Neues über die Zentren
Ich habe keine Möglichkeit, die Zentren zu besuchen, so sammle ich Meinungen und „satellitenhaft“ Eindrücke. Das Neueste ist: Die MigrantInnen sind nicht in Lampedusa. Oder besser: Sie sind da und es sind sehr viele, aber in einer „Parallelwelt“ von Lampedusa, die nicht einmal im Entferntesten die touristische Insel berührt. Fast 800 Menschen schwirren in den beiden Zentren herum, vor allem Familien und Minderjährige, die nicht untergebracht werden können. Aber bei den letzten nächtlichen Landungen sind weitere 2.000 Menschen dazugekommen. Es scheint, dass die Überführungen eher rasch von statten gehen werden: Eine Gruppe von Männern sollte Montag Früh mit dem Schiff Moby wegfahren. Verantwortliche des Zivilschutzes sind sehr beunruhigt wegen der Auswirkung, die es auf die Minderjährigen haben könnte, die schon seit sehr langer Zeit auf eine Verlegung warten und erschöpft und empört sind. Denn es könnte zu Reaktionen der Minderjährigen kommen, wenn sie sehen, dass die zuletzt Angekommenen sofort und in großer Anzahl an einen anderen Ort gebracht werden. Wie auch immer, man hört von einer Unterkunft für viele Minderjährige in Piana degli Albanesi [bei Palermo, Anm.d.Übers.]. Die Mittelspersonen des „ARCI“ (associazione di promozione sociale, Vereinigung zur Förderung des sozialen Engagements) sagen, dass in den Zentren Chaos herrsche, dass es wegen der Überfüllung schwer sei zu arbeiten. Abgesehen von neu Ankommenden ist das Leben im Zentrum von Langeweile, Hitze, Fliegen und vor allem undurchsichtige und drückende Ungewissheit, was die Zukunft betrifft, geprägt. Sie haben keine Ahnung, wann sie an einen anderen Ort gebracht werden, sie wissen nicht, wohin sie gebracht werden und mit wem, was mit ihnen geschehen wird und welche Rechte sie haben werden. Es sind so viele. Und sie können das Zentrum nicht verlassen. Es gibt einen einzigen Ball. Es gibt keine einzige Möglichkeit, die Freizeit zu gestalten. Nicht aus Unwissenheit der Angestellten dort, sondern aus Mangel an Personal. Wirklich sehr wenige Menschen haben tatsächlich Zugang zum Zentrum. Lampedusa und die Intoleranz gegenüber der PresseWir kehren wieder in den Alltag Lampedusas zurück: Der Besuch Berlusconis ist geplatzt. Aber man hört Stimmen, die sagen: „Wozu hätte er denn überhaupt kommen sollen?“ Da ist weitverbreitete Skepsis jeglicher Hilfe für die Insel gegenüber. Was die Menschen von Lampedusa wollen, sind vor allem billigere Transporte und eine bessere Information. Sie sind wirklich empört und wütend auf die JournalistInnen wegen deren schlechten Dienstes an der Insel. Die Einheimischen sagen, sie seien zu allen gastfreundlich, zu allen, außer den JournalistInnen. Es scheint sogar, dass ein Angestellter der Presse heute von Inselbewohnern ins Wasser geworfen wurde. Ich, die ich immer mit Block und Laptop unterwegs bin, muss immer wieder klarstellen, dass ich keine Journalistin bin. Wer es mit MigrantInnen zu tun bekommt … Ich muss vorausschicken, dass mich die Rechte aller interessieren, nicht nur der MigrantInnen. Der Mechanismus des institutionalisierten Rassismus‘ bringt es mit sich, dass, wer auch immer mit den MigrantInnen etwas zu tun hat, zum Teil das Schicksal der Ausgrenzung mit ihnen teilt: egal ob es sich um BetreuerInnen, Sicherheitskräfte oder Bürger handelt. Die Vernachlässigung der Bevölkerung von Lampedusa ist eklatant. Aber ich möchte auch von der Vernachlässigung der Sicherheitskräfte sprechen. PolizistInnen, ZollwachbeamtInnen und SoldatInnen, die sich bei den Kontrollpunkten in der Nähe des Zentrums abwechseln, sind nicht einmal mit einem Sonnenschirm ausgestattet. Sie sitzen auf einem Stein und machen sich durch die offene Kofferraumtüre Schatten. Währenddessen überwachen andere die Küste in acht-Stunden-Turnussen unter der Julisonne in instabilen Zelten. Ich habe mit einigen Soldaten gesprochen, die dort Wache stehen. Ich habe sie gefragt, was sie zur Immigration und dem, was gerade geschieht, denken, und einer sagte: „Die Welt gehört allen. Jeder Mensch hat das Recht, sich frei zu bewegen.“ Der andere fügte hinzu: Hast du gesehen, in welchem Zustand sie sich auf den Weg machen, mit welchen Booten sie übers Meer fahren? Das bedeutet, dass sie sehr ernsthafte Gründe haben, um ihre Heimat zu verlassen.“ Sie meinten weiter, dass momentan die Situation sehr ruhig sei, die MigrantInnen haben keine Notsituation erlebt. Sie betonten, dass die MigrantInnen das Recht haben, bessere Lebensbedingungen zu suchen und sich doch recht gut benehmen. Wer weiß, ob diese Verteidiger von Grenze und Nation spüren, dass ihre Aufgabe sich mit der so natürlich beteuerten Idee, die Welt gehöre allen, beißt.Die Pfarrei und die Caritas-ProjekteIch bin auch einer Gruppe der Caritas begegnet, es waren CaritasvertreterInnen aus ganz Italien. Sie machen gerade eine Fortbildung von einigen Tagen in Lampedusa und planen, mit den Pfarrangehörigen auf der Insel ein Zentrum der Caritas zu eröffnen. Ein Veteran der Caritas aus Lodi vertraut mir an, dass sie ein wenig aus dem Konzept geworfen und fast verstimmt waren, weil diese Menschen aus Lampedusa ohne jegliche Ausbildung improvisierend in der Notsituation besser gehandelt haben, als es ihr ausgebildetes Personal mit jahrelanger Erfahrung geschafft hätte. Am Abend des 9. Juli haben sie ein öffentliches Treffen über die Arten der Ausbeutung, die die MigrantInnen erleiden, wenn sie einmal Lampedusa hinter sich gebracht haben, organisiert. Menschen, die aus Castelvolturno, aus Apulien kamen, und eine junge Schwester, die in einem Schutzhaus für Opfer von Menschenhandel arbeitet, sprachen darüber. Nach der Konferenz habe ich mit Pfarrangehörigen diskutiert. Sie erzählten mir, wie dramatisch, intensiv und im Grunde schön der Moment der Notsituation war. Sie haben sich dadurch als Gemeinschaft erlebt, Spaltungen innerhalb der Pfarrgemeinde wurden beseitigt – einmal nicht gegen einen gemeinsamen Feind, sondern dank eines gemeinsamen „Bruders“, einer gemeinsamen „Schwester“. Sie haben bemerkt, dass sie Organisationstalent haben, das sie sonst nie an sich entdeckt hätten. Sie erzählen, wie sie ihre Schränke geleert haben, um Ausstattung für die TunesierInnen zu haben. Sie erzählen von der Verwaltung der Duschen, von tiefen Freundschaften mit vielen MigrantInnen auf der Durchreise.Der Scoop: Maraventano durchbricht im Geheimen die Ethik der Lega Nord.Ein Pfarrangehöriger erzählte mir, dass er eine Art Pension in seinem Garten organisiert hat: Er hat die Hütte mit Kissen und Decken für tunesische Jugendliche, die dort schliefen, bestückt. Scherzend nannten sie es ihr Fünf-Sterne-Hotel. Jeden Morgen fand er die Tunesier schon mit Nahrungsmittel für Frühstück und Mittagessen ausgestattet. Auch die Tunesier wussten nicht, von wem sie die Nahrungsmittel erhalten hatten, sie fanden es immer vor, wenn sie aufwachten. Neugierig geworden, wer der geheime Wohltäter wohl sein mag, legte er sich auf die Lauer. Es war seine Schwägerin: Frau Maraventano, Mitglied der Lega Nord auf Lampedusa, hinterließ Kekse, Orangen und Brote für die Tunesier. Auch der Priester bestätigte, dass die Senatorin Maraventano an einem Tag, als einige minderjährige Tunesier angekommen waren, mitten in der Nacht aufgestanden ist, um ihnen eine Bleibe zu bereiten. Der Priester habe ihr gesagt, dass ihr mütterliches Herz über das Herz der Lega Nord-Politikerin gesiegt habe. Aber es scheint, sie habe es als Untreue der Ethik der Lega Nord gegenüber erlebt.
Clelia Bartoli (aus dem Italienischen von Susanna Flieglmüller)