Tunesien sicherer Hafen? Geschichten von Gewalt und Abschiebungen von der tunesisch-libyschen Grenze
Tunesien bildet eine doppelte Grenze: Die externalisierte europäische Außengrenze und jene mit Libyen, und sie ist der Schauplatz eines ständigen Transits von Tausenden von Migrant*innen: Männer, Frauen und Kinder flüchten jeden Tag aus Libyen, gelangen an die tunesischen Küsten, überqueren das Meer, zertrampeln seine Erde, arbeiten dort und werden ausgebeutet. Ohne Rechte, weder für Lebende noch für Tote, in einem Kommen und Gehen von Körpern und Geschichten, deren Erinnerung und Bewusstsein oft verloren geht.
Die Zählung der Todesfälle und Ankünfte ist jedoch unabdingbar, wenn die Geschichte die Schrecken und die Gewalt auslässt, die an diesen Ufern ohne Unterlass passieren. Die Geschichte von Migrationsrouten und -geschichten sind dann wertvolle Zeugnisse, um die Geografie dieser Brutalität abzubilden.
Tunis, Zarzis, Medenine, Ben Gardane und Ras Agedir – Dreh- und Angelpunkte im Verkehr von Migrant*innen auf tunesischem Boden – dies waren auch die Orte, an denen wir in der ersten Augustwoche als nationale und internationale Verbände intervenierten: Bergamo migrante antirazzista, Borderline Sicilia, Campagna LasciateCIEntrare, Caravana Abriendo Fronteras, Carovane Migranti, Dossier Libia, Europe Zarzis Afrique, Movimiento Migrante Mesoamericano, Progetto 20k, Progetto MeltingPot Europa, und Einzelpersonen. Auf Einladung der Gruppe „Europe Zarzis Afrique“ fand vom 1. Bis 5. August in der Stadt Zarzis eine Verbindung von Reflexion und dezentraler Aktion statt, die einen polysemischen und heterogenen Raum eröffneten und sich schließlich bis zu den anderen Durchgangsstellen der Grenzgebiete erstreckten.
Unser Beitrag bestand darin, bei den Einheimischen eine Anklagearbeit und ein aktives Gedächtnis zu fördern, indem wir uns der Gewalt der kriminellen und kriminalisierenden Politik entgegenstellen.
Zeugnisse und Berichte über diese Tatsachen haben bestätigt, dass Tunesien angesichts der zahlreichen Inhaftierungen, Verstöße und Deportationen kein sicheres Land für Migrant*innen und Geflüchtete ist.
Land der Ankünfte und Abreisen: Erinnerung und Aktion in Zarzis
Die Stadt Zarzis ist eine Schlüsselstelle dieses intensiven und beständigen Kommens und Gehens hinter den Ziegeln der Festung Europa. An den Küsten ziehen Migrant*innen im ununterbrochenen Verkehr nach Europa los, während die Körper der aus Libyen gestarteten Migrant*innen leblos zurückkehren nach den Havarien ihrer Boote. Die tunesischen und subsaharischen Migrant*innen boten uns die Geschichten ihrer Reisen an, die einige Monate bis einige Jahre dauern können, und sich entlang einer komplexen Migrationsroute ohne jede Gewissheit erstrecken.
Unter den lokalen Akteur*innen gibt es diejenigen, die sich täglich dafür einsetzen, den Leben und dem Tod wieder ihren Wert beizumessen, um der europäischen Kriminalisierung etwas entgegenzusetzen. So sei erinnert an die Arbeit der tunesischen Gruppe von Fischer*innen, die Migrant*innen auf See retten, oder an den Einsatz des Fischers Chamseddine Marzoug, der die Leichen auf dem „Friedhof der Unbekannten“ in einem isolierten, staubigen und vergessenen Stückchen Land beerdigt. Dann gibt es die Arbeit um das Ablegen von Zeugnissen der Mütter der auf See verschwundenen tunesischen Migrant*innen, die auch Protagonistinnen eines Dialogs mit Ana Enamorado und Mario Vergara waren, und damit ein Beispiel sind für einen unaufhaltsamen Kampf für die Gerechtigkeit ihrer vermissten Familienmitglieder.
Nicht zu vergessen das Zeugnis, das der Dichter Mohsen Lihidheb abgibt, indem er Gegenstände der Migrant*innen sammelt, die das Meer auf die Erde zurück spült, und Ordnung bringt in die von Männern und Frauen getragenen Schuhe, in einem Museum der Erinnerung, das versucht, Leben einen Sinn zurückzugeben, die von der Brutalität der Grenzen verschwendet wurden. Schuhe, die von der Strömung ans Ufer gezogen werden, und Schuhe, die auf den Wegen nach Europa unterwegs sind: In der Schwebe dieses Landes stehen Abreisen und Ankünfte auf der Tagesordnung. Neben den tunesischen Einheimischen – die seit Jahrzehnten Harraga betreiben und damit die Mittelmeergrenze auf kleinen Booten „verbrennen“ – gibt es zahlreiche Migrant*innen aus Ländern südlich der Sahara, die durch Tunesien nach Europa reisen. Die Phase des Zwischenhaltes in Tunesien ist ein Zustand der Schwebe und des unruhigen Wartens für die subsaharischen Migrant*innen, bevor sie es in Richtung des ersehnten Europas verlassen. Hier wäre es nach Ansicht der Gruppe „Europe Zarzis Afrique“ wünschenswert, Labore alternativer Wirtschaftens zu fördern, die den Bau von Räumen der Existenz und des Zusammenlebens ermöglichen.
Aus unserer Beobachtung dieses komplexen Raumes ergibt sich eine klare Kartierung der Kritikpunkte: Nekro-Biopolitik und strukturelle Gewalt charakterisieren eine Realität, in Anbetracht derer es schwierig ist gleichgültige Zuschauer*innen zu bleiben.
Von Tunis bis Medenine: Die Bedingungen der Segregation und Gewalt von Geflüchteten und unbegleiteten Minderjährigen
Eritrea, Sudan, Mali, Senegal, Tschad, Nigeria, Elfenbeinküste, Guinea Conakry. Dies sind die Herkunftsländer der subsaharischen Migrant*innen, die wir in Medenine und Zarzis kennenlernten: Über 1000 Asylsuchende werden in Zentren gesammelt, in denen sich die Lebensbedingungen zusehends verschlechtern. Migrant*innen klagten über Depressionen, prekäre Hygienebedingungen, fehlendes Taschengeld, fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten und Integration.
Wir haben festgestellt, dass es viele schutzbedürftige Personen gibt, die Hilfe benötigen würden und stattdessen von den lokalen Strukturen, die Gegenstand rassistischer Angriffe sind, ausgeschlossen sind. Mehr als eine Person ist so verzweifelt, dass sie droht, Selbstmord zu begehen oder in die libysche Hölle zurückzukehren, um zumindest die Chance zu haben zu arbeiten.
Auch im Zentrum für unbegleitete Minderjährige, in dem sich die Kinder über völlige Verlassenheit, mangelnden Gesundheitsschutz und Rechtsbeistand beschweren, verbessern sich die Bedingungen nicht.
Ein besonders schwerwiegender Fall ist der um die Gruppe von etwa 200 eritreischen Asylsuchenden, die sich zwischen Tunis und Medenine aufhalten. Diese Menschen erhielten vom UNHCR einen Ausweis, der sie als Geflüchtete ausweist, der jedoch in Wirklichkeit wertlos bleibt, da Tunesien kein internationales Abkommen über die Anerkennung des Flüchtlingsstatus unterzeichnet hat. Aufgrund dieses Paradoxons haben eritreische Migrant*innen keinen Zugang zu jeglichen Leistungen: Ihnen wird die rechtliche und medizinische Unterstützung verweigert, die sie am meisten benötigen würden, und sie haben keine Möglichkeit sich in Richtung sicherer Länder zu bewegen. Durch ihre Erzählungen sickert die Angst durch, an die Öffentlichkeit zu gehen. Tatsächlich versuchten Asylsuchende am 20. Juni, während des Internationalen Tag der Geflüchteten in Tunis, ihren Forderungen durch einen friedlichen sit-in Nachdruck zu verleihen, worauf die tunesische Polizei brutal mit Verhaftungen und Schlägen reagierte.
Im Anschluss an diese Berichte haben wir eine Gruppe von Anwält*innen alarmiert und eine an das UNHCR Tunesien gerichtete Erklärung verfasst, in der die Rechtswidrigkeit der Bedingungen angeprangert und sofortiges Handeln gefordert wurde.
Ben Gardane und Ras Agedir. Die versteckte Gewalt an der libyschen Grenze und der Fall der 36 deportierten Ivorer*innen
Die Brutalität der tunesischen Migrationspolitik, die wir miterlebt haben, erreichte am 4. August ihren Höhepunkt mit der Deportation von 36 ivorischen Migrant*innen aus der Stadt Sfax an die libysche Grenze: 21 Männer, 11 Frauen, darunter eine Schwangere und 4 Kinder wurden im Grenzgebiet von Ras Agedir ausgesetzt und für vier Tage in einer Militärzone gelassen. Diese Gewalt wurde durch ein Video belegt, das von den tunesischen Aktivisten des „Forum tunisien pour les Droits Economiques et Sociaux“ online verbreitet wurde. Unsere Mobilisierung für die Befreiung der 36 Migrant*innen – koordiniert unter der Beteiligung der Aktivist*innen – wird unvermindert fortgesetzt, um eine Tragödie zu verhindern.
Dank des telefonischen Kontakts mit einem der Deportierten, A., war es möglich, die Verhältnisse der Ivorer*innen unter der Kontrolle und Verantwortung des Garde Nationale zu überwachen: Die Migrant*innen litten tagelang unter der Hitze und dem Mangel an Nahrung, die schwangere Frau erlitt Blutverlust und Krämpfe. Die von der Vereinigung „Terre pour Tous“ vor dem UNHCR-Hauptquartier organisierten Mobilisierungen in Tunis, die Mahnwache an der Grenze zu Libyen, die Verbreitung von Pressemitteilungen, der Druck auf die Internationale Organisation für Migration (IOM), UNHCR, den Roten Halbmond und Amnesty International ließen es zu nach langen Tagen die Situation aufzulösen.
Die Position der tunesischen Regierung war es immer, die beschämende Handlung zu leugnen bis hin zum Versuch die Arbeit italienischer Aktivist*innen zu diskreditieren, trotz der Beweise in Form von Audioaufnahmen, die die Stimmen der Migrant*innen sammeln. Selbst als die Delegation von Aktivist*innen, die ununterbrochen die Stellung an der libyschen Grenze gehalten haben, in das Militärgebiet in Richtung des letzten Kontrollpunkts im libyschen Gebiet von Ras Agedir gedrungen sind um den Polizeichef zu treffen: Unter der Grenzmauer zu Libyen, nur wenige Schritte von dem Ort entfernt, an dem die Migrant*innen ausgesetzt wurden, hat die Behörde, die uns getroffen hat, wissentlich jegliche Informationen bestritten. Nicht nur das: Nach der Befreiung der Migrant*innen lehnte die tunesische Regierung weiterhin ihre Verantwortung ab und erklärte, dass die geretteten Menschen, nicht jene seien, die von den übereifrig fantasierenden Aktivist*innen gemeldet worden sind.
Diese Haltung des sich Schließens passt perfekt zu dem Szenario der Verweigerung zu dem, was zwischen den beiden Ufern des Mittelmeers passiert, in diesem Meer und in jenen Ländern, in denen Rechte systematisch verweigert werden. Wir waren uns dessen als wissende Zeug*innen bewusst: In jenen Tagen, in der besorgten Erwartung der Anrufe vom Freund A., haben wir den hohen Preis zu schätzen versucht den die dramatische und auffällige Stille sowohl in Europa als auch an seinen externalisierten Außengrenzen erzeugt.
Netzwerke und Grenzwiderstände für die Bewegungsfreiheit
Die Schwere der Ereignisse, von denen wir Zeug*innen waren, drückt ohne jeden Zweifel die Gefahr des Transits und des Aufenthalts der Migrant*innen in Tunesien aus, einem Land, das wir als nicht sicher erachten, obwohl Europa es weiterhin als politischen Partner bei der Verwaltung der Migration betrachtet.
Aus den Beobachtungen folgt eindeutig, dass die Politiken der Kriminalisierung, der Sicherheit und der Bestrafung der europäischen Staaten dazu beiträgt, neue Formen der Herrschaft und Ausbeutung zu formen, die sichtbar gemacht und gemeldet werden müssen. Die Unterstützung von Aktivist*innen und Verbänden ist heute ein grundlegender Beitrag im Rahmen gemeinsamer Mobilisierungen, die an geografischen Grenzen oder weit davon entfernt stattfinden, in einem Mittelmeerraum, der – dies soll nicht vergessen werden – uns gehört und Teil unserer Geschichte ist.
Tunesien ist nicht nur ein von Europa finanzierter Außenposten Libyens oder eine vom mörderischen Meer umgrenzte ausgelagerte Grenze. Tunesien ist auch ein Ufer, das zum weiten Mittelmeerraum gehört, in dem ein transnationales Widerstandsnetzwerk aufgebaut werden kann. So wurden um die Bewegungen von Geflüchteten und Migrant*innen herum Verbindungen aufgebaut, die sich auf die Subjektivität von Migrant*innen und Aktivist*innen stützen.
Ein Beispiel dafür ist die Zusammenarbeit zwischen den Verbänden in Zarzis, geeint zwischen Tunesien und Italien, von Spanien nach Mexiko, die sich auch am letzten Sitzungstag in einer gemeinsamen Erklärung abzeichnete. „Liberté de mouvement sans visa“, „Stop violence in Lybia“, sind die Schlüsselaussagen im Hafen von Zarzis, in unmittelbarer Nähe eines Meeres, das Geschichten und Tragödien in sich trägt.
„Lass Zarzis wie Riace sein, ein brillanter Stern in der Geschichte und auf den Pfaden von Migrant*innen“ rezitierte unser Freund Mohsen in seinem Gedicht „Comme Riace“ und forderte uns auf, ein Widerstandsnetzwerk zwischen den beiden Ufern des Meeres aufzubauen.
Wir müssen diese Verpflichtung annehmen, zwischen dem Wunsch zu verstehen und dem Willen zur Transformation. Denn in diesen dunklen Zeiten zwischen den beiden Seiten des Meeres – jenseits den Küsten Siziliens und der von Zarzis – wird derselbe aktive Ungehorsam gegenüber den Praktiken der Mobilitätsbeschränkung zum Leben erweckt, gegenüber der illegitimen Beschränkung, gegenüber der Ausgrenzung.
Unser Ziel ist es, dass tunesische Fischer*innen weiterhin Migrant*innen retten, sowie die NGOs, die unentwegt unter Attacke stehen. Dass die mutigen Schritte derer, die die Grenzen in Frage stellen, nicht unterbrochen werden, so wie das Schwanken, der im Erinnerungsmuseum erwähnten Schuhe der Schiffbrüchigen unaufhörlich ist. Dass die Zeugnisse der tunesischen und mexikanischen Mütter der Verschwundenen dazu beitragen, diesen Tragödien ein Ende zu setzen; dass die Geschichten aller Migrant*innen an den Grenzen nicht vergessen werden, bis dass die Körper wieder Menschen werden und die Zahlen wieder Namen werden. Und damit nicht zuzulassen, dass die Lücken geschlossen, die Schuldigen ungestraft, die Wahrheit beseitigt werden, wie eine weitere der vielen gleichgültigen Wahrheiten der Welt.
Dies ist die konkrete Art und Weise, all jene zu unterstützen, die Grenzen überschreiten, die unsere Forderungen gegen die europäische Politik umsetzen und so handeln, dass das Recht auf Freizügigkeit ein Recht zum Nutzen aller ist.
Nun, wir werden weiterhin an den Grenzen bleiben, um sie zu leben, zu überwachen, auszusagen und zu melden. Um nicht der Gewohnheit zu erliegen, um nicht gleichgültig zu sein, um Widerstand zu leisten. Um niemals zu vergessen, dass dies auch unsere Geschichte ist.
Silvia Di Meo
Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen übersetzt von Francesca Barp