Abschiebungen auf offener See gehen weiter: Was Maroni verschweigt
Ein Artikel von Raffaela CosentinoUm die Ankunft von Tunesiern auf Lampedusa zu unterbinden, führt die italienische Regierung seit Monaten Operationen zur erzwungenen Rückkehr auf offener See durch und verletzt dadurch Menschenrechte und internationale Konventionen. Die kollektive Zurückweisung von 104 Migranten vor einer Woche ist kein Einzelfall. Dies bestätigen Informanten nach diesem Vorfall, die an den Rettungsaktionen auf See beteiligt waren und anonym bleiben möchten. Die erzwungenen Rückführungen sind Teil der italienisch-tunesischen Abkommen und wurden bislang der Öffentlichkeit verschwiegen.
Die Einheiten der Marine entdeckten die Boote der Migranten, die sich von Westen auf der „tunesischen Route“ Lampedusa näherten. Die Boote werden im Militärjargon auch als „target“ (Ziel) bezeichnet. Sobald das Ziel gesichtet wird, informieren die Einheiten der italienischen Küstenwache das Kommando des Zolls, der für die Sicherung der Grenzen und die Kontrolle irregulärer Immigration zuständig ist. Ab diesem Zeitpunkt koordinieren Küstenwache und Zoll untereinander die Überwachung der Flüchtlingsboote, überprüfen die Route, die Geschwindigkeit, sowie die nautischen Bedingungen. Sobald vermutet wird, dass das Boot tunesische Gewässer verlassen hat, wird es von Patrouillenbooten oder von Einheiten der Armee aufgegriffen. Die Migranten werden auf das italienische Boot aufgenommen und daraufhin auf ein tunesisches Motorboot übergesetzt, das sie zurück nach Nordafrika transportiert. „Das passiert, weil es Teil der bilateralen Abkommen ist“, erklärte unsere Quelle. Die Identifikation auf See ist oberflächlich. Das zentrale Kriterium ist die Route westwärts in Richtung Lampedusa. Ein weiterer Aspekt, auf den sich die erzwungenen Rückführungen begründen, sind die physischen Merkmale. Anhand der Hautfarbe der Migranten, entscheiden die Militärs per Sichtkontrolle ob diese Araber oder Somalier sind oder aus Subsahara Afrika stammen. Dabei handelt es sich um eine kollektive Identifikation, die keine verlässliche Bewertung darüber zulässt, ob sich potentielle Asylsuchende auf dem Boot befinden – das ganze vor dem Hintergrund, dass der Antrag auf internationalen Schutz sich vom Individuum und der persönlichen Geschichte des Asylsuchenden ableitet. Dies belegt der Fall eines jener Migranten, die am 21. August zurückgewiesen wurden. Er hatte sich ins Meer gestürzt und an einem Knöchel verletzt um der Abschiebung zu entgehen und hat bei seiner Ankunft auf Lampedusa erklärt, Saharawi zu sein (Bevölkerungsgruppe in Westsahara), also ein potentieller Asylberechtigter. Die schnelle Identifikation auf offener See verstößt auch gegen die Regierungsverordnung, die vom italienischen Parlament am 2. August verabschiedet wurde und klarstellt, dass die Identifikation der Migranten innerhalb von 18 Monaten in den sogenannten Zentren zur Identifizierung und Rückführung (CIE) vorzunehmen ist. Es ist nicht das erste Mal, dass Italien auf offener See Migranten zurückweist. 2009 haben solche Operationen, die ein Ergebnis der Abkommen mit dem damaligen Verbündeten Ghaddafi waren, zu internationalen Reaktionen und Verurteilungen geführt. In Straßburg wird Italien vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte der Prozess gemacht, nachdem 13 Somalier und 11 Eritreer, die zur Rückkehr nach Libyen gezwungen worden waren, am 6. Mai 2009 Klage eingereicht hatten. Nach der letzten Anhörung am 22. Juni diesen Jahres, wird das Urteil demnächst erwartet. Der Unterschied zu 2009 ist, jetzt sind die erzwungenen Rückführungen nur „Fantasmen“, denn sie geschehen im Stillen. Seit dem 21. August, dem Tag an dem die erste Rückführung öffentlich wurde, sind auf Lampedusa 4637 Menschen, die aus dem Bürgerkriegsland Libyen stammen und 497 aus Tunesien angekommen. Es könnten viel mehr sein, wenn Migranten nicht auf offener See aufgegriffen und an tunesische Motorboote übergeben würden. Im Mittelmeer vor Lampedusa wurden dieses Jahr bereits Tausende Menschenleben durch die Rettungstrupps der Küstenwache und des Zolls gerettet. Ungleich mehr bekommen die europäische Küste niemals zu Gesicht, da sie vorzeitig abgewiesen werden. Der Meeresabschnitt zwischen Lampedusa, Malta und Nordafrika wird akribisch überwacht. Der Zoll hat drei Patrouillenboote, drei Küstenwachenschiffe und eine schnelle Eingreiftruppe zur Verfügung. Jedes operiert zwischen 18 und 24 Stunden täglich. Dazu kommen die täglichen Luftoperationen der Helikopter des Zolls und der Küstenwache. In der Nähe der tunesischen Gewässer patrouillieren ein „Atlantik“ Flugzeug und zwei Schiffe der Marine. Der Pressesprecher des Generalstabs spricht lapidar von „Überwachung vor dem Hintergrund des Immigrationsnotstandes in Anwendung der italienisch-tunesischen Übereinkunft“. In Realität geht die Prozedur, die in diesen Monaten getestet wird, sehr viel weiter. Anders verhält es sich bei den Rettungsaktionen, die von der Hafenbehörde koordiniert werden und SAR („Save and Rescue“) genannt werden. Wenn ein Boot in Seenot gerät, intervenieren Zollbeamte und Mitarbeiter der Küstenwache um die Migranten vor dem Ertrinken zu retten und überbringen sie an die Mole Favarolo auf Lampedusa, wo sie von Sanitätspersonal versorgt werden. Allerdings ist am 21. August ein SAR Einsatz als erzwungene Rückführung geendet. Die Anordnung dafür kam direkt aus dem Innenministerium, das im Einzelfall entscheidet, ob die Migranten abgeschoben werden sollen.
Raffaella Cosentino ist professionelle Journalistin. Sie arbeitet für “Redattore Sociale” und „La Repubblica“. Ihr letztes Buch „Vier Zentimeter für fünf Kugeln. So berichten wir Journalisten zwischen Bedrohung und Ausbeutung“ wurde von „Corriere Immigrazione“ rezensiert.
(aus dem Italienischen von Elias Steinhilper)