Borderline Sicilia: „Migrant*innen verteidigen heißt alle verteidigen“

Vita.it – Von einem aufmerksamen Monitoring in der Region, über Foltervorfälle in den libyschen Gefängnissen bis hin zum Berufungsverfahren im Interesse zweier Migranten der Diciotti. In unserem Beitrag begeben wir uns auf eine Reise zu den verschiedenen Projekten von Borderline Sicilia, jenem Verein, der sich seit 2007 für die Achtung der Menschenrechte einsetzt. Seit zwölf Jahren ist das Team für Migrant*innen da und hilft denjenigen, die unter schwierigen Bedingungen die Küste Siziliens erreichen. Sie schenken den zahlreichen Zeug*innenaussagen Gehör, zeigen illegale Behandlung in den Einrichtungen an und machen noch vieles mehr.

Seien es die kürzlich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereichten Berufungsklagen im Fall Diciotti, das Dokumentieren von tausenden Zeug*innenaussagen jener Mirgrant*innen die in den letzten Jahren über das Mittelmeer die Küsten Siziliens erreicht haben, bis hin zum aufmerksamen und gewissenhaften Monitoring in der Region. Seit über zehn Jahren ist Borderline Sicilia eine wichtige Anlaufstelle für Migrant*innen, die sich hier in Europa eine bessere Zukunft erhoffen, und darüber hinaus eine der wenigen Stimmen, die sich abseits von der vorherrschenden Meinung positionieren. Für die Beschäftigten im Bereich der Aufnahme ist der Verein eine wesentliche Stütze im Kampf gegen die zunehmende Instrumentalisierung des Themas Migration durch Politik und Medien.

„Vor uns lag das Meer in dem Menschen ertranken. Wir konnten es nicht als Bootsunglück abtun, denn die toten Körper, die von den Wellen an unsere Küste gespült wurden, waren das Resultat einer bestimmten Einwanderungspolitik, die von Italien und der Europäischen Union betrieben wird,“ erinnern sich die beiden Anwältinnen Paola Ottaviano, 40, und Germana Graceffo, 41. Die beiden Expertinnen für Migrationsrecht haben sich 2006 in Agrigent zum ersten Mal getroffen. Seither unterstützen sie mit ihrem Verein jene, die keine Stimme haben, sie informieren und liefern ein Gegennarrativ mit der Veröffentlichung von Berichten und detaillierten Analysen zu dem, was sich im Bereich der Migration ereignet, insbesondere auf Sizilien.

Der 2008 gegründete Verein Borderline Sicilia wird von der protestantischen Kirche in Deutschland, vom italienischen Steuerbetrag 5 per mille und von privaten Sponsoren unterstützt. Neben den beiden Anwältinnen und Expertinnen für Migrationsrecht zählt die Vereinigung drei weitere Mitglieder: Judith Gleitze, Alberto Biondo und Elio Tozzi. Das Team wird zudem von zahlreichen Freiwilligen unterstützt, die ihre Zeit und Energie in das Projekt stecken.

„Damals waren die Ankünfte über den Seeweg bereits konstant, denn die Abriegelung Europas durch Gesetze hatte bereits begonnen. Die Menschen waren schon gezwungen, sich den Schleppern anzuvertrauen. Wie heute verhandelte Italien bereits damals mit Libyen,“ erklären die beiden Anwältinnen und erinnern an das italienisch-libysche Freundschaftsabkommen von 2008.

Die Trauerfeier anlässlich des ersten Jahrestags des Unglücks von Vendicari in der Provinz Syrakus, zum Gedenken und Anzeigen der Dutzenden Menschen, die bei einem Schiffbruch im Meer ertrunken sind, ist zugleich die erste öffentliche Veranstaltung von Borderline Sicilia. An der Feier nehmen unter anderem die Angehörigen der Opfer teil, die von der sizilianischen Vereinigung selbst kontaktiert wurden. Im Gedenken an das Unglück wird am Felsstrand der im Sommer von Touristen aufgesucht wird, eine Statue des Bildhauers Antonino Nicchitta, kurz „Niki“, mit den Namen der Schiffbrüchigen aufgestellt.

Erinnerung und Anklage – Gedenken und Handeln. 2011, als der Arabische Frühling die Ströme der Ankommenden konstant hält, schafft Borderline Sicilia eine Beobachtungsstelle für die Einwanderung auf Sizilien. Es entsteht gleichzeitig der Blog siciliamigranti, der über das Vorgehen auf Sizilien informiert und die Stimmen der direkt Betroffenen, der Migrant*innen, einfängt.

Von den Projekten die Borderline Sicilia in den letzten Jahren realisiert hat, können folgende besonders hervorgehoben werden:
Die Berichte über das Phänomen der sogenannten „unfreiwilligen oder genötigten Schleuser“, einem Thema dem sich auch das Portal Vita angenommen hat;
Die wichtigen Enthüllungen von Missbrauchsfällen von Seiten der Institutionen und des Dienstleistungssektors, die sich in Sizilien auf dem Rücken der Migrant*innen einen eigenen Geschäftszweig aufgebaut haben;
Die Thematisierung der unbegleiteten Minderjährigen;
Die Kritikpunkte des Dublin-Systems;
Die Aufklärung über den Missbrauch und der Gewalt, denen Migrant*innen in libyschen Gefängnissen zum Opfer fallen;

„Wir unterstützen jene, die keine Hoffnung mehr haben und die nirgendwo Hilfe finden, nicht nur Rechtshilfe,“ erklärt Germana Graceffo und unterstreicht dabei wie wichtig es sei, den Migrant*innen eine Stimme zu geben: „ansonsten hätten sie, besonders bei Behörden und Institutionen, gar keine Vertretung.“
Borderline Sicilia ist ebenfalls Teil des Projekts OpenEurope, welches Personen unterstützt, die von Aufnahmesystem und Asylschutz ausgeschlossen sind. OpenEurope wurde 2016 von der Waldenser Diakonie und Oxfam Italien ins Leben gerufen.

Eines der wichtigsten Projekte der letzten Jahre ist zweifelsfrei der Libyen-Bericht, der in Zusammenarbeit mit Medu (Ärzte für Menschenrechte) und Oxfam entstanden ist. Der erste Bericht aus dem Jahr 2017 wird jährlich aktualisiert und vervollständigt. Er basiert auf den Aussagen hunderter Migrant*innen, die in den letzten Jahren die Küste Siziliens erreicht haben. „Aus den gesamten Zeug*innenaussagen geht hervor, dass die Migrant*innen als Tauschware, Schlachtfleisch sowie Opfer unmenschlicher und unwürdiger Behandlung gehandelt wurden. Zudem wird klar, dass das libysche System nicht zwischen Institution und Schlepperei, Miliz und Freiluft-Gefängnis unterscheidet,“ erklären die beiden Anwältinnen. Zudem kritisieren sie die Entscheidungen des ehemaligen Innenministers Marco Minniti: “In Anbetracht dieser erschwerenden Umstände, entscheidet sich die ehemalige Regierung ein weiteres Abkommen mit Libyen auszuhandeln. Dabei wird der libyschen Küstenwache eine finanzielle und logistische Hilfe zugesagt. Dank der gesammelten Zeug*innenaussagen und der zusätzlichen Hinweise aus Libyen, entsteht ein Gesamtbild das sich in den letzten Jahren beständig verschlechtert hat. So haben wir den Entschluss gefasst, die Missstände, die auch unter der Komplizenschaft Italiens weitergehen, anzuklagen.“

Oxfam und Borderline Sicilia hinterfragen in ihrem Bericht von 2019, wie es möglich sei, dass die Zahl der Toten im Mittelmeer auch zwei Jahre nach dem italienisch-libyschen Abkommen nie abgenommen hat. 5.300 Tote waren es 2018 und 143 Tote bei nur 500 Ankünften waren es bisher im Jahr 2019. Die überlebenden Migrant*innen werden hingegen von der libyschen Küstenwache in die Gefangenenlager Libyens zurückgebracht, wo sich die unmenschlichen Bedingungen weiter verschlechtern.

Borderline Sicilia bietet zwei Migranten, die im letzten Sommer zehn Tage auf dem Schiff Diciotti festgehalten wurden, Rechtsbeistand. Fünf der zehn Tage befand sich das besagte Schiff im Hafen von Catania, während man auf die Erlaubnis vom Innenministerium anzulegen. Im Interesse der beiden Männer hat die Anwältin Graceffo zusammen mit ihren Kolleg*innen Antonella Mascia, Leonardo Marino und Nello Papandrea eine Berufungsklage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. Das Gericht muss nun wieder eine Stellungnahme zum Verhalten Italiens abgeben. Im selben Fall haben Borderline Sicilia und Rente Antirazzista Catanese (Antirassistisches Netzwerk Catania) einen Bericht bei der Staatsanwaltschaft von Catanien eingereicht.

„Nach unserem Verständnis handelte es sich dabei um Freiheitsberaubung. Laut internationalen Konventionen hätten alle Personen, die von der italienischen Küstenwache gerettet wurden, in einen sicheren Hafen an Land gebracht werden müssen. Stattdessen wurden die Rechte dieser besonders schutzbedürftigen Personen, die bereits in Libyen gefoltert wurden, nicht respektiert. An Bord der Diciotti wurde ihre persönliche Freiheit eingeschränkt und sie wurden ohne Begründung, die die öffentliche Ordnung beträfe, und ohne gerichtliche Maßnahme festgehalten,“ erklärt Paola Ottaviano, die sich im letzten Sommer an Bord der Diciotti selbst ein Bild machen konnte. „Die Migrant*innen fragten mich, weshalb sie immer noch auf dem Schiff ausharren mussten. 177 Personen waren es zu Beginn, am Ende waren es immer noch 150, die sich nur zwei Toiletten teilten und nachts auf Karton schliefen. Unserer Meinung nach waren die Bedingungen an Bord unmenschlich,“ fügt Paola Ottaviano hinzu.

Die Hingabe mit der sich Borderline Sicilia um die jüngsten und bekannten Fälle im Bereich der Migration kümmert wird auch im täglichen Einsatz an der Basis für die Sensibilisierung widergespiegelt, sogar von Tür zu Tür: „In diesem Moment ist es wichtiger den je, auf alle Menschen zuzugehen. Die Medien sprechen den Menschen nur aus dem Bauch heraus, wir hingegen wollen ihnen zuhören. Jedes unserer Treffen, in Schulen, Kirchen oder Moscheen, kann eine Gelegenheit sein, um Erfahrungen auszutauschen und um das Recht, angefangen bei der Verfassung, neu auszulegen.“

In diesem Kontext ist in Bagheria gerade das Projekt Ponti, no muri (Brücken nicht Mauern) zu Ende gegangen. Als eines von vielen Projekten von Borderline Sicilia, finanziert von der Europäischen Union, hat Ponti, no muri eine neue Anlaufstelle ins Leben gerufen, die Rechtsberatung für Migrant*innen anbietet. „Nach den vielen rassistischen Vorfällen gegen einen Jungen, der in einem Aufnahmelager in der Gegend untergebracht war, hat sich spontan ein Bürgerkomitee zusammengeschlossen. Wir versuchen immer auch im Kleinen zu helfen, dort, wo solche Werte hochgehalten werden,“ erklärt Germana Graceffo. Die Anwältin fügt hinzu: „Wir haben diesen Hass, der heute auch von politischen Reden genährt wird, schon lange gespürt. Heute befinden wir uns auf der Spitze des Eisbergs und wir müssen mehr denn je dagegen ankämpfen, denn der Weg zurück ist schwer.“

Und dann gibt es noch die Geschichten vom Meer. Jene aus Vendicari, Pozzallo oder Lampedusa. Geschichten die unvergesslich im Gedächtnis bleiben. Paola und Germana erinnern sich an einen marokkanischen Vater und seinen autistischen Sohn, die aus Marokko geflüchtet sind, um in Europa medizinische Hilfe zu suchen. Und sie erinnern sich an die äthiopische Mutter, die im Yemen bereits Asyl für die USA bekommen hatte, aber durch Bombenangriffe zu einer zweiten Flucht gezwungen wurde. Auf dem Weg nach Italien musste sie in Ägypten und Libyen unaussprechliche Gewalt ertragen.

Schicksale wie diese können zu Tränen rühren, denn zwischen Einsatz und Hingabe, Erinnerung, Handeln und Gegenerzählung, bleibt die Arbeit von Borderline Sicilia wunderbar menschlich. Dort wo die Politik Distanz und Leere erzeugt, weil sie die Schwächsten sich selbst überlässt, versucht Borderline Sicilia jenen die jede Hoffnung verloren haben und nicht mehr wissen wohin sichere Antworten zu geben.

Alessandro Puglia

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner