Gegen die besonders Schutzbedürftigen: die Effekte des ‚Sicherheitsdekrets‘ auf die Gesundheit der Migrant*innen

Wir veröffentlichen die Erfahrungen einer Sozialarbeiterin aus Sizilien, wo die Auswirkungen des „Sicherheitsdekrets“ – wie in ganz Italien – jeden Tag spürbarer und dramatischer werden.

In Artikel 32 der italienischen Verfassung ist festgehalten, dass „die Republik […] die Gesundheit als Grundrecht des einzelnen und als Interesse der Gemeinschaft [hütet] und […] den Bedürftigen kostenlose Behandlung [gewährleistet]. Niemand kann zu einer bestimmten Heilbehandlung verhalten werden, außer auf Grund einer gesetzlichen Verfügung. Das Gesetz darf in keinem Fall die durch die Würde der menschlichen Person gezogenen Grenzen verletzen.”

Während wir uns abmühen, nochmals und auf neuen Wegen zu beweisen, dass das Sicherheitsdekret nicht nur illegal, sondern zudem seinem Ziel, Italien sicherer zu machen, überhaupt nicht zuträglich ist; während wir alles tun, um zu verstehen, welche Bedürfnisse Migrant*innen in Rechts- und Unterkunftsfragen haben, gelingt es uns nicht, uns ein vollständiges Bild der Situation zu machen, in der sich die Asylbewerber*innen, Migrant*innen und Geflüchteten in unseren Städten und in unserer Gesellschaft befinden. Um umfassend darstellen zu können, was diesen ohnehin schon besonders vulnerablen, schutzbedürftigen Personen derzeit zustößt, müsste man im Detail verstehen, welche Auswirkungen die jüngste (durch das Sicherheitsdekret des Innenministers Salvini hervorgerufene, A.d.Ü.) „Vulnerabilisierung“ dieser Personen nach sich zieht.

Tag für Tag treffen wir Menschen, denen nicht nur das Recht auf Wohnen, sondern auch die Möglichkeit verweigert wird, ihren Status offiziell zu regeln und somit Zugang zu einer würdigen Arbeit zu erhalten. In den vergangenen zwei Jahren habe ich als Kulturmittlerin inner- und außerhalb von Aufnahmezentren für Minderjährige und Erwachsene in Palermo gearbeitet. Mit Gewissheit kann ich heute sagen, dass die medizinische Versorgung aus verschiedenen Gründen, aber vor allem aus politischem Willen, zu den am meisten vernachlässigten Aspekten gehört.

Besonders ernst sieht es in puncto psychischer Gesundheit aus. In Palermo gibt es leider zu wenige Spezialist*innen für die psychische Gesundheit von Migrant*innen, um sich angemessen um all jene zu kümmern, die aus verschiedensten Gründen unter psychischen Problemen leiden. Im sozialen Bereich wird diese Problematik häufig beiseite geschoben und zur Nebensache erklärt. Als Mittlerin und Aktivistin halte ich hingegen die seelische Gesundheit von Migrant*innen für ein äußerst drängendes Problem, das umgehend auf die politische Agenda einer Stadt gesetzt werden müsste. Um sie wirklich als gastfreundliche und aufnahmewillige Bastion der Menschenrechte betrachten zu können, müsste die Stadt in effizienter Weise auf den steigenden Bedarf an psychologischer Unterstützung für Migrant*innen antworten.

Der junge M. zum Beispiel ist seit zwei Jahren in Palermo. Er hat etwa ein Jahr in einem Aufnahmezentrum für Minderjährige (CPA) gelebt, bevor er in ein Zentrum für Erwachsene (CAS) ‚verlegt‘ wurde. Auf seine Anhörung vor der (für Asylanträge zuständigen, A.d.Ü.) Territorialkommission musste M. lange warten. M. ist damit einer von vielen jungen Menschen in Palermo, die trotz vorbildlicher sozialer Integration einen Ablehnungsbescheid in der Hand halten, auf den Ausgang der Widerrufsklage warten und möglicherweise wegen der offenkundigen Unbegründetheit der Kommissionsentscheidung ihr Aufenthaltsrecht verlieren.

Gleiches ist E., M. B. und anderen widerfahren. Eine lange Liste von Personen, Männern und Frauen, die vor etwa zwei Jahren nach Italien gekommen sind und lange darauf warten mussten, ihren Aufenthaltsstatus offiziell regeln und sich rechtlich absichern zu können. In der Zwischenzeit haben sie natürlich begonnen, sich vielfältig in der Stadt, in der sie nun leben, zu integrieren: Sie sind zur Schule gegangen, haben Praktika absolviert und an Projekten teilgenommen. Doch nun müssen sie mitansehen, wie man ihnen den subsidiären Schutz verwehrt und somit vollends den Traum zunichte macht, ‚Papiere‘ zu bekommen und selbständig zu werden, sich endlich frei zu fühlen, eigene Entscheidungen zu treffen. All das kommt zu den Erfahrungen, die sie bis hierher gemacht haben, hinzu: die Reise, die Traumata, das Leben in den Aufnahmezentren – alles andere als Episoden eines ausschweifenden „Lotterlebens“, wie Innenminister Salvini hämisch sagt.

Das Warten

Ein Dauerzustand des Wartens hat diese Personen jahrelang begleitet – und nur in der Hoffnung auf den positivem Ausgang dieses Wartens haben sie die äußerst prekären Lebensbedingungen in Kauf genommen. Heute sind sie in psychischer Hinsicht umso verletzbarer, als die aus den jüngsten politischen Entscheidungen und der Abschaffung des subsidiären Schutzes in Italien entstehende Situation sie in einen Teufelskreis bringt, der ihre Schutzbedürftigkeit vervielfacht.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO betonte kürzlich: „Wie man sich leicht vorstellen kann, sind Geflüchtete und Asylbewerber*innen besonders häufig von posttraumatischen Störungen, Depressionen und Angststörungen betroffen, die sich im gleichen Maße verstärken, wie die Bearbeitungszeiten für Asylanträge steigen und sich die sozioökonomischen Notlagen dieser Personen, wie soziale Isolierung oder Arbeitslosigkeit, verschärfen.“

Die Situationen der Einzelnen sind so komplex und so unterschiedlich, dass es sehr schwer ist, sich einen Eindruck von der Gesamtsituation zu machen. Außerdem liegen bisher zu wenige Daten vor. Es drängt sich die Frage auf, ob dieser Zustand der Unklarheit und Verwirrung nicht zu den eigentlichen Hauptzielen dieser Regierung gehört, die gewisse, mit den internationalen Migrationsphänomenen verbundene Thematiken regelrecht leugnet, so ein zunehmend angespanntes soziales Klima schafft, die zwischenmenschlichen Distanzen immer mehr vergrößert, Migrant*innen isoliert, ihre Rechte mit Füßen tritt und sie in vollkommene soziale Unsichtbarkeit zwingt.

Giulia Di Carlo
Sozialarbeiterin

Aus dem Italienischen übersetzt von Laura Strack