Der Hotspot-Ansatz und Quarantäneschiffe

Artikel vom 09. Dezember 2021

Rivistailmulino.it – Die europäische Grenzpolitik bringt in den Zeiten der Pandemie alle Grenzen eines inadäquaten Systems ans Licht, das von Problemen und insbesondere von Unmenschlichkeit geprägt ist.

 

Zu Beginn der COVID-19 Pandemie beobachteten wir eine zunehmende Stigmatisierung der ausländischen Bürger*innen als primäre Ansteckungsgefahr, ganz gleich, ob es sich um Personen handelte, die seit Jahren in Italien wohnten oder erst vor Kurzem vor den Küsten des Mittelmeers vor dem Untergehen gerettet wurden. Auch in der europäischen Migrationspolitik wurde diese Gefahrenwahrnehmung anhand der gestiegenen institutionalisierten Gewalt an den Außengrenzen sichtbar. Dies zeigte sich zum Beispiel am Fall der Zurückweisungen im März 2020 an der türkisch-griechischen Grenze entlang des Flusses Evros, wo die Polizei auf Migrant*innen schoss, die versuchten, das andere Ufer zu erreichen. Ein weiteres Beispiel der zunehmenden Gewalt ist die Isolation von Personen, die irregulär nach Europa einreisen. Die beschriebene Stigmatisierung muss mit der Konstruktion eines Notstandes in Bezug gesetzt werden. Zum einen wird der Auslöser dieses Notstandes als unvorhersehbar dargestellt und zum anderen erfordert dieser dringende Maßnahmen. Im Grunde genommen unterlag der europäischen Migrationsregulierung diese Logik der Notstandskonstruktion schon lange vor der Pandemie.

 

Der Hotspot-Ansatz

Hotspots, also „Brennpunkte”, und entsprechenden Maßnahmen zur Steuerung der Migrationsströme wurden mit der Europäischen Agenda für Migration (März 2015) eingeführt. In der europäischen Migrationspolitik bilden sie den Dreh- und Angelpunkt für die Steuerung der gegenwärtig nicht gesetzlich geregelten Migrationsbewegungen und materialisieren den konstruierten Notstand. Definiert werden diese Orte als „Gebiete der [EU-]Außengrenzen, die von einem unverhältnismäßig großen Migrationsdruck betroffen sind“. In diese Orte wird unmittelbar eingegriffen. Gleichzeitig finden sie sich jedoch nicht in politischen Debatten wieder.

Die Hotspots erfüllten in den vergangenen Jahren in Italien und Griechenland im Wesentlichen zwei Funktionen: Die Selektion und das Abhalten nicht autorisierter Mobilität. An der Grenze werden Menschen durch das sogenannte Screening kategorisiert, wobei sie zunächst identifiziert sowie fotografiert, und dann über ihren irregulären Aufenthalt auf europäischem Boden befragt werden. Auf Grundlage dessen wird entschieden, ob eine Person als Asylsuchende*r ein Aufnahmeverfahren durchläuft, oder als „Wirtschaftsflüchtling“ wieder zurückgeführt wird. Die Ergebnisse unserer Feldforschung zeigen, dass die zugeschriebene Nationalität das wichtigste Kriterium bei der Selektion ist. Bilaterale Verträge zwischen einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und Drittstaaten ermöglichen zügige Rückführungen. Dieses Vorgehen an der Grenze stellt das Recht auf Asyl eines*r jeden*r Einzelnen infrage.

Dieser Abhaltemechanismus manifestiert sich nicht nur in der materiellen Unmöglichkeit, die Struktur zu verlassen, sondern auch in ihrer geographischen Lage: eine Grenze, oder besser eine Schwelle, also ein Gebiet, der zum Hoheitsgebiet eines Staates gehört, in dem die Rechtsordnung jedoch nicht gilt. Tatsächlich befinden sich die Geflüchteten an den Außengrenzgen der Europäischen Union an Orten, die für niemanden zugänglich sind, es sei denn, es gibt eine spezielle Erlaubnis. In Italien wird so eine Erlaubnis vom Innenministerium erteilt. Hinzu kommt die besondere Situation auf den Inseln, wie im Fall von Lampedusa oder Lesbos, wo die Tatsache, dass man schwer wegkommt, genutzt wird, die Geflüchteten von der Weiterreise abzuhalten.

Der Hotspot-Ansatz war für das Europäische Grenzregime strategisch notwendig. In Italien liegt das Hauptaugenmerk auf der Selektion, während es in Griechenland vorwiegend um das Abhalten geht. Die Hotspots auf den griechischen Inseln werden genutzt, um eine innereuropäische Migration zu verhindern. In Italien geht es mehr um die Kontrolle und die Selektion der Mobilität, indem Personen schnellstmöglich zurückgeführt werden, insbesondere tunesische Staatsangehörige.

Mitten in der Pandemie und fünf Jahre nach der Europäischen Agenda für Migration wurde am 13. September 2020 ein Regelungswerk vorgestellt, der EU-Pakt über Migration und Asyl, der das, was wir bislang in Bezug auf die beschriebene Selektion und das Abhalten gesehen haben, weiterhin verschärft. Vor allem das Pre-Screening, ähnlich den bereits implementierten Vorabkontrollen, soll die Entscheidung der Grenzbeamt*innen, wer Asyl beantragen darf und wer als sogenannter „Wirtschaftsflüchtling“ eingestuft wird, vorziehen und beschleunigen. Dieser Vorgang findet an der Außengrenze statt, denn die Grenzgebiete gelten noch nicht als europäisches Territorium: Eine Grauzone, in der die Rechtsordnung außer Kraft gesetzt wird, und zu der Dritte, die die Rechte dieser Personen garantieren könnten, keinen Zugang haben.

 

Die Quarantäneschiffe sind weitere solcher Orte: Eine Art schwimmende Grenze, wo die Migrant*innen direkt nach ihrer Ankunft während der Quarantänezeit festgehalten werden.

 

Quarantäneschiffe

Der italienische Staat nutzt jetzt außerdem Quarantäneschiffe, die im Großen und Ganzen einen weiteren solchen Ort darstellen: Eine Art schwimmende Grenze, wo die Migrant*innen direkt nach ihrer Ankunft während der Quarantänezeit festgehalten werden. Diese Regelung scheint sich auf einen Diskurs der öffentliche Gesundheit und des Notstands zu stützen. Es geht jedoch darum, die verstärkte Eingrenzung und Isolation der Migrant*innen zu legitimieren.

Auf die Ausrufung des Notstandes zu Beginn der Pandemie und den ministeriumsübergreifenden Erlass, mit dem die italienischen Behörden die Häfen dicht gemacht hatten, folgte am 12. April 2020 eine Anordnung des Zivilschutzes. Dieser zufolge sollen Schiffe genutzt werden, um die auf dem Meer geretteten Personen in Quarantäne zu setzen.

Diese Notfallmaßnahmen sehen vor, dass die Ausländer*innen nach ihrem Aufenthalt im Hotspot von Lampedusa, wo sie identifiziert und einem Gesundheitsscreening unterzogen werden, in Quarantäneschiffen die Isolationszeit verbringen. In Ausnahmefällen, also wenn es sich um vulnerable Personen oder um unbegleitete minderjährige Geflüchtete (UMF) handelt, findet die Isolation in den Quarantäneabteilungen der CAS*, der CARA* oder der Hotspots statt.

Die Kreuzfahrtschiffe, die für die Quarantäne genutzt werden, werden vom Ministerium für Infrastruktur von Gnv Spa und Moby Spa angemietet und liegen vor den sizilianischen Häfen von Lampedusa, Porto Empedocle, Palermo, Trapani, Augusta und Catania. In ständiger Rotation sind diese im Einsatz – je nach Ein- und Ausschiffungsvorgängen der Migrant*innen, die die medizinische Isolation beginnen oder beenden. An Bord ist das Italienische Rote Kreuz (Cri) für die medizinische und psychologische Unterstützung sowie die Identifizierung von vulnerablen Personen zuständig.

 

„Das Warten führt zur Unterwerfung: […] diese verändert dauerhaft, das heißt, solange die Erwartung anhält, das Verhalten der Person, die von der erwarteten Entscheidung suspendiert ist.“ [Pierre Bourdieu]

 

Der Aufenthalt auf den Schiffen kann sich auch über die vom Gesetz 10 vorhergesehen Tage hinausziehen: Die Ansteckungsmöglichkeit, das Fehlen von verfügbaren Plätzen in den Aufnahmezentren und die administrativen Fristen sind Faktoren, die häufig diesen Status der Segregation verlängern. In diesem Sinne stellt das Festhalten in den Quarantäneschiffen eine Maßnahme dar, die ausschließlich Migrant*innen betrifft: am Meer untergebracht, einem Ort, der „außerhalb“, getrennt vom Festland liegt, und einer eigenen, fremdbestimmten zeitlichen Realität folgt.

 

Der Hotspot-Ansatz auf dem Meer

Auf den Quarantäneschiffen finden auch andere Vorgänge außer den gesundheitlichen statt. Der „Migrationskoordinator“, der auf dem Schiff und mit dem Immigrationsbüro in Kontakt ist, hat die Möglichkeit, die Daten des Registrierungsformulars, das im Hotspot von Lampedusa während der Identifikation ausgefüllt worden ist, zu verändern.

Im diesem Sinne ist das Ankommen in Europa ein Aufeinanderfolgen von Verfahren der Selektion und des Kategorisierens. Im Hotspot werden die Personen unterschieden in Staatsangehörigkeit, Alter und Vulnerabilität: Erwachsene, die keine auffälligen gesundheitlichen Einschränkungen haben, werden normalerweise auf die Quarantäneschiffe gebracht; die UMF* oder Personen, die als schutzbedürftig erkannt worden sind, werden in Quarantänezentren auf das Festland gebracht; auf dem Quarantäneschiff – infolge der Feststellung von eventuellen Vulnerabilitäten – wird eine letzte Auswahl getroffen.

Das Aufkommen der Gesundheitsfrage bei den Grenzkontrollen hat folglich die Praxis der Auswahl und des gesetzeswidrigen Festhaltens einerseits verschärft und andererseits legitimiert. Dies geschieht mittels systematischen Festhaltens von Personen in Grenzgebieten sowie bestätigten Verletzungen des Rechts auf persönliche Bewegungsfreiheit und den Grundrechten auf Asyl, Information und Gesundheit. (s. Criticità del sistema navi quarantena per persone migranti: analisi e richieste; in Asgi, Diritti in rotta. L’esperimento delle navi quarantena e i principali profili di criticità, 2021)

Im Fall von Personen mit tunesischer Staatsbürgerschaft, die systematisch zurückgeführt werden, lässt sich ein im Grunde schon automatisierter Mechanismus erkennen: Von ihrer Ankunft auf Lampedusa, über ihren Aufenthalt im Quarantäneschiff in die Abschiebungshaft bis zu ihrer Ausweisung. Dieser Prozess hat sich in dem Jahr der Implementierung der Quarantäneschiffe immer weiter verfestigt.

Im Zusammenhang mit solchen gravierenden Rechtsverletzungen kamen drei Menschen ums Leben – Bilal Ben Massaud und die Minderjährigen Abou Diakite und Abdallah Said – deren Gesundheitszustand sich während der Zeit auf dem Quarantäneschiff, paradoxerweise, verschlechterte.

Abschließend kann man festhalten, dass die Quarantäneschiffe in Kontinuität zu den beschriebenen Hotspot-Funktionen der Selektion und des Abhaltens stehen: Der von der pandemischen Lage bedingte Ausnahmezustand wird normalisiert und in die übliche Regulierung der Ankünfte integriert.

Die Quarantänezeit, die geographische Trennung innerhalb der Isolationsräume sowie die Selektions- und Kanalisierungsverfahren sind eher für die Regierung nützlich als für die Gesundheitsversorgung.

In diesem Sinne trägt das medizinische Überwachungsregime, das über die Phasen der Ankunft, Identifikation und der Kategorisierung von Personen entscheidet, nicht nur zur Festlegung der administrativ-rechtlichen Wege der Ausländer*inne bei, sondern auch dazu, dass Ausweisungen und Rückführungen zügiger und reibungsloser von Statten gehen – ungeachtet dessen, ob die fundamentalen Rechte von einzelnen Personen auf diese Weise missachtet werden.

 

* CAS: Centro di accoglienza straordinaria – Außerordentliches Aufnahmezentrum
* CARA: Centro di accoglienza per richiedenti asilo – Aufnahmezentrum für Asylsuchende
* UMF: Unbegleitete minderjährige Geflüchtete

 

Jacopo Anderlini – Silvia Di Meo

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Franziska Lorusso