Besuch in den von der Organisation Stella Maris geführten Wohngemeinschaften für Asylsuchende und Geflüchtete in Pachino
Entlang der Küste von Syrakus liegt die Stadt Pachino. Gegenwärtig zählt sie 23 000 Einwohner*innen und es befinden sich dort zwei Wohngemeinschaften der Vereinigung SPRAR*. Eine ist für Erwachsene und Minderjährige und die andere für unbegleitete minderjährige Geflüchtete.
Am 10. Mai besuchen wir die Wohngemeinschaft SPRAR für Erwachsene, die von der Vereinigung Stella Maris geleitet wird. Stella Maris leitet zudem noch zwei weitere Zentren in Syrakus, eines für Männer und eines für Frauen. Unser Besuch wurde einige Tage zuvor mit einer verantwortlichen Ansprechperson vereinbart, die uns dann auch gleich dem Leiter und den an diesem Tag in der Rechtsabteilung anwesenden Mitarbeiter*innen vorstellt.
Alle zeigen sich gesprächsbereit, um uns den aktuellen Stand des Projektes zu erörtern. Angemerkt wird, dass Vieles in den letzten Jahren vorangetrieben wurde, jedoch befindet sich gegenwärtig Einiges im Umbau für die Zukunft. Es werden uns die Leitlinien des Projektes vorgestellt, nämlich die der Integration und der sozialen Inklusion von Migrant*innen. Diese Ziele werden mithilfe einer Prise gesundem Menschenverstand über das Heranziehen von Tutor*innen und über die Hinführung zur Selbstbestimmung verfolgt. Die organisatorischen Entscheidungen werden auf der Basis der folgenden Logik gefällt: die „diffuse“ Aufnahme von Geflüchteten in unabhängigen Wohngemeinschaften in der Stadt, sowie die Wertschöpfung eines jeden Geflüchteten mit all seinen Fähig- und Fertigkeiten. Um dies zu realisieren, wurde die Anzahl von Anwesenden deutlich reduziert.
Das Projekt SPRAR in Pachino zählt 15 Planstellen und 15 weitere, die auf zwei verschiedenen Wohnungen verteilt sind. Die Einteilungen richten sich nach dem Voranschreiten des Integrationsprozesses. So werden Migrant*innen, die vor kurzem in Italien angekommen sind und sich somit weniger vertraut und begrenzt sozial unabhängig bewegen, eher in einer Unterkunft untergebracht, wo zwei fixe Mitarbeiter*innen und ein Nachtdienst arbeiten. Jene Migrant*innen wiederum, die schon eine Weile da sind und oft schon arbeiten, leben in Wohnungen, die täglich zu nicht festgelegten Uhrzeiten von einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin aufgesucht werden. Ein Mitarbeiter erzählt uns von einer weiteren zweistöckigen Wohnung, die bis zu fünf Personen beherbergen kann. Sie wurde von der Gemeinde zur Verfügung gestellt und den Migrant*innen zugeteilt, die vor kurzem das Projekt verlassen haben und sich noch in einer prekären finanziellen Situation befinden. Von Beginn an liegt der Fokus des Gesprächs auf dem Ende des Aufenthalts der Geflüchteten in den Projekten. Einer der kritischsten Aspekte des gesamten sogenannten Aufnahmesystems liegt in der Unmöglichkeit Vieler, ihr Migrationsprojekt ohne Mittel und brauchbare Ressourcen fortzuführen, um sich selbst ein würdiges Leben zu ermöglichen. Die verschiedenen anwesenden Bewohner*innen gelten jedoch alle als positive Beispiele der Einführung in den Arbeitsmarkt. Es scheint so, als hätten sie im vergangenen Jahr Praktika mithilfe der Mittel, die der Staat für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zur Verfügung stellt, begonnen. Einige der Bewohner*innen der Projekte wurden mit unbefristeten Verträgen in Geschäften und Lokalfirmen angestellt. Der Leiter der SPRAR-Projekte erklärt, persönlich aktiv geworden zu sein, um zu verhindern, dass in manchen Fällen die Praktika keine vereinzelten Berufserfahrungen blieben, sondern zu möglichen Anstellungen in der Zukunft führten. Diese sollten den Migrant*innen ermöglichen, sich unabhängig zu machen und ihre Familien ernähren zu können. Die desaströsen Verhältnisse in anderen Gegenden vor Augen, ist dies wirklich ein bemerkenswerter Umstand. All zu oft ist die Ausbeutung von Migrant*innen verbreitet und die häufigen Beschwerden bei der Schwarzarbeit auf dem Land seitens der Asylsuchenden ist ein altbekanntes Phänomen, das von den Aufnahmezentren geradezu toleriert und dem niemals ausreichend vorgebeugt und entgegengewirkt wird. http://meridionews.it/articolo/43219/vittoria-indagini-su-caporalato-in-aziende-imprenditori-sfruttavano-richiedenti-asilo/
Es stellt sich also die Frage, wie es in Pachino, das berühmt für seine Gewächs- und Treibhäuser ist, zu so einem glücklichen Ausnahmebeispiel kommt. Die Antwort lässt sich zum Teil in den Schilderungen der Beteiligten erkennen, die Best-Practice-Modelle zur sozialen Inklusion von Migrant*innen zu kennen scheinen. Sie unterstreichen ihren Einsatz, mit Menschen zu arbeiten, und somit mit allen Bewohner*innen individuell einen Integrationsplan zu erarbeiten und ihnen stets ihre Unterstützung zu garantieren. Während wir uns weiter unterhalten begeben wir uns in eine der SPRAR-Wohngemeinschaften. Diese liegt dezentraler als die zweite, die wir besuchen werden. Zu Fuß erreicht man in circa zehn Minuten das Ortszentrum. Beide Wohnungen verfügen über zwei Etagen mit Zimmern, in denen zwei bis drei Betten stehen. Manche haben ein Bad dabei, andere verfügen über sanitäre Anlagen, die mit der Gemeinschaft geteilt werden müssen. Es gibt zudem einen Aufenthaltsraum und ein Speisezimmer. Die erste Wohnung verfügt auch über eine große Terrasse, wo wir auf weitere Betreuer*innen und Migrant*innen treffen.
Zuletzt sind einige neue Bewohner*innen angekommen, die gerade eben volljährig wurden. Die Gegebenheiten, in denen sie sich jeweils befinden, sind vollkommen unterschiedlich: Einige von ihnen haben erst vor kurzem den Antrag für internationalen Schutz eingereicht – sie mussten dafür unnütze acht Monate in einem Erstaufnahmezentrum verbringen – andere warten auf ihren Beschluss und andere wiederum reichen gerade den Widerspruch gegen einen negativen Bescheid ein, während ein Teil der Jugendlichen im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung ist. Die Wartezeit für einen Bescheid beläuft sich auf sechs Monate und die, die Berufung eingelegt haben, müssen sogar über ein Jahr warten. Auch die Herkünfte der Migrant*innen sind sehr unterschiedlich: Senegal, Gambia, Mali, Guinea Conakry, Nigeria, Afghanistan, Bangladesh. Es sind Voraussetzungen, die eine große Anzahl an sprachlichen und kulturellen Vermittler*innen abverlangen würden. Diese fehlen hier jedoch, ein Zustand, über den wir lange diskutieren.
Das Team, das an dem Projekt arbeitet, besteht aus vier Betreuer*innen, zwei Nachtdiensten, die für ein Zentrum zuständig sind, und vier Mediator*innen, die in der Gegend in drei SPRAR-Projekten arbeiten. Psycholog*in und Rechtsberater*in zählen zu den externen Mitarbeiter*innen. Alle Migrant*innen besitzen einen Gesundheitsausweis und dürfen einen Arzt für Allgemeinmedizin konsultieren. Für dringende medizinische Fälle wird auf das nächstgelegene Krankenhaus verwiesen. Die Mahlzeiten werden von einem externen Cateringservice zubereitet und den Migrant*innen wird ein tägliches Taschengeld von 1,50€ ausgezahlt.
Die zuständige Mitarbeiterin für die Planung und Einteilung der Zuständigkeitsbereiche informiert uns über diverse organisatorische Tätigkeiten jenseits der Erarbeitung individuell zugeschnittener Programme für Migrant*innen. Von Montag bis Freitag werden vormittags und abends in der Geschäftsstelle Alphabetisierungskurse von einer dafür qualifizierten Lehrperson abgehalten. In städtischen Einrichtungen besuchen die jungen Leute sodann Italienischkurse oder Kurse zur Erlangung der mittleren Reife. Mit den gleichen Rahmenbedingungen werden Kurse vor Ort angeboten, die die Kultur und Bräuche der Einwohnerschaft oder Informatik zum Inhalt haben. Es gibt auch unterstützende Lehrveranstaltungen für jene, die sich in einer Fahrschule anmelden. Gerade dies ist ein wichtiger Schritt zur persönlichen Autonomie und zu einer möglichen Anstellung.
Neben uns stehen drei junge Migrant*innen, mit denen wir versuchen ins Gespräch zu kommen. Nur einer von ihnen zeigt sich interessiert. Er erzählt uns, wie er gerade versucht, sich der Schneiderei zu widmen, seiner Leidenschaft seit jeher. Momentan schneidert und näht er auf einer Nähmaschine, die vom Zentrum zur Verfügung gestellt wurde, und hofft die Kleidungsstücke bald auf dem Markt verkaufen zu können. Die Jugendlichen erzählen uns von ihren Tagen, den unterschiedlichen Aktivitäten und ihren Spaziergängen ins Ortszentrum oder an die Küste, die sie mit dem Fahrrad erreichen. Sie sind erst seit wenigen Monaten da und zufrieden reflektieren sie über ihre Situation. Sie sind nun in einem viel größeren Land, das mehr Möglichkeiten bietet und in dem man verschiedene Leute kennenlernen kann. Ein absehbares Misstrauen und die Anwesenheit von Mitarbeiter*innen könnten den Grund darstellen, weshalb unser Gespräch nicht länger andauert. Auch das bevorstehende Mittagessen lässt uns zur zweiten Wohngemeinschaft, immer in Begleitung eines Mitarbeiters, weiterziehen. In der Wohngemeinschaft stoßen wir auf eine Gruppe Jugendlicher, die gerade dabei sind fern zu sehen. Sie sind vor drei oder vier Monaten von umliegenden Gemeinden oder vom Aufnahmezentrum für Asylsuchende in Mineo hier her gekommen. Das Zentrum in Mineo haben sie ohne Bedauern verlassen. „Ich war ein Jahr und vier Monate in Mineo ohne irgendetwas zu tun. Immer dieses ständige Warten fürs Essen, für einen Arztbesuch, einfach für alles.“ Aus diesen Schilderungen schließend, verstehen wir die Zufriedenheit über die gegenwärtige Situation. „Hier geht es mir gut, die Mitarbeiter*innen sind zuverlässig und hilfsbereit.“ „Ich besuche gerade die Fahrschule und einen Italienischkurs. Ich möchte nicht weiterziehen. Ich wünsche mir bloß ein ruhiges Dasein.“
Tatsächlich verspürt man eine unbeschwerte Stimmung und Vertrauen zwischen den Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen des Hauses. Wir verabschieden uns mit dem Versprechen und der Hoffnung, die Jugendlichen möglichst bald wieder zu besuchen, damit wir ein bisschen länger plaudern können. Vielleicht außerhalb des Zentrums, jetzt, da wir uns kennen und uns ein bisschen vertraut gemacht haben. Überzeugt davon, dass für die Jugendlichen an diesem Ort langsam wieder die Hoffnung schimmert, um zuversichtlich in die Zukunft blicken zu können, jene Zukunft, die sie beinahe verloren hätten.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia Onlus
Übersetzt aus dem Italienischen von Simone Rosa Pfleger
* SPRAR Sistema di protezione per richiedenti asilo – Aufnahmesystem für Asylsuchende und Geflüchtete