Gerechtigkeit für Wissem Ben Abdellatif, ein undurchsichtiger Todesfall im italienischen Haftsystem

Artikel vom 10. Dezember 2021

Pressemitteilung – Am 28. November 2021 verstarb Wissem ben Abdellatif, ein junger Tunesier im Alter von 26 Jahren aus Kebili, im Krankenhaus San Camillo in Rom. Er war kurz zuvor aus der Abschiebungshaft Ponte Galeria (CPR*) nach Rom verlegt worden. Der Herzinfarkt, der zu seinem Tod führte, wurde möglicherweise durch die Anwendung von Fixierungsmaßnahmen bei seiner Einlieferung verursacht.
Die Staatsanwaltschaft in Rom hat eine Untersuchung eingeleitet. Eine Autopsie zur Feststellung der Todesursache ist im Gange.

Wissem kam Anfang Oktober in Sizilien an und wurde nach einer Isolation auf einem Quarantäneschiff in Augusta in das CPR*, die Station vor der Abschiebung, überführt und folglich als geeignet eingestuft, ein Leben in Haft führen zu können.

Das Personal des Zentrums war besorgt über Wissems psychischen Zustand, was dazu führte, dass er am 23. November 2021 zunächst in das Grassi-Krankenhaus in Ostia (Stadtteil von Rom; Anm. d. Red.) und anschließend in die psychiatrische Abteilung des San-Camillo-Krankenhauses in Rom eingeliefert wurde.

Am 28. November starb Wissem im Krankenhaus an einem Herzstillstand, aber seine Eltern haben ausgesagt, dass ihr Sohn „sportlich war und keine körperlichen oder psychischen Probleme hatte“[1].

Alessandro Capriccioli, Regionalrat der Region Latium, und Stefano Anastasia, Garant für Personen im Freiheitsentzug der Region Latium, führten am 4. Dezember eine Inspektion im CPR* durch, wo sie die medizinische Akte von Wissem einsahen und den Fixierungsmaßnahmen während seines Krankenhausaufenthalts nachgehen konnten.

Es bleibt zu klären, ob das psychische Leiden von Wissem vor seiner Inhaftierung bestand oder sich erst während der Haft entwickelte. Mauro Palma, Präsident der Behörde für die Rechte der Gefangenen und der Personen im Freiheitsentzug, erklärte gegenüber der italienischen Presse, dass „regelmäßig Bluttests durchgeführt wurden und es keine gesundheitlichen Probleme zu geben schien“[2].

Wissem ist ein unvergessliches Beispiel für die schnelle und standardisierte Vorgehensweise gegen tunesische Staatsangehörige in Italien. Diese wird im Rahmen bilateraler Abkommen und Finanzierungsvereinbarungen zwischen den beiden Ländern zum Nachteil der Interessen der tunesischen Bevölkerung und ihres Grundrechts auf internationalen Schutz umgesetzt.

Neben der entwaffnenden Verbreitung der Nachricht von seinem Tod gibt es ständige und erdrückende Klagen von Menschen, die diese Abschiebungshaft durchlaufen haben. Sie berichten von unerträglichen Bedingungen.

Das gesamte System der administrativen Inhaftierung von Migrant*innen in Italien, von der vor allem Tunesier*innen betroffen sind, muss abgeschafft werden, und der gesamte Rechtsrahmen für Migration muss völlig neu überdacht werden.
Die unterzeichnenden Organisationen sprechen der Familie des Verstorbenen ihre uneingeschränkte Unterstützung aus und rufen:

 

  • die italienischen Behörden dazu auf, die Umstände des Todes von Wissem ben Abdellatif nicht länger zu verschleiern und seiner Familie den Zugang zur Justiz zu gewährleisten.

 

  • den tunesischen Staat dazu auf, die Wahrheit über den Tod von Wissem aufzudecken und seine Familie bei der Suche nach Gerechtigkeit und der Revision der bilateralen Abkommen zwischen Tunesien und Italien zu begleiten, die im Widerspruch zum Grundrecht auf Asyl stehen, das durch die von beiden Ländern ratifizierten internationalen Konventionen garantiert wird.

 

Liste der unterzeichnenden Organisationen:

  1. ASF – Avocats Sans Frontières
    (Anwält*innen ohne Grenzen)
  2. LTDH – La ligue tunisienne pour la défense des Droits de l’Homme
    (Die tunesische Vereinigung für die Verteidigung der Menschenrechte)
  3. BEITY Association
  4. ADLI – Association tunisienne de défense des libertés individuelles
    (Tunesischer Verein zur Verteidigung der individuellen Freiheiten)
  5. ActionAid Italia
  6. EuroMed Droits
  7. FTDES – Forum Tunisien pour les Droits Économiques et Sociaux
    (Tunesisches Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte)
  8. Associazione ASGI – Associazione per gli Studi Giuridici sull’Immigrazione
    (Verein für juristische Studien zur Immigration)
  9. Watch The Med – Alarm Phone
  10. Naga ODV
  11. Collettivo Pensare Migrante
  12. Mai più lager – NO ai CPR
  13. IADH – Institut Arabe des Droits de l’Homme
    (Arabisches Institut für Menschenrechte)
  14. MDM – Médecins du monde, mission Tunisie
    (Ärzt*innen der Welt, Mission Tunesien)
  15. Associazione Optì Pobà
  16. Cledu – Clinica legale per i diritti umani dell’Università di Palermo
    (Rechtsklinik für Menschenrechte, Universität Palermo)
  17. ARCI – Associazione ricreativa e culturale italiana
    (Verband der Förderung von Kultur, Bildung, Frieden, Menschenrechte, und Wohlfahrt)
  18. Borderline Sicilia Onlus
  19. A Buon Diritto Onlus
  20. CILD – Coalizione Italiana per le Libertà e i Diritti civili
    (Italienische Koalition für Bürgerrechte und Freiheiten)
  21. Campagna LasciateCIEntrare
  22. Indiewatch

 

Liste der Unterzeichner*innen:

  • Féthi JARRAY, Präsident von INPT (Tunesiens unabhängige nationale Instanz zur Prävention von Folter)
  • Lotfi Ezzedine, Mitglied von INPT
  • Sana ben Achour, Beity Association
  • Majdi Karbai, tunesischer Abgeordneter in Italien

 

[1] https://roma.repubblica.it/cronaca/2021/12/05/news/tunisino-329084932/

[2] https://www.open.online/2021/12/05/abdel-latif-tunisia-roma/

 

* Centro di permanenza per il rimpatrio – Abschiebungshaft

 

Aus dem Italiensichen übersetzt von Gabriella Silvestri