Wir sind am Rande des Abgrunds
„Das Telefon klingelt und weckt mich abrupt. Am anderen Ende der Leitung höre ich unaufhörliches Geheul und Stimmen, die ich nicht entzerren kann. Ich höre nur Hilfeschreie, unzählige, noch ein paar Sekunden und dann Stille. Ich wähle die Nummer nochmal, aber sie ist nicht zu erreichen.“ Das ist die Geschichte einer verzweifelten Mutter eines tunesischen Jugendlichen, der vermutlich gestorben ist. Seinem Tod begegnet die Gesellschaft mit totaler Gleichgültigkeit. Es ist die Endstation der Humanität.
Wir sind so sehr an den Horror gewöhnt, dass wir nicht merken, dass wir vermutlich eine Grenze überschritten haben und am Rand des Abgrunds stehen. Wir stehen auf einem Weg, auf dem es kein Zurück gibt. Die täglichen Gegebenheiten empören niemanden mehr. Eine nigerianische Frau wird an der Grenze zu Frankreich umgebracht und die Antwort lautet: „sie hätte nicht kommen sollen“, „wenigstens die Franzosen wissen, wie sie mit der Invasion umgehen sollen“ oder „eine weniger“. Wir könnten etliche solcher Kommentare wiedergeben, alle mit derselben Botschaft. Aber sie sind nicht wiederholbar aufgrund des Hasses, der in ihnen zum Ausdruck kommt. Auf der anderen Seite gewinnen in Europa politische Kräfte, die genau diesen Hass und Rassismus instrumentalisieren, während alle anderen nur zuschauen und nichts dagegen tun.
In Italien ist die politische Klasse durch rassistische Persönlichkeiten geprägt. Es sind gerichtlich Verurteilte oder Drahtzieher der Mafia, die mit Ländern wie Libyen Vereinbarungen treffen und auf diese Weise bewusst und direkt an der Folter der Migrant*innen teilhaben, die in den offiziellen und inoffiziellen Lagern praktiziert wird.
Europa hingegen finanziert weiterhin Erdogan, nur um den Geflüchteten Einhalt zu gebieten. Der türkische Präsident der Republik erpresst Europa, indem er in Aussicht stellt, die Geflüchteten nicht weiter zurückzuhalten, sollte sich Europa wiederum gegen die Bombenangriffe derjenigen wenden, die gegen das türkische Regime sind. Die Politik hat Blut an den Händen. Die UNO hat ihre Glaubwürdigkeit verloren. Sie stellt sich nicht gegen diejenigen, die Diktatoren und Regime mit ökonomischen Mitteln unterstützen und die Willkürherrschaft Einhalt gebieten.
Auf See erleben wir Rettungseinsätze der libyschen Küstenwache, koordiniert von einer Mission der italienischen Marine, die in Tripolis darum bittet, Migrant*innen abzufangen und zurückzubringen. Viele werfen sich ins Meer, um nicht in diese Hölle zurückkehren zu müssen. Die NGOs sind die einzigen Zeug*innen dieser Zurückweisungen, die de facto von Italien vollzogen werden. Und aus diesem Grund müssen die Hilfsorganisationen außerhalb ihrer Rettungseinsätze auf dem Meer plattgemacht werden, mit allen Mitteln.
Wer schafft es dann überhaupt noch, das Meer lebend zu überwinden und die italienische Küste zu erreichen? Obwohl die Anzahl der Geflüchteten, die Italien tatsächlich erreicht, zurückgeht, steht das Aufnahmesystem vor dem Niedergang.
Die Hotspots von Lampedusa und Milo fungieren als regelrechte Abschiebezentren, nur die Tunesier*innen lässt man passieren. Wir fragen uns, wie es möglich sein kann, dass nur die Schiffe aus Tunesien, trotz Radarüberwachung und Kontrolle durch Satelliten, unbeobachtet passieren können? Vielleicht weil es eine Vereinbarung mit der tunesischen Regierung gibt, die es einfach macht, in die Heimat zurückzuschicken, und so das Geschäft mit dem Festhalten und den Repatriierungen genährt wird? Obwohl die Presse den Hotspot auf Lampedusa für geschlossen erklärt hat, wird er weiterhin für Tunesier*innen genutzt, die dann mit dem Schiff nach Porto Empedocle und schließlich nach Milo gebracht werden. Oder aber sie werden direkt nach Palermo geflogen, wo sie mit einem anderen Flugzeug nach Tunis geschickt werden. Es ist leicht, die Busse aus Trapani zu beobachten, die pünktlich jeden Montag und Donnerstag die Tunesier*innen, die zurückgeschickt werden sollen, zum Flughafen von Palermo Falcone-Borsellino begleiten.
Wer hingegen hier seit Jahren in einem CAS* lebt, der wird durch eine offizielle Verfügung über den Entzug eines Platzes im Aufnahmesystem vor die Tür gesetzt, um Platz zu schaffen und diejenigen zu entfernen, die weniger fügsam sind. Das Ergebnis sind viele Leute, die auf der Straße sind und nach einem Schlafplatz und einem Stück Brot betteln. Orte, die einen Unterschlupf bieten, auch informell, wie zum Beispiel die „Missione Speranza e Carità“ in Palermo, sind am Kollabieren. Die Anzahl an Unsichtbaren, an Ausgebeuteten, an informellen Orten wie Feldlager, Zeltstädte und die Besetzung verlassener Häuser auf dem sizilianischen Ackerland steigen.
Diese Zustände wiederholen sich zyklusartig seit Jahren. Sie sind Folge eines von der Politik eingeschlagenen Weges um das Geschäft mit der Immigration aufrechtzuerhalten und immer einen perfekten Sündenbock an der Hand zu haben: der Migrant als gefährlicher Terrorist und Eindringling. Wenn es nicht sofort einen Kurswechsel gibt, wird es zu spät sein, und wir werden den Rand des Abgrunds dann bereits überschritten haben.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
*CAS – Centro di accoglienza straordinaria, außerordentliches Aufnahmezentrum
Übersetzung von Alma Freialdenhoven