Die Geschichte von Alagie, einer der vielen abgewiesenen Minderjährigen

Anfang Januar machte uns die Anlaufstelle für Einwanderer*innen auf den Fall eines ausländischen unbegleiteten Minderjährigen aufmerksam, der nach dem Erhalt einer zeitversetzten Abschiebeverfügung Sizilien verlassen hatte und nun auf der Straße lebte.
Um seine Privatsphäre zu schützen, werden wir ihm beim Erzählen seiner Geschichte den Namen Alagie geben. Wir sind jedoch davon überzeugt, dass jeder der Namen den wir verwenden könnten auf einen der vielen hunderten von Minderjährigen zutreffen würde, die in diesem Moment, in Folge einer Einreiseverweigerung durch die italienischen Behörden, auf den Straßen umher irren, ohne auf jeglichen Schutz zählen zu können. Die Behörden nehmen weiterhin an den Orten der Anlandungen summarische Identifikationen vor und wenden die willkürliche Praxis einer Selektion zwischen Wirtschaftsmigrant*innen und Asylsuchenden an.
Es war ein in Caltanissetta lebender Freund, der sich auf die Suche von Alagie machte, nachdem er mehrere Wochen lang keine Nachricht von ihm erhalten hatte. Eines Tages hat er dann dank eines gemeinsamen Bekannten erfahren, dass Alagie sich in Milano aufhält, dieselbe Stadt in der ich mich zu dem Zeitpunkt auch befand.
Ich beschließe die Geschäftsstelle von Terres des Hommes vor meinem Treffen mit Alagie anzurufen, um die Kontaktdaten der Dienststellen zu erfragen, an die ich mich hätte wenden können. Unter den Nummern die ich erhalte steht auch die Notrufnummer der Sozialdienste für Minderjährige der Stadtverwaltung Mailand und ich beschließe, diese Nummer als erste anzurufen. Es wird mir sofort klar, dass sie hier noch nicht genau wissen, was in Sizilien bereits seit Monaten passiert. Nachdem ich nämlich der Sozialarbeiterin Alagies Situation geschildert habe lautet ihre Antwort, dass es nicht möglich sei, dass ein Minderjähriger abgewiesen wird.
Theoretisch betrachtet sollte dies tatsächlich der Fall sein. Aber da die Lösung in der Praxis eine andere ist, frage ich sie was ich tun kann. An diesem Punkt rät sie mir ihn zum Polizeipräsidium zu begleiten und dies wäre auch eine korrekte Antwort gewesen, wäre da nicht Alagies Abschiebeverfügung, die das normale Vorgehen in einem solchen Fall unmöglich macht.
Ich rufe dann die Nummer des Projekts der Straßeneinheiten von Save the Children an, aber da keiner meinen Anruf entgegennimmt bleibt mir nichts anderes übrig, als das Nachtasyl in der Straße Via Corelli direkt zu kontaktieren. Dort sind noch freie Plätze verfügbar.
Endlich treffe ich mich dann mit Alagie und bin erleichtert, als ich ihn in einem guten Zustand vorfinde.
Ich erkläre ihm, dass das einzige was ich tun kann, mal abgesehen von der Kontaktierung seines Anwalts und einer Organisation die sich seines Falles annehmen kann, die Begleitung zu dem Nachtasyl für Minderjährige ist. Er nimmt das Angebot an und während wir uns auf den Weg machen beginnt er mir seine Geschichte zu erzählen, von der Ankunft in Lampedusa bis zur Reise nach Mailand.
Bei seiner Ankunft in Lampedusa am 21. November ist von einem Team von Save the Children gemeinsam mit weiteren vier Jugendlichen als Minderjähriger erfasst worden. Nach dem Ausfüllen des Fragebogens der Polizei wurde er in die Notaufnahme begleitet, weil er sich nicht gut fühlte und danach zum Hotspot Contrada Imbriacola, wo er zwei Wochen lang geblieben ist. Vor seiner Weiterfahrt per Schiff nach Agrigento hatte er noch einmal Gelegenheit mit der Mitarbeiterin von Save the Children zu sprechen, die er am ersten Tag getroffen hatte. Diese hatte ihn und die anderen vier Jugendlichen darüber informiert, dass sie eine Abschiebungsverfügung erhalten würden und dass sie, den Hafen von Agrigento erreicht, ihre Kollegin kontaktieren sollten.
Die Fähre hatte bereits abgelegt, als er und alle weiteren Passagiere (insgesamt 60 Personen) die Abschiebungsverfügung erhielten, die Alagie „the seven days paper“ nennt, wegen der darin enthaltenen Aufforderung nach Rom zu fahren und dann Italien innerhalb von 7 Tagen zu verlassen.
Nach seiner Ankunft in Agrigento hat er die Mitarbeiterin von Save the Children ausfindig gemacht und wurde im Caritas-Zentrum aufgenommen, in dem er jedoch nur für zwei Wochen bleiben konnte. Das Zentrum musste die Aufenthaltszeit begrenzen, um all den hunderten Menschen die aus Lampedusa mit einer Abschiebeverfügung ankommen, ohne zu wissen wohin sie gehen oder was sie tun könnten, ein erstes Refugium bieten zu können.
Während seines Aufenthalts im Caritas-Zentrum in Agrigento hat er von einem Anwalt Rechtsbeistand erhalten und wurde von einem der Mitarbeiter des Zentrums und der Mitarbeiterin von Save the Children ins Polizeipräsidium begleitet und diese haben dort versucht seine Situation zu bekannt zu machen. Der Beamte hat jedoch geantwortet, dass man da nichts machen könne und dass Alagie seine Minderjährigkeit im Einspruch gegen die Abschiebeverfügung thematisieren könne.
Nach Ablauf der Aufenthaltsfrist im Caritas-Zentrum in Agrigento war Alagie gezwungen wegzugehen.
Wohin? Wie? Warum? Das konnte ihm keiner sagen. So ist er in einen Zug gestiegen, dann in einen weiteren und in noch einen, ohne Geld und ohne Ticket. Nach zwei Tagen ist er endlich in Mailand angekommen. Die Person auf die er gezählt hatte konnte ihm dann doch nicht helfen und so ist er auf der Straße gelandet.
Als Alagie seine Erzählung beendet befinden wir uns schon ganz in der Nähe des Nachtasyls in Via Corelli, welches vom Verein Arca verwaltet wird. Wir gehen hinein, stellen uns dem Zuständigen vor. Dieser ruft sofort im Nachtasyl für Minderjährige an, zu dem Alagie am Abend hinbegleitet werden soll. Am kommenden Tag wird er auch die Gelegenheit haben das Team von Save the Children zu treffen.
Ich erkläre Alagie alles und verabschiede mich von ihm. Er ist beruhigt.
Am nächsten Tag schaffe ich es die Referentin von Save the Children zu kontaktieren und ihr die Unterlagen zuzusenden, die uns der Anwalt geschickt hat.
Einige Tage später ruft Alagie mich vom Telefon eines neuen Freundes vom Schlafasyl aus an um mir zu sagen, dass es ihm gut geht.
Vor wenigen Tagen wurde ich auch von der Referentin von Save the Children, die seinen Fall betreut, über den Stand der Dinge informiert. Sie warten nun auf die Bestätigung der Aufhebung der Abschiebeverfügung durch den Richter, danach werden sie Alagies Asylantrag formalisieren können.
Wahrscheinlich wird sich Alagies Situation klären, aber weitere hunderte von Minderjährige, die als Volljährige identifiziert und abgeschoben wurden, leben auf der Straße und befinden sich in der gleichen Situation in der wir Alagie vorgefunden haben. Somit können sie leicht und höchstwahrscheinlich Opfer von Ausbeutern und Schleppern werden, die ihren schutzbedürftigen Zustand, zu dem die neue Europapolitik für die Kontrolle der Einwanderungsströme sie verbannt hat, auszunutzen wissen.
Alagies Geschichte zu erzählen bedeutet, dem, was tausenden von Migranten widerfährt, einen Namen zu geben. Mit den summarischen und unrechtmäßigen Praktiken die von den Behörden, die für die Grenzkontrolle zuständig sind, angewendet werden, werden diese Migrant*innen als Wirtschaftsmigrant*innen abgewiesen. Diese Praktiken, die das Recht auf den Zugang zu den Informationen und den Prozeduren der Anerkennung auf Schutz verletzen, gestalten sich voll und ganz als kollektive Abschiebungen und berücksichtigen weder die Schutzbedürftigkeit noch die Minderjährigkeit der ankommenden Personen.
Giovanna Vaccaro
Borderline Sicilia

Übersetzung aus dem Italienischen von Linde Nadiani