Das Mittelmeer überqueren, und dabei „verrückt“ werden
Artikel einer ehemaligen Sozialarbeiterin
Am 25. Mai haben wir zum letzten Mal mit K. gesprochen. Er war eben gerade zurückgekehrt in sein früheres außerordentliches Aufnahmezentrum (CAS*) nachdem er einen Monat lang im Krankenhaus, aufgrund von unzähligen TSOs, medizinischen Behandlungen gegen seinen Willen, gelegen hatte. Vor drei Tagen wurde er einer weiteren Zwangsbehandlung unterzogen, vielleicht diesmal die letzte.
Kennengelernt hatte ich K. vor ungefähr vier Jahren. Damals arbeitete ich als kulturelle Mediatorin in einem Aufnahmezentrum für unbegleitete, minderjährige Jugendliche. K. wurde dort gleich nach seiner Ankunft in Italien aufgenommen. Mit K. teilte ich die Liebe zu seinem Heimatland Guinea, wo ich lange gelebt habe. Viele hatten mich vor K. gewarnt: „Er ist verrückt, sprich nicht mit ihm. Man weiß nichts über seine Vergangenheit. Halte dich auf Distanz. Stell dich ihm nicht entgegen, denn er ist gewalttätig“.
Als ich ihn kennenlernte, war er schon zweimal wegen TSO*, „obligatorischer“ pharmakologischer Zwangsbehandlung, ins Krankenhaus eingeliefert worden. Er verbrachte die Tage schlafend als Folge der sedativen Medikation. Er wachte nur dann auf, wenn wir Sozialarbeiter*innen (obwohl das nicht in unserem Kompetenzbereich lag) ihn weckten, um ihm seine Medizin zu verabreichen. War er wach und ich hatte Dienst, suchte er mich auf und wir sprachen in seiner Sprache, Fula, über sein Heimatland Guinea und seine Familie. Er liebte den Tanz und die Musik und hatte ein ansteckendes Lachen.
Wenn er lacht steckt er dich an mit seiner Fröhlichkeit, und erinnert an ein Kind. Er spricht Englisch, Französisch, sehr gut Italienisch, Fula, Mandinka, Wolof, Arabisch und drei weitere afrikanische Sprachen. Obwohl er viel jammerte, war es nicht schwierig, ihn im Zentrum zu integrieren. Aber seine „guten“ Tage wurden immer seltener. Obwohl er den humanitären Schutzstatus seit 2017 erhalten hatte, und damit das Recht auf einen Platz in einem Sprar* für Schutzbedürftige, war ein Wechsel wegen seiner psychischen Probleme nicht möglich.
Sein Fall wurde der Präfektur, den Sozialämtern, dem CSM*, dem Obersten Rat der Gerichtsbarkeit Italiens und dem Jugendgericht mehrmals gemeldet.
K. war noch nicht volljährig, als er den humanitären Schutzstatus erhalten hatte. Jedoch war er in der ersten Aufnahmestruktur hängengeblieben, die 2018 von einem Erstaufnahmezentrum (CPA*) in ein CAS umgewandelt wurde. Trotz unserer zahllosen Berichte und Anfragen in ganz Italien ist es uns nicht gelungen, eine geeignete Einrichtung für ihn zu finden. Die Präfektur hatte uns geraten, dass wir ihn bei seiner Volljährigkeit wegschicken sollten, denn – wie soll man einem besonders verwundbaren Asylbewerber in einem CAS gerecht werden?
Und so wurde K. wie eine heiße Kartoffel behandelt – am besten man vergisst ihn, tut so, als es ihn nicht gäbe, macht ihn noch unsichtbarer als er ohnehin schon ist. Aber eines Tages hatte K. genug davon, wie ein Idiot behandelt zu werden, wie einer, der beruhigt werden muss, wie einer der Angst macht.
Er stellte einen Antrag zur Versetzung, ohne darauf eine Antwort zu erhalten. In der Folge nahm er keine Medikamente mehr, er irrte herum, ein Leben, das für seinen psychischen Zustand nicht gut war. Er begann wieder Drogen zu nehmen, kam abends spät und manchmal gar nicht ins Zentrum zurück. Manchmal rief er mich an und bat um Hilfe. Er wollte zurück nach Guinea oder in ein anderes Land.
Covid-19 hat ihm den Rest gegeben. Er fühlte sich alleine, und auch wenn er rausging, traf er auf niemanden. Er war unruhig, nahm keine Medikamente mehr. Anfangs Mai wurde er erneut aufgrund von einem weiteren TSO ins Krankenhaus eingeliefert. Die Verantwortliche hat alles Mögliche unternommen, um einen für ihn auch in Zukunft geeigneten Aufnahmeort zu finden. Seit fünf Jahren wurde ihm die Zukunftsplanung verwehrt, was verhinderte, dass er ein menschenwürdiges Leben führen konnte.
Er wurde behandelt, als wäre er kein vollwertiger Mensch – wie ein armer unheilbarer Verrückter, den man verstecken muss, und der keine Aufmerksamkeit verdient. Gäbe es heute noch Irrenhäuser, würde man K. dort in einer Zelle in der Via Loggia vor sich hinvegetieren lassen.
Eben habe ich die Bestätigung erhalten, dass es für K. keine guten Aussichten gibt. Obwohl er vor zehn Tagen aus seiner stationären Behandlung entlassen wurde, ist er gestern in Handschellen abgeführt worden, er sei „unkontrollierbar“ gewesen. Sein Schicksal liegt nun in den Händen des Obersten Rates der Gerichtsbarkeit Italiens.
Vielleicht handelt es sich bei K. nur um einen weiteren Fall von „aus Afrika kommenden Wahnsinn“.
Giulia di Carlo
Ehemalige Sozialarbeiterin
*CAS: Centro di accoglienza straordinaria – Außerordentliches Aufnahmezentrum
*TSO: Trattamento Sanitario Obbligatorio – Obligatorische medizinische Behandlung, wenn eine Person gegen ihren Willen einer medizinischen Behandlung unterzogen wird (Gesetz vom 23. Dezember 1978, Artikel 34); medizinische Zwangsmaßnahme
*Sprar: Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo – Schutzsystem für Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3.000 – 3.500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Geflüchtete dienen
*CSM: Consiglio superiore della magistratura – Oberster Rat der Gerichtsbarkeit
*CPA: Centro di prima accoglienza – Erstaufnahmezentrum, oft mit Hotspot
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera