Lampedusa und die “Notfallpolitik”
Don Stefano (Pfarrer auf Lampedusa) scheint klare Vorstellungen von der Beziehung zwischen Institutionen und Bevölkerung sowie deren Verantwortung und Aufgaben zu haben. Mehrmals hat er darauf hingewiesen, dass „der Staat auf Lampedusa immer gegenwärtig gewesen ist, hingegen aber die Regierung als Entscheidungsträger gefehlt hat“. Don Stefano erzählt uns vom beispielhaften Einsatz der Bevölkerung seit Februar, Beginn der Krise der Anlandungen tunesischer Flüchtlinge: man könnte viele Situationen beschreiben, die von Solidarität zeugen. Die gesamte Bevölkerung hat bei der Vorbereitung und Verteilung mitgemacht und alles unternommen, um die Kälte und den Hunger der Menschen zu lindern. „Wir Lampedusaner mussten in kurzer Zeit eine schwere Entscheidung treffen. Wir mussten uns für oder gegen die Flüchtlinge entscheiden. Wir mussten schnell reagieren und damit auch ein großes Risiko eingehen“. Aus dieser akuten Notfallsituation entwickelte sich ein anhaltender Notstand. Die Regierung wartete zunächst ab. Nach einigen Tagen wurden dann Zelte geliefert, um den Notstand erst mal ohne Ende in Sicht aufrechtzuerhalten. Die Insulaner aber haben protestiert. Wie damals, als aus Lampedusa ein CIE (Zentrum zur Identifizierung und Abschiebung) gemacht werden sollte und eine Politik der Zurückweisungen begonnen hatte. Es wäre nicht gerecht, die Anpassungsleistungen an diesen einmaligen Kontext und die Solidarität der Insulaner zu ignorieren. Man sollte also nicht nur an die von der Bevölkerung organisierte Blockade im Hafen zur Vermeidung weiterer Anlandungen von Immigranten denken. Vielmehr sollte man diese Blockade als eine Form des Protests gegen den Staat interpretieren, der sich einen Monat Zeit gelassen hat, um nach einer von Anfang an evidenten Lösung zu suchen. Der Pfarrer fragt sich, warum die Regierung so lange gewartet hat: „Erst nach 60 Tagen hat der Staat seine Stimme erhoben. Es gab keinerlei Verbindung zwischen Lampedusa und Staat“. Und er fügt an: „Sie sind sich wohl nicht bewusst, dass das Image von Lampedusa nicht nur eine lokale Krise repräsentiert, sondern vielmehr das Image von Italien. Wenn Lampedusa untergeht, dann geht auch Italien bzw. Europa unter“. Vielleicht wurde der Notfallzustand sogar bewusst aufrechterhalten? Vielleicht handelt es sich um einen gezielten Plan von Seiten der Regierung mit dem Ziel, mediale Aufmerksamkeit in Italien bzw. in ganz Europa zu erhalten? Es liegt nahe, an eine beabsichtigte und berechnete Aktion auf der Insel zu denken, zum einen im Rahmen der Wahlpolitik der Mitte-Rechts orientierten Parteien, zum anderen um europäische finanzielle Mittel zu mobilisieren. Auf der einen Seite eine Politik, die Nein zu Immigration sagt und auf der anderen Seite ein Wirtschaftssystem, dass Immigration als Schüsselelement für die Wirtschaftsentwicklung betrachtet: Don Stefano weist darauf hin, dass Europa bis zum Jahr 2050 25Millionen Immigranten braucht, um die demographische Abnahme innerhalb Europas zu kompensieren und um stabilen wirtschaftlichen Wachstum zu garantieren. Lampedusa scheint vor allem eine Schaubühne zu sein, auf der ganz gezielt das Bild einer Krise vermittelt werden soll (nicht einmal ein Krankenpfleger vom Roten Kreuz kann uns erklären, warum ein üblicherweise in Kriegsgebieten eingesetzter Ambulanz-Tank im Hafen steht). Obwohl die Aufnahme und nationale Verteilung der Flüchtlinge inzwischen gut funktioniert wird in den nationalen Medien immer noch „Krisenstimmung“ verbreitet. Dies dient sicherlich nicht vor allem zur Vermeidung von weiteren Tragödien im Meer, sondern vielmehr soll damit der Eindruck aufrechterhalten werden, dass Lampedusa von Flüchtlingen überschwemmt wird und immer noch ein Klima der Spannung besteht. Der wahre chronische Notstand in anderen Regionen von Italien, wo die Menschen in verschiedenen Aufnahmestrukturen bis maximal 1 ½ Jahre untergebracht sind oder in improvisierten Baracken oder in verwahrlosten besetzten Häusern leben, wird von Journalisten oder TV hingegen kaum bzw. gar nicht berichtet. Auch die Polizeikräfte intervenieren hier kaum. Dies stützt auch die Annahme, dass Lampedusa eine Art politische Schaubühne darstellt. Darüber hinaus sind diese Themen für die Medien wohl nicht interessant oder brisant genug? Don Stefano weist darauf hin, dass dieser Diskurs auch für die humanitären Organisationen gelten muss, von denen er sich den gleichen Einsatz, Präsenz und Hartnäckigkeit auch in anderen Kontexten wünscht (zudem reisen weniger als 10% über Lampedusa in unser Land ein, der Großteil reist mit einem Tourismus-Visum per Flugzeug ein). Lampedusa ist zum Symbol geworden. Wir fragen uns allerdings, ob die Bevölkerung noch Lust hat, Gegenstand der Kommunikationsstrategien der Regierung und der humanitären Organisationen zu sein. Vielleicht sind die Lampedusaner inzwischen müde und haben es satt, die Ereignisse der letzten 6 Monate und den Notfallzustand immer wieder zu erzählen, denn eigentlich sehen sie doch schon seit ca. 20 Jahren die Flüchtlingsboote in den Hafen von Lampedusa fahren.
Julika Brandi & Giulio Montemauri für das Forum Antirazzista di Palermo