Unterdrückung und Widerstand auf Sizilien und in Ventimiglia

Artikel vom 30. Juli 2021

Borderline Sicilia beobachtet, was bei der Überquerung der Grenze von Nordafrika nach Europa im Mittelmeer passiert. Das Monitoring auf Sizilien zeigt, wie dieses Europa seine eigenen Außengrenzen gegen Personen, die ankommen und beschützt werden sollten, brutal „verteidigt“. Stattdessen lässt man sie unter dem Deckmantel der „Sicherheit“ im Mittelmeer ertrinken.

Wir vergessen oft, dass das Mittelmeer für diejenigen, die die gefährliche Überfahrt überleben, nicht die letzte Grenze ist, die überquert werden muss. Europa hat nicht nur einen Mechanismus der Abgrenzung nach Außen geschaffen, sondern auch die Mobilität der Personen ohne Dokumente innerhalb Europas für illegal erklärt und kriminalisiert.

Seit der Dublin-Verordnung haben die Menschen, die in Europa ankommen so gut wie keine Möglichkeit, Asyl in einem anderen Staat als dem Staat, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten haben, zu beantragen. Der Wille und die Hoffnung, innerhalb Europas Staatsgrenzen zu übertreten und Bewegungsfreiheit zu erlangen, welche eigentlich jeder Person rechtlich zustehen sollte, bestehen nach wie vor. Es gibt zwar sogenannte „relocation“-Programme, über die Personen vom Staat ihrer Ankunft in Europa in einen anderen Mitgliedstaat gehen können, aber die Auswahl dieser Menschen wird hier auf der Grundlage von Kriterien getroffen, die nicht fest umrissen sind und ohne, dass die Personen ihren Willen dazu zum Ausdruck bringen können (Ad Hoc Relocation). Alle Menschen, unabhängig von ihrer Nationalität, müssten das Recht dazu haben, eigenständig zu entscheiden, wie und wann sie weiter reisen.

Auf Sizilien wird häufig von Personen erzählt, die auf der Insel gelebt haben oder sich dort aufgehalten haben, um dann nach Norditalien, Frankreich oder Deutschland weiter zu reisen. Wir sind jedes Mal erfreut, wenn eine weitere Etappe in Richtung des jeweiligen Ziellands geschafft ist und die Bewegungsfreiheit nicht mehr vollständig eingeschränkt ist. Aber was bedeutet die Reise tatsächlich für diese Personen? Welche Hindernisse liegen auf ihrem Weg? Eine Sache ist sicher: Diese Personen können im Unterschied zu den Personen, die über einen europäischen Pass verfügen, nicht einfach ein Ticket kaufen und in den nächsten Zug oder Bus einsteigen, oder das nächste Flugzeug nehmen.

Dementgegen ist es wahrscheinlicher, – wenn Frankreich beispielsweise deren Zielstaat ist – dass die Route dieser Reise über Ventimiglia verläuft, eine Stadt in Norditalien an der französischen Grenze. Die Polizeibeamten, die an der Staatsgrenze die Autos mit italienischem oder französischem Kennzeichen durchwinken oder, die in den Regionalzügen Personen „europäischen Aussehens“ nicht aufhalten, legen gegenüber den Menschen, die eben nicht so aussehen, ein gänzlich anderes Verhalten an den Tag. Ventimiglia ist eine durchlässige Staatsgrenze, und viele Personen schaffen es, sie zu Fuß entlang der Küste oder mit dem Zug zu überqueren, aber es ist wie ein Glücksspiel. Es besteht immer das Risiko, zurückgewiesen zu werden, und Stunden in einem Container an der Grenze zu verbringen, wo man körperlichen und verbalen Misshandlungen der Grenzpolizei ausgesetzt ist.

Um diesem Risiko vorzubeugen, entscheiden sich viele Personen ohne Dokumente dazu, nachts die Staatsgrenze in den Bergen zu überqueren, wobei sie durch ein Waldgebiet müssen. Aber bei Nacht sind die Wegweiser auf den Bäumen und Steinen schlecht zu erkennen und man verliert leicht die Orientierung. Nicht ohne Grund wird der Pfad häufig als „Pfad des Todes“ bezeichnet. Nachts ist auch der Weg an der Autobahn entlang nicht weniger gefährlich. Selbst wenn man den Pfad über die Berge wählt, bleibt das Risiko bestehen, von der Grenzpolizei gefangen genommen zu werden und in einem Container mit sehr wenig Platz innen und ohne Sanitäranlagen die Nacht verbringen zu müssen. Dennoch ist die Hoffnung, dass sich die Umstände bald verbessern werden, spürbar.

Die Staatsgrenzen haben immer zwei Seiten, die der Abreise und die der Ankunft. Im Gegensatz zu Sizilien ist Ventimiglia ein Ort der Abreise innerhalb Europas, weshalb wir die Bedingungen, unter denen die Personen beschließen, ihre Reise fortzusetzen vor Augen haben. Demgegenüber kennen wir die Bedingungen, die in den Orten der Abreise außerhalb Europas bestehen, nur aus den Erzählungen der Personen, die von dort hier ankommen.

In Ventimiglia dienen die Schluchten unter den Autobahnbrücken als „temporäre Unterkunft“ und als Ort der Abreise zu den Staatsgrenzen. Hier bringen Freiwillige jeden Tag Lebensmittel, Kleider und mobile Akkus für Handys vorbei. Dieser Ort wird dann auch zum „Informationszentrum“, wo die Reisenden sich mit ihren Fragen an Aktivist*innen wenden können. Diese Unterstützung wurde für lange Zeit verboten, weshalb man das im Geheimen machen musste. Jetzt wird es toleriert, aber nur in Anwesenheit der Polizei.

Die Personen, die man hier trifft, sind überwiegend Männer, weil „FLINTA“-Menschen (Frauen, Lesben, Inter-, Nicht-binären-, Trans- und Agender-Personen) sich kaum unter der Brücke aufhalten oder die Grenzüberquerung machen – und wenn sie es tun, dann werden sie meist von einem Mann begleitet. Wo diese Menschen sind, die es ja gibt, aber die man kaum sieht, ist unklar. Das Einzige, was sicher ist, ist, dass die Reise für sie aufgrund von ihrer geschlechtlichen oder sexuellen Identität noch gefährlicher ist. Eine andere Gruppe, die man an dieser Staatsgrenze nicht sieht, sind Tunesier*innen.

Wegen der Verschlechterung der Situation in dem nordafrikanischen Land haben in letzter Zeit immer mehr Personen die Route über das Mittelmeer auf sich genommen. Aber aufgrund von bilateralen Abkommen zwischen Tunesien und Italien, werden (fast) alle tunesischen Personen sofort nach dem Ende der Quarantänezeit, nach der Ankunft auf Sizilien, von Italien abgeschoben oder zurückgewiesen. Insofern haben sie wegen ihrer Nationalität praktisch keine Möglichkeit, sich ein Leben in Europa aufzubauen.

Mitte Juli fand ein  „Grenzüberschreitendes Camp“ in Ventimiglia statt, um die Abschaffung dieser Grenze zu fördern und die Aufmerksamkeit auf die diskriminierende europäische und italienisch-französische Politik der lokalen Institutionen zu lenken. Die Handlungen von Aktivist*innen haben deutlich gezeigt, dass die Aufmerksamkeit für dieses Thema nicht gerne gesehen ist. Es wurde versucht, ein Lager in der Nähe der Autobahnbrücke einzurichten, das für Passant*innen sichtbar sein sollte, aber das wurde umgehend geräumt und das Lager wurde außerhalb der Stadt verlegt. Eine Veranstaltung in der Stadt wurde zwar toleriert, aber am darauffolgenden Tag hat die Polizei in einen friedlichen Protest direkt an der Grenze eingegriffen.

Zu Beginn durften die Autofahrer*innen, die die Grenze überquerten, mit einem Flugblatt darüber informiert werden, dass nicht jede*r das Recht auf einen problemlosen Grenzübertritt hat. Später wurde die Grenze immer wieder für ein paar Minuten geschlossen. Nichtsdestotrotz kann man vermuten, dass unsere Botschaft die Autofahrer*innen erreicht hat: Die Staatsgrenzen sind (noch) nicht für alle offen und der Grenzübertritt ist (noch) nicht für jede*n möglich.

Je nach der Grenze, egal ob See- oder Landesgrenze, zu Drittstaaten oder zu Mitgliedsstaaten der EU, sichtbar wie bei Ventimiglia oder unsichtbar wie auf Sizilien, sucht die EU Strategien, um die Bewegungsfreiheit bestimmter Personen einzuschränken. Von den Personen, die wegen der Politik der europäischen Staaten in Bewegung gesetzt wurden, die über Jahrhunderte ihre Hierarchien der Macht aufgebaut haben und fortführen. In der Vergangenheit war es der Kolonialismus, heute ist es die kapitalistische Ausbeutung, einschließlich Waffenexporte in Krisengebieten und wirtschaftlichen Praktiken, die das Klima schädigen.

Dennoch halten Europa und seine Mitgliedstaaten an den Außengrenzen an der sogenannten „Grenzschutzagentur“ Frontex fest, die regelmäßig die Menschenrechte verletzt und Libyen dafür bezahlt, dass die Flüchtenden davon abgehalten werden, die europäische Grenze zu überqueren. Gleichzeitig schließt Europa seine inneren Grenzen für all diejenigen, die den gefährlichen Weg über das Mittelmeer auf sich genommen haben und überlebt haben.

Diese Nekropolitik, die die Bewegungsfreiheit einschränkt, muss an jeder Grenze aufhören.

Alle Grenzen sind konstruiert, weshalb auch alle Grenzen wieder abgeschafft werden können.

 

Josephine Fahr
Borderline Sicilia/borderline-europe

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Franziska Lorusso