Ich hoffte, in Italien einen Raum zum Leben zu finden

von Giacomo Sferlazzo, Askavusa (Lampedusa) „[…] Ich hoffte, in Italien einen Raum zum Leben zu finden, eine zivilisierte Welt, in der ich aufgenommen werden würde und in Frieden würde leben können, um meinen Traum von einer Zukunft ohne Barrieren und Vorurteile zu verwirklichen. Doch ich bin enttäuscht. Wenn man in diesem Land eine schwarze Hautfarbe hat, schränkt dies das zivilisierte Zusammenleben stark ein. Rassismus gibt es auch hier: er zeigt sich in Gewalttaten, Übergriffen, täglicher Gewalt gegenüber Leuten, die nur um Solidarität und Respekt bitten. Wir aus der sogenannten Dritten Welt tragen zur Entwicklung eures Landes bei, doch dies scheint keinerlei Bedeutung zu haben. Früher oder später wird jemand von uns umgebracht werden und dann wird man unsere Existenz bemerken.“ (Jerry Essan Masslo)
Die Ermordung von Jerry Masslo (24.08.1989) – die unter anderem dafür sorgte, dass das Gesetzesdekret Nr. 416 vom 30. Dezember, das Eilvorschriften zum Stand der Ausländer enthielt und später in des Gesetz Nr. 39/1990 (das Gesetz „Legge Martelli“) umgewandelt wurde, in Rekordzeit verabschiedet wurde – war ein Ereignis, das die Menschen zu Tausenden mobilisierte und eine ernsthafte Debatte über die Rechte von Ausländern in Italien eröffnete; seitdem hat sich einiges verändert, doch in den letzten Jahren hat sich die Situation in Hinblick auf Rassismus und Gewaltgegenüber allem Andersartigen deutlich verschlechtert. Einige emblematische Fälle, die in den Fokus geraten sind, sind das Massaker von Castelvolturno vom 18. September 2008 oder Rosarno im Januar 2010, als einige ausgebeutete und unterbezahlte Migranten mit einer Druckluftwaffe verletzt wurden und nach ihren Protesten „die Jagd auf die Schwarzen“ eröffnet wurde. In jenen Tagen erklärte derdamalige Innenminister Roberto Maroni: „In den letzten Jahren ist die illegale Einwanderung toleriert worden, durch die die Kriminalität zugenommen hat und unhaltbare Zustände entstanden sind“, und sah dabei die Ursache des Problems wie immer bei denjenigen, die seit Jahren ausgebeutet und misshandelt wurden, und nicht in der weit verbreiteten Illegalität in jenem Gebiet und der Abwesenheit des Staatesin einigen Gegenden Italiens. Die Verwaltung der Gemeinde Rosarno wurde 2008 wegenMafia-Infiltrationen aufgelöst; es gibt dort kaum Plätze und Orte, an denen die Bewohner zusammen kommen können. Vorfälle, die mit den Zusammenstößen zwischen einigen Einwohnern Lampedusas und den Migranten im September 2011 in Zusammenhang stehen, auf die ich später noch zu sprechen komme. Vorfälle, die an die jüngsten Ereignissen in Turin und Florenz anknüpfen und an viele weitere Ereignisse. Es scheint, als nähmen derartige Vorfälle zu, mit gleichzeitig unangemessenen Reaktionen der Institutionen, und die Zivilgesellschaft und Antirassismusgruppen müssen oft allein dagegen kämpfen, in grenzwertigen Situationen und bei Fällen wie den oben beschriebenen in schweigsamen Gemeinschaften, die den kriminellen Mächten unterworfen sind.
Kehren wir nach Lampedusa zurück, zu der Insel, auf der wir leben und auf der wir (der Verein Askavusa), im Guten wie im Bösen, an vorderster Front standen, nicht nur bei der Flüchtlingsaufnahme, wenn wir die Möglichkeit dazu hatten, sondern auch im Kampf gegen die Formen von Rassismus, die wir in einem Teil der lokalen Bevölkerung haben entstehen sehen. Ich glaube, Lampedusa ist heute mehr denn je der Puls Italiens; ein aufmerksamer Beobachter kann von hier die Übel und die schönen Seitendes ganzen Stiefels konzentriert auf etwa 25 Quadratkilometer erkennen. Die Einwanderung ist eines der zentralen Themen, das Italien und Europa gezwungenermaßen angehen müssen, und Lampedusa ist einer der Brennpunkte. Das Tor Europas, die Insel, auf der die Madonna di Porto Salvo (des sicheren Hafens) verehrt wird, eine Insel mit einer sehr langen Geschichte, die untrennbar mit dem Mittelmeer verbunden ist, ist heute eben kein „sicherer Hafen“. Wie konnte es dazu kommen?
Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen, denn die Angelegenheit ist kompliziert:Nach zwanzig Jahren, in denen die Migranten nach Lampedusa kamen und dort höchstens einige Tage blieben – was einige als „Modell Lampedusa“ bezeichneten, das jedoch auch in vielerlei Hinsicht hätte verbessert werden müssen – beschließt Innenminister Maroni unter der Regierung Berlusconi im Jahr 2009, Lampedusa in einen Ort der Haft umzuwandeln; als Lösung für das „Immigrationsproblem“ werden die Vereinbarungen mit den Diktatoren Gaddafi und Ben Ali gefeiert, für deren Einhaltung sie mit Millionen von Euro gesorgt haben, und es werden Zurückweisungen angewandt; ein Vorgehen, dasEuropa verurteilt hatte und das diejenigen, die in Lampedusa später die tunesischen Migranten angegriffen haben, freudig begrüßten. Im Jahr 2011 kommt es dann zum größten Wahnsinn, als Tausende junge Tunesier auf den Straßen Lampedusas sich selbst überlassen werden, ohne jegliche Unterstützung. Der Staat zeigte sich nur in repressiven Maßnahmen, ansonsten lastete alles auf den Schultern vieler Einwohner Lampedusas, die bei jener Gelegenheit das außerordentliche innere Vermögen bewiesen, das Seeleute in sich tragen, und mit Großzügigkeit und Liebe gelang es ihnen, eine untragbare Situation durchzustehen, die drei lange Monate andauerte. Auch damals sagten diejenigen, die die Zurückweisungen mit Applaus begrüßt hatten, dass wir alles falsch machten, dass „wer zu gutmütig ist, am Ende der Dumme ist“ und die „Härte“ wieder wachrufen wollten, die Maroni gepredigt hatte, der Wörter wie „Invasion, Exodus“ gebrauchte. Aus den Zahlen, die die IOM (Internationale Organisation für Migration) liefert, geht hervor, dass bis zum 14. September 2011etwa siebzigtausend Migranten über Lampedusa gekommen waren, während Tunesien nach der Revolution und ohne große Panikmache etwa 300.000 aufnahm, Ägypten 220.000, Nigeria 80.000 und Tschad 50.000. Nachdem diese drei Monate überstanden waren, ohne dass es erhebliche Zwischenfälle gegeben hatte und im Gegenteil viele Einwohner der Insel ihre Fähigkeit zu unglaublichen Dingen und einer unermesslichen Solidarität bewiesen hatten, ließ Berlusconi wie mit einem Zauberstreich alle Migranten von der Insel verschwinden. Bei jener Gelegenheit hinderten diejenigen, die die Zurückweisungen begrüßt hatten und Härte forderten, eine Gruppe von Personen gewaltsam und im Beisein der „Sicherheitskräfte“ daran, zu protestieren und dem Ministerpräsidenten, der auf die Insel gekommen war, friedlich ihre Missbilligung zu zeigen. Anschließend wird das Zentrum Imbriacola (in einem Ortsteil Lampedusas) in den Sommermonaten zu einem Lager, viele Minderjährige bleiben unter unmenschlichen Zuständen im anderen Zentrum im westlichen Teil der Insel (im ehemaligen Militärstützpunkt Loran), ohne die Möglichkeit, hinauszugehen oder Besuch zu empfangen. Als wir die Situation anprangerten, wollte uns niemand zuhören, im Gegenteil, es sollte nicht mehr darüber gesprochen werden, Hauptsache, man sah sie nicht mehr auf der Straße, so wie jetzt, wie im September, als einige Tunesier im Zentrum einen Hungerstreik begannen, Selbstverstümmelungen vornahmen undprotestierten – alle wussten davon, aber niemand, niemand tat etwas. Am Tag nach dem Besuch des ehemaligen Minsters La Russa im Zentrum Imbriacola, am 18. September, als dieser erklärt hatte, dass es den illegalen Einwanderern in Lampedusa gut ging, ging es diesen so gut, dass sie zur Feier des Tages einen Block des Zentrums abbrannten.
Die jungen Tunesier gehen auf die Straße und stellen sich in die Nähe einer Tankstelle, in der Nähe stehen vor einem Restaurant zwei Gasflaschen, die Sicherheitskräfte kommen nicht auf die Idee, die Flaschen aus der Reichweite der Migranten zu entfernen. Zwei Tunesier nehmen schnell eine Gasflasche und drohen, sich vor der Tankstelle in die Luft zu sprengen. Eine Gruppe von Lampedusern, die in der Nähe Stellung bezogen hatten, stürzen sich mit Stöcken und Steinen, mit denen sie sich zuvor ausgerüstet hatten, auf die Tunesier – auch das hatte niemand mitbekommen? Zusammen mit den Sicherheitskräften verprügeln sie die Tunesier gehörig. Seitdem ist Lampedusa zum unsicheren Hafen erklärt worden, und viele von denen, die dabei waren, als die schwächsten Glieder der Kette geschlagen wurden, jene Lampeduser, die die Zurückweisungen und die CIE (die Zentren zur Identifikation und Abschiebung) begrüßt hatten, trugen bei der Prozession die Statue der „Madonna di Porto Salvo“ (des sicheren Hafens). Im vergangenen Monat wurden zwei Fahrzeuge des Betreibers des Zentrums angezündet. Nach dem Besuch einer Delegation von Europa-Parlamentariern, die erklärt hatten, Lampedusa müsse wieder eine Insel der Rettung werden, ist im Aufnahmezentrum ein Lagerraum abgebrannt wurden. Ich fordere die Behörden auf, über diese Vorfälle nachzudenken, wenn sie ein Gewissen haben; zur Lösung der Probleme hat sich eine Methode durchgesetzt, die sich auf Gewalt gründet, die nicht bestraft und nicht verurteilt wird, sondern im Gegenteil belohnt wird. Wäre Lampedusa von den Institutionen aller Ebenen mehr Respekt entgegengebracht worden, wäre die Bevölkerung vor Ort geschützt worden und deren Rechte und Pflichten respektiert worden, wäre der Dialog als Methode etabliert worden, anstatt die Entscheidungen der Regierung als Kraftakte durchzusetzen, was dann von einigen Lampedusern als Verhaltensmodell übernommen wurde, wären die verbreitete Illegalitätund die Übergriffe gestoppt worden und nicht als „nationale“ Verhaltensmuster übernommen worden, dann wäre Lampedusa kein unsicherer Hafen, sondern eine Versuchsstätte für Aufnahme und Integration. Und wenn ich sage, dass Lampedusa der Puls Italiens ist, meine ich damit auch: was in Lampedusa gilt, gilt in einem großen Teil unseres Landes. Uns würde es natürlich gefallen, wenn sich die Menschen frei bewegen könnten, mit Linienflügen und -fähren, doch zurzeit erscheint dies unmöglich. Was wir jetzt brauchen, ist eine deutliche Verurteilung der Gewalt, doch wie kann ein Staat, der Waffen herstellen lässt, der einer der größten Hersteller von Landminen ist, der sich an Kriegen beteiligt, der teilweise in Kriminalität verstrickt ist, dies tun und dabei glaubhaft sein? Mit großer Dringlichkeit müssen eine demokratische Methode und der Dialog als Form der Mediation wieder etabliert werden, aber ohne das Vorbild und die Unterstützung der Institutionen wird dies nurschwer möglich sein. Die Zivilgesellschaft spielt hier eine sehr wichtige Rolle, sie kann ein enormer Ansporn sein. Ich glaube, dass in Lampedusa angefangen werden muss und kann, indem es wieder seine Rolle der Ersten Hilfe und Flüchtlingsaufnahme übernimmt, aber endgültig sicher gestellt wird, dass die Migranten auf ihrem Weg höchstens drei Tage auf der Insel bleiben und das Zentrum für die lokale Bevölkerung geöffnet wird, damit diese mit den Migranten ein menschliches Verhältnis aufbauenkönnen. Damit dies möglich wird, müssen die Gewalttaten, die in unserem Land stattgefunden haben und stattfinden, streng verurteilt werden, und es muss eine neue Periode der Integration und des Dialogs eingeläutet werden, indem die Gewaltfreiheit als ein Schlüsselprinzip unserer Gesellschaft verankert wird. Doch wir brauchen auch vorbeugende Arbeit in den Schulen, an öffentlichen Orten, im Verhalten und den Äußerungen unserer politischen Vertreter.
Hoffen wir, dass wie schon der Tod von Masslo auch der Tod unserer Brüder aus dem Senegal wenigstens dafür sorgen wird, vielen Menschen die Augen zu öffnen und kulturelle und gesetzliche Regeln zu etablieren. Hoffen wir, dass alle Einwohner Lampedusas über die wichtige Rollen nachdenken können, die Lampedusa für die Erstaufnahme und gegen jede Form von Rassismus gehabt hat und weiterhin haben kann, dass die Menschen unserer Gemeinschaft wieder miteinander sprechen und sichverstehen. Ich glaube immer noch daran, dass man etwas verändern kann, dass die Menschen ihre Lage verbessern können, dass Gewalt verurteilt und der Dialog gefördert werden muss, der Dialog mit allen und insbesondere mit denen, die andere Ansichten haben als wir.
Wir solidarisieren uns mit den Roma in Turin, den Senegalesen in Florenz, den Migrantengemeinschaften in Neapel, die sich gerade organisieren, mit den Arbeitern in Nardò und all denen, die ungeschützte und misshandelte Minderheiten sind, und zeigen ihnen unsere Nähe und unsere Zuneigung.
(Übersetzung aus dem Italienischen: Renate Albrecht)