Der Krieg von Lampedusa – erzählt von Alessio Genovese
Original auf fortress europeEr ist einer der besten Fotojournalisten Italiens. Er heißt Alessio Genovese und im Gegensatz zu anderen Kollegen spricht er fließend arabisch, was es ihm erlaubt hat, die letzten 48 Stunden mit den Tunesiern von Lampedusa zu verbringen und besser als andere verstehen zu können, was wirklich auf der Insel geschehen ist. Während wir auf seine Fotografien warten, haben wir ihn gebeten, uns aufzuschreiben, was er gesehen hat. Dies ist sein Zeugnis.
Krieg den Tunesiern und den Journalisten auf Lampedusa
von Alessio Genovese
Sie hatten sie uns beschrieben als Kriminelle, Ex-Sträflinge auf der Flucht aus Tunesien, um ihre Schulden bei der Justiz nicht bezahlen zu müssen. Bis gestern waren sie lediglich Nummern, die sich den Tausenden von Flüchtlingen hinzu fügten, welche aus Nordafrika ankamen. Während der letzten Monate hatten die Regierung und die Ordnungskräfte versucht, uns eine Kommunikation mit ihnen zu untersagen. Das Recht auf Berichterstattung und Information wurde ausgesetzt vor den anhaltenden Einschüchterungen und den Hindernissen, die mit Absicht zwischen den Journalisten und den Flüchtlingen errichtet wurden. Heute sind sie eine Meldung wert, sie sind die 1.300 tunesischen Spezial-Gefangenen eines Systems, das Angst vor ihnen hat. Für 24 Stunden sind sie die Verfechter des Rechts auf Information in diesem Italien geworden, in dem alle viel zu schnell vor den Zuständen kapitulieren.
Nach dem Brand vom 20. September, sind sie wieder auf die Straßen von Lampedusa geströmt. Das Erstaufnahmezentrum auf Lampedusa, das CPA von Imbriacola, hat stundenlang gebrannt. Rauch stieg auf vom Guantanamo mitten im Mittelmeer, wo sie eingesperrt waren, und zwang so die Ordnungskräfte, die Tore zu öffnen. In diesem Moment war das einzige, woran alle dachten: „Freiheit!“ Sie liefen durch Lampedusa und verirrten sich. Sie brauchten nur kurze Zeit, um zu verstehen, dass man von der Insel nicht weg kommt – und dann haben sie sich aufgeteilt. Sofort war zu bemerken, dass die Lampedusaner nervös waren. Wer sich ihnen näherte, gehörte nicht zu den üblichen Neugierigen, sondern der wollte verstehen, was es mit dieser Flucht auf sich hatte und wie sie reagieren sollten.
Sie wollten sich ihre Insel wieder aneignen. Schon von den ersten Stunden der Spannungen an, waren sie total aufgebracht. „Lampedusa will euch nicht, haut ab, ihr Bestien,“ riefen sie den verängstigten Migranten zu und nicht selten wurden die Worte auch heftig gegenüber den Ordnungskräften. „Wenn ihr es nicht schafft, sie rauszuwerfen, dann kümmern wir uns darum.“ Der Bürgermeister der Insel, Dino De Rubeis, sorgte dafür, die Spannungen noch zu steigern, indem er öffentlich erklärte, auf Lampedusa herrsche Krieg, und behauptete, die Lampedusaner seien schon in der Lage, das Problem zu lösen und die Insel zu verteidigen. Für sie hatten die Tunesier Lampedusa angegriffen. Sie waren der Feind, gegen den Krieg zu führen war und nicht gegen die Politik der Gleichgültigkeit der Regierung, die entschieden hatte, die Insel in ein einziges Gefängnis umzuwandeln. Für sie waren es diese Gesichter ohne Namen und ohne Bart, die nach der Ersten Hilfe auf dem Meer auf ihrer Insel angekommen waren, um das Wesen, das Eigentliche ihrer Insel zu gefährden.
Schon in der Nacht des 20. September waren die meisten der Immigranten wieder auf den Innenhof des CPA gebracht worden. Draußen, frei, das waren – wenn man es so nennen will – lediglich 300, die auf dem Platz vor dem Handelshafen der Insel Unterschlupf gefunden hatten, wo es auch eine Tankstelle gibt. Die Nacht war ruhig verlaufen. Die Tunesier hatten bei Sonnenuntergang ihr rituelles Gebet verrichtet und die ganze Nacht über gewacht. Niemand hatte ihnen etwas zu essen oder zu trinken gebracht. Ordnungskräfte und Lampedusaner haben sie nicht einen Augenblick aus den Augen gelassen und haben auch darauf geachtet, dass weder Journalisten noch Aktivisten hinein kamen, um mit ihnen zu sprechen.
Gestern bei Sonnenaufgang begann der Tag mit den ersten Stimmen von Abschiebungen. Diejenigen, die vor und nach dem Brand verlegt wurden, gaben bekannt, dass sie in ihre Heimat Tunesien zurückgebracht werden sollen. An diesem Punkt begannen auch die Tunesier, sich Sorgen zu machen. Einige von ihnen haben versucht, die Verhandlungen dahingehend zu beeinflussen, dass sie statt mit Flugzeugen mit Schiffen zurückgeschickt würden. An dem Punkt haben sie alle zusammen angefangen zu schreien: „Journalisten, Journalisten!“ Sie verlangten die Anwesenheit von Journalisten und Informations-Medien, mit denen sie sprechen könnten.
Aber auf der anderen Seite blockierten sie, die Lampedusaner, die wenigen Journalisten, die sich auf der Insel befanden. Zwei Male wurde das Team von Tg Sky angegriffen und dem Kameramann von Tg 3 Regional (beides ital. Fernsehsender), der sich dem Platz zu nähern versuchte, haben sie die Aufnahme-Kamera kaputtgemacht. Einigen der Immigranten gelang es, einige Bettlaken und Farbe aufzutun und Spruchbänder anzufertigen. Auf einem stand „Freedom Libertà“ und auf einem anderen „Entschuldigung Lampedusa“ – aber diese Botschaften haben niemanden erreicht.
Gegen 10 Uhr morgens hat der Bürgermeister De Rubeis den Platz besucht. Er hat zunächst etwas mit den anwesenden Lampedusanern und den Ordnungskräften geredet und dann hat er sich dem Platz zugewandt, um mit den Tunesiern zu sprechen. Sicherlich hat er gezeigt, dass er keine Angst vor ihnen hatte. Er hat ihnen gegenüber bekräftigt, dass sie auf der Insel nicht willkommen wären und dass sie mit Gewalt von dort vertrieben werden würden.
Zwischen den Tunesiern verbreitete sich daraufhin Panik. Viele bekamen Angst, dass sie von den „mafiösen“ Sizilianern umgebracht würden. Zu diesem Zeitpunkt kamen sie darauf, sich im Innern der Tankstelle zu sammeln in der Hoffnung, dass sie nicht von dort fortgebracht werden würden. „Wenn sie auf uns schießen, werden wir alle in die Luft jagen“, davon waren sie alle überzeugt. Das Unverständnis half nicht und die Ordnungskräfte haben gedacht, sie wollten die Tankstelle zur Explosion bringen. Männer in Uniformen von Abwehr-Einheiten schlossen den Zugang zum Platz, indem sie die vier darauf zu laufenden Straßen blockierten.
Die Lampedusaner fassten Mut und kamen noch näher. Mehr als eine Stunde hat eine Polizeikette verhindert, dass die Lampedusaner die Tunesier angriffen. Gegen 11 Uhr morgens ist die Situation eskaliert. Einige Tunesier begannen, auf die Provokationen und die Steinwürfe zu reagieren. Andere hatten Gasflaschen gefunden und begannen, sie den Polizisten zu zeigen und damit zu drohen, alles in die Luft zu jagen, wenn sie angegriffen würden. Einer von ihnen rief immer wieder auf Italienisch „Wir gehen ja, aber keine Prügel“. Aber an diesem Punkt war der Angriff bereits unvermeidlich. Die Polizisten griffen von allen vier Seiten an und auch die Lampedusaner warfen sich in diese Rauferei, bewaffnet mit Stöcken und Eisen. (s. Video NDR)
Die Gewalttätigkeit dieser Aggression war unbeschreiblich. Männer der „Lampedusa Accoglienza“ (der Betrieb, der das Aufnahmezentrum führt) haben sich an dieser Lynchjustiz beteiligt. Sie haben in vorderster Reihe die Tunesier geschlagen und nach ihnen gespuckt. Die Migranten begannen zu fliehen, indem sie von der drei Meter hohen Mauer der Tankstelle sprangen. Von allen Seiten hagelte es Schläge. Eine Gruppe von Bewohnern des Ortes warf Steine auf die Immigranten vom Dach eines Hauses aus. In diesem Moment waren weder Journalisten noch Aktivisten anwesend, sie waren alle vertrieben, damit sie nichts sähen.
Eine Gruppe von fünf, sechs verletzten Immigranten hatte sich in eine Ecke der Tankstelle geflüchtet. Alle, die an ihnen vorbeigingen, bespuckten, beleidigten und bedrohten sie. Unter ihnen war auch eine etwas ältere Person. Das hatten wir in der Nacht zuvor festgestellt, als man die Namen und die Geschichten dieser Gesichter noch in Erfahrung bringen konnte. Muhammad E. ist 48 Jahre alt. Er hat 18 Jahre in Padua gelebt und gearbeitet bis zu dem Tag, an dem er sich einen Arbeitsunfall zuzog. Seit ’97 führt er einen Prozess mit der EDIL MET srl (ital. Baufirma), aber sein Anwalt hat den Prozess nicht mehr verfolgt, seitdem er 2001 zur Genesung nach Tunesien zurück fuhr. Wegen der Nachlässigkeit seines Arbeitgebers ist er von einem Gerüst gefallen und sie mussten ihm die Milz und einen Hoden entfernen. Er kam nach Italien, um sich sein Leben wieder zu holen. In der Nacht zuvor, als die Gesichter noch einen Namen hatten, hatte er uns gebeten, mit einem Verantwortlichen der Regierung sprechen zu können. Jetzt läuft Muhammad das Blut aus dem Kopf und seine Augen sind voller Angst. Sein Traum von einem besseren Leben in Italien stirbt auf Lampedusa.
aus dem Italienischen von Alexandra Harloff