Mit wenig Verstand
Unser Notstands Aufnahmesystem sieht verschiedene Unterkünfte vor, manche mehr andere weniger komfortabel, in denen die Migranten, potenzielle Asylantragsteller, welche über das Meer nach Italien kommen, für einen kürzeren oder längeren Zeitraum aufgenommen werden können. Im letzten Jahr hat die Zahl der unbegleiteten Minderjährigen Migranten sehr stark zugenommen. Das Aufnahmesystem konnte sich jedoch nicht entsprechend an die Bedürfnisse anpassen und verursachte dadurch schlimme Unannehmlichkeiten unter den Minderjährigen, welche laut italienischem Recht immer und in jedem Fall geschützt werden müssten.
Das ist allerdings an vielen Orten der „nicht Aufnahme“, in denen Minderjährige mit Erwachsenen „vermischt“ untergebracht sind, nicht der Fall. In diesen ungeeigneten Strukturen werden Jugendliche, über kürzer oder länger (im Schnitt vier Monate), sich selbst überlassen und man sorgt sich dort weder um ihre psychischen noch um ihre physischen Bedürfnisse. Der letzte von uns überprüfte Fall ist leider sehr ernst, er überschreitet die Grenzen der legalen Praktiken, doch erweist er sich bei uns erweist als „normal“. Die Präfektur von Palermo hat im September 2013 hundert Personen, darunter zehn unbegleitete Minderjährige im außerordentlichen Aufnahmezentrum „San Giorgio“, in der Ortschaft Piana degli Albanesi, geleitet von der Genossenschaft La Fenice, untergebracht. Die zehn Minderjährigen mussten sich Ermittlungen unterziehen, bei denen ihr effektives Alter nachgeprüft wurde. Nachdem festgestellt wurde, dass sie tatsächlich noch nicht volljährig sind, hat niemand für ihre Verlegung in ein Zentrum für unbegleitete Minderjährige gesorgt. Nur bei einem der Betroffenen hat sich durch die Überprüfung herausgestellt, dass er bereits volljährig ist. Daraufhin hat sich dieser von zu Hause Dokumente schicken lassen, die wiederum seine Minderjährigkeit belegen und er hat dies auch den Mitarbeitern mitgeteilt. „Es ist zu spät“, haben diese ihm geantwortet. Der Junge musste das normale Verfahren für Erwachsene durchlaufen, vor die Kommission treten und seine Dokumente vorzeigen, damit ihm dann gesagt werden konnte: „Du musst das Verfahren für Minderjährige wiederholen.“
Es wäre zu leicht mit dem Finger auf die Einrichtungsleitung zu zeigen und diese allein verantwortlich zu machen, trotzdem ist es passend einige Überlegungen anzustellen: Die Präfektur hat Minderjährige in ein Zentrum für Erwachsene geschickt und sie bis heute in diesem Zentrum für Erwachsene belassen. Erschwerend kommt noch hinzu, dass es in der Gemeinde Piana degi Albanesi keine Sozialbetreuer gibt und deshalb der Bürgermeister zum Vormund der Minderjährigen ernannt wurde. Dieser hielt es jedoch für angemessener, sich nicht um die Minderjährigen zu kümmern. Er wiederrief seine Nominierung im August 2014, da hatten acht der zehn Jugendlichen bereits ihre Volljährigkeit erreicht.
In der Zwischenzeit hat niemand eingegriffen, auch nicht die Mitarbeiter von Save the Children, deren Mandat es sein müsste, die Korrektheit der Geschehnisse zu Überwachen. Aber auf Grund ihrer enormen Arbeitsbelastung zwischen Ankünften und bürokratischen Problemen, konnten sie ihrem Auftrag nicht nachkommen. Das Resultat: nach einem Jahr in Piana degli Albanesi haben acht Jungen mittlerweile ihr achtzehntes Lebensjahr vollendet. Ansonsten aber haben sie nichts gemacht, sie sind keiner Beschäftigung nachgegangen, haben keine Integrationsmaßnahme genossen, sie haben kein Taschengeld erhalten (die Leitung der Einrichtung hat ihnen Taschengeld „geschenkt“) und jetzt wo sie volljährig sind müssen sie den bürokratischen Weg neu beginnen.
Sie haben dem Tod ins Auge geblickt, um dann ein Lebensjahr zu vergeuden!
Diese Horrorszenarien verdanken wir dem Managment der Migrationspolitik. Wenn die Kleinsten keine Beachtung finden, alleingelassen und pflegebedürftig, passiert genau das.
Jetzt ist es notwendig die Aufmerksamkeit den beiden noch verbliebenen Minderjährigen zu widmen. Damit sie nicht vergessen werden, haben wir ihren Fall Save the Children gemeldet. Der Jüngere der beiden ist 17 und könnte noch ein Jahr auf standby bleiben, was weitere psychologische Schäden zur Folge haben könnte. Dabei muss man bereits jetzt kein Experte sein, um nach einer ersten Begegnung psychologische Probleme zu bemerken.
Aber die Geschichte des San Giorgio ist nicht die einzige. In ganz Sizilien sind viele Übergangsstrukturen zur Unterbringung von unbegleiteten Minderjährigen entstanden. Sie wurden zum neuen Gold für viele Betreiber, die an diesem Business interessiert sind. Wir haben festgestellt, dass die meisten dieser neuen Zentren nicht funktionieren, weil bereits die Grundfesten des Systems verdorben sind: die Minderjährigen werden als Geldquelle gesehen, deshalb gibt es auch keine Ausbildungs- und Integrationsprojekte.
Auf diese Art und Weise werden die Minderjährigen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres zwischen Übergangsstrukturen, außerordentlichen Aufnahme-Zentren und Zentren für Minderjährige hin und her verschoben, um dann in einem Aufnahme-Zentrum für Asylantragsteller zu enden. So auch im Fall der vielen gerade volljährig Gewordenen im Aufnahme-Zentrum für Asylantragsteller von Salinagrande. Ein Jahr lang irrten sie in verschiedenen Zentren umher, keine Leitung hat sich um ihre juristische Situation gekümmert. Jetzt müssen sie einen gefährlichen und stressigen Weg, der viele körperlich und psychisch zerstört, von neuem beginnen.
Bei unserer Tour durch Piana degli Albanesi haben wir von einem weiteren Fall erfahren, für den sich Italien schämen müsste: Herr Kamal, ursprünglich aus Bangladesh, kam vor ungefähr sechs Monaten nach Agrigento, in die Villa Sikania. Dort blieb er für zwei Monate, in denen er immer wieder über Handschmerzen klagte. Keiner hat den wohlerzogenen und schüchternen Nachfragen von Kamal Aufmerksamkeit geschenkt bis er stechende Schmerzen bekam und letztendlich ins Krankenhaus von Agrigento gebracht wurde. Auf Grund der Ernsthaftigkeit des Falles war es den Ärzten in Agrigento unmöglich Kamal zu behandeln. Er wurde ins Krankenhaus Palermo verlegt, wo eine Notoperation vorgenommen wurde, bei der seine Hand amputieret werden musste.
Vor ungefähr zehn Tagen wurde Kamal entlassen und ins Zentrum von Piana degli Albanesi gebracht, wohin auch seine Freunde in der Zwischenzeit verlegt wurden. Er erhält dort keine psychologische Unterstützung, die medizinische Versorgung ist unangemessen (bei der Entlassung wurde ihm gesagt, dass der Stumpf jeden zweiten Tag aufmerksam versorgt werden muss) und man beginnt, die für das Dorf typische Kälte in Piana degli Albanesi zu spüren. Auch diesen Fall haben wir bei der Organisation Praesidium angezeigt, in der Hoffnung, dass Kamal damit gerecht versorgt werden würde.
Eine weitere Besonderheit in Piana degli Albanesi: das Zentrum Sklizza, geleitet von der Stiftung San Demetrio, beherbergt sowohl ein außerordentliches Aufnahme-Zentrum als auch eine Schutzeinrichtung für Asylantragsteller und Flüchtlinge. Die beiden Zentren erfüllen verschiedene Aufgaben und behandeln ihre Bewohner unterschiedlich. Die Bewohner des Sklizza haben jedoch Schwierigkeiten, die unterschiedliche Behandlung zu verstehen.
Zum Schluss haben wir ein seit kurzem geöffnetes Zentrum für unbegleitete Minderjährige besucht. Es wird vom Verband Misericordia auf eine sehr familiäre Art und Weise geführt und den sechs dort untergebrachten Minderjährigen wird sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt. Wir wurden von der Direktorin und der Sozialassistentin im Inneren der ziemlich komfortablen Struktur herumgeführt und es war sichtbar, dass verschiedene Aktivitäten zur Mitarbeit bereits begonnen haben.
Wieso funktioniert dieses Zentrum und andere nicht? Die Region Sizilien hat im vergangen August Maßnahmen zur Festlegung genauer Standards zur Führung solcher Strukturen erlassen. Sie legen Maßstäbe zur Arbeitsweise fest, definieren Aufnahmekapazitäten und strukturelle sowie personelle Voraussetzungen. Wie es jedoch scheint können fragwürdige Praktiken, versteckt hinter dem Deckmantel des Notstandes, mit großen Ermessensfreiheiten weitergeführt werden. Sie begünstigen das Business der Aufnahme in vielen Fällen und strafen dabei immer die Rechte jener Personen ab, die am verletzlichsten sind.
Die Redaktion von Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner