtlinge gar nicht!
Lager und Umgebung.
Die zweite und noch beunruhigendere Feststellung ist, dass wenn du nicht im Besitz der Zutrittserlaubis für die Aufnahmelager bist und nicht direkt mit den Flüchtlingen während ihrer Ein- und Ausschiffung arbeitest, von dem was in Flüchtlingsangelegenheiten auf der Insel passiert, weniger als in den Zeitungen oder als deine Freunde und Verwandten erfährst, die die Fernsehnachrichten schauen und dir Unterstützungs SMS schicken…
In der Tat ist es möglich in Lampedusa zu sein und sich in einer betäubenden Informationswatte zu verlieren.
In Lampedusa gibt es zwei Flüchtlingslager, das sogenannte CSPA (Zentrum der Ersten Hilfe und Aufnahme) in der Contrada Imbriacola, in das die Familien und jungen Erwachsenen gebracht werden, getrennt mit einem Gitter; und die ehemalige Militärbasis Loran, in der hauptsächlich alleinstehende Minderjährige untergebracht sind, und die sich an einem der abgelegensten Orte der Insel befinden. Im Lager arbeiten viele Vereine, NGOs und zwischenstaatliche Behörden.
Besonders das Rote Kreuz, UNHCR, IOM (Internationale Organisation für Migration) und Save the Children sind Teil des sogenannten Projekts Praesidium, das durch das Innenministerium finanziert wird, also durch den selben Träger, der die Richtlinien der italienischen Politik bezüglich der Flüchtlingsthematik vorgibt.
Daneben gibt es eine Reihe von Vereinen und NGOs, die eine Zutrittserlaubnis haben um andere nicht vom Ministerium finanzierte Projekte, vorausgesetzt dass sie sich mit Menschenrechten beschäftigen, zu entwickeln.
Es wäre unnötig und oberflächlich, alle über einen Kamm zu scheren… das Beziehungsgeflecht zwischen den NGOs und zwischenstaatlichen Organisationen ist äußerst komplex, die gegenseitigen Sympathien und “politischen Zugehörigkeitsgrupierungen” scheinen durcheinander und austauschbar….im Vergleich zu denjenigen, die auf nationaler Ebene kollaborieren, die politischen Positionen sind voneinander abweichend, sowie die Bedeutung die der eigenen Interventionsaktion innerhalb des Lagers.
Es finden sich dort also Personen, die täglich versuchen,die Rechte auszuweiten und solche, die zum ausführenden Organ der nationalen, politischen Direktiven werden.
Bleibt festzuhalten, dass das allgemeine Bild ,das ich in diesen Tagen rekonstruieren konnte, geprägt war von einem strukturellen Mangel an Koordination und Kooperation, einer Unfähigkeit oder Unmöglichkeit einer gemeinsamen Denunzierung der Zustände im Lager, der ethnischen und generationsübergreifenden Diskriminierung während der Aufenthaltszeit und der Illegitimität der “Verhaftung” der Flüchtlinge. Das alles geht fundamental zu Lasten Flüchtlinge selbst. Die Führung der Lager ist vollständig in den Händen der betreibenden Behörde, der Lampedusa Accoglienza, die eine ungewöhnliche und wenig transparente Machtfülle geniesst.
Gegen den gesetzlichen Vertreter des Konsortiums der Sozialen Kooperativen “Sisifo”, von dem die Kooperative (Lampedusa Accolgienza) ein Teil ist, einem gewissen Cono Galipò, ist vor kurzem wegen schweren und wiedeholten Betrugs zu Staatslasten ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Mittels unzulässiger Gelderschleichungen durch die Verzögerung der Erteilung der Aufenthaltserlaubnisse nach der Anerkennung hat er somit die vom Ministerium vorgeschriebenen Beiträge – insgesamt 670.000 Euro zuzüglich Mehrwertsteuer – zugunsten des Konsortiums, in seine eigene Tasche gewirtschaftet.
Es ist schwierig, die lange Serie von Widersprüchlichkeiten, in die diese Kooperative verwickelt ist, aufzuzählen. Es ist trotzdem wichtig zu unterstreichen, dass die Aktivität der Kooperative als absolut niedrig erscheint, was die Qualität der Serviceleistungen sowohl für die “Gäste” der Lager, als auch für die eigenen Arbeiter anbelangt. Es geht wie immer darum, das Maximale dabei herauszuholen.
Es tritt dabei ein unhaltbares Bild der Führung der Lager zum Vorschein, gekennzeichnet durch Dreck, Langeweile und Verwahrlosung, Vernachlässigung und Unhöflichkeit des Personals, Ungenauigkeit der medizinischen Behandlung, Unsauberkeit des Areals und allgemeine Disorganisation. Darüberhinaus hat mir ein Angestellter erzählt, dass er seit Jahren einen dreimonatigen Arbeitsvertrag, der immer wieder von Saison zu Saison verlängert wird, hat; die Lohntüte variert monatlich stark, je nach den gearbeiteten Stunden und somit nach der Anzahl der Flüchtlingen, die im Lager anwesend sind…jedenfalls konstituiert die Tatsache, dass die Kooperative eine Quelle von Beschäftigung und Gehalt für viele Lampedusaner ist, einen äußerst delikaten Faktor, den es in der Bewertung der Dynamiken von Akzeptanz und Rechtfertigund der Präsens der Lager auf lokalem Territorium zu berücksichtigen und vertiefen gilt.
Für weitere Informationen ist hier Bericht, Artikel und Untersuchung über Lampedusa Accoglienza:
http://arcinumeroverderifugiati.blogspot.com/2011/08/nuovo-report-delloperatrici-arci-da.html
http://antoniomazzeoblog.blogspot.com/2011/07/rifugiati-dimenticanza-illegittima.html
http://www.controinformazione.org/2011/08/segregazione-lampedusa-lo-scandalo-%E2%80%9Caccoglienza%E2%80%9D/
Anna Garrappa, BSA
aus dem Italienischen von Alessandro Pastore