Trapani. Aufnahmemaschinerie außer Kontrolle
Anlandung ohne Ende, unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge allein gelassen: 5 Monate zum Ausfüllen des Modells
C3*, 18 Monate Wartezeit für einen Termin vor der Gebietskommission, kein
Taschengeld mehr. Und schließlich ein Lager mit 600 Migranten, um auf „unserer“
Erde zu arbeiten und Oliven zu ernten für „unser“ extra reines Öl.
Aber der Reihe nach. Die vor kurzem zu Ende
gegangene Woche war für die Region Trapani nicht besonders positiv. Es gab
Proteste und Hungerstreiks wegen der schlechten Aufnahme, Ablegerin eines
Systems, dass unfähig ist, die Bedürfnisse der Menschen wahrzunehmen, die ohne
Ende in Angst leben.
Am vergangenen 12. Oktober ist
das Schiff von „Ärzte ohne Grenzen“, das 700 Menschen gerettet hat, am
späten Nachmittag im Hafen von Trapani angekommen und hat versucht anzulegen.
Vielleicht wegen der Wetterbedingungen (starker Wind? – aber das ist keine
Neuigkeit im Hafen von Trapani) oder weil die Willkommensmaschinerie nicht
bereit war, hat das Hafenamt zunächst verlangt, die Anlandung der Migranten auf
den nächsten Tag zu verschieben; wegen der endlos langen Reise der Passagiere
ist man dann doch zur Ausschiffung übergegangen; sie hat um 19:00 Uhr begonnen
und wurde am kommenden Tag, dem 13. Oktober, um 13:30 Uhr beendet.
Die 700 Migranten haben mit
den wenigen Wärmedecken, die zur Verfügung standen (für alle reichten sie nicht)
im Hafen geschlafen; unter ihnen waren 160 Frauen (davon 10 schwanger) und ca.
50 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge; sie haben am eigenen Leib erfahren,
was Aufnahme in Italien bedeutet: Eine Maschinerie in andauerndem Notstand,
ohne ein seriöses Programm, das die Menschen im Blick hat. Circa ewige 15
Stunden dauerte die Anlandung, die noch kein Ende gefunden hat, da fast alle
Personen in den Norden verlegt werden; in der Gegend von Trapani fehlt es an
Plätzen.
Ungefähr hundert Migranten
haben im CAS** Platz gefunden, das von Badiagrande in Valderice geleitet wird.
Es ist zu einer Art Zentrum zur Weiterverteilung geworden, da es auch mehr als
200 Personen aufnehmen kann. Für die letzten, die auf dem Landungssteg ankamen,
gab es nicht mal mehr eine Tüte mit Essen: Die Aufnahmemaschinerie war nicht
auf Frühstück eingestellt. So haben die „Ärzte ohne Grenzen“ dafür gesorgt,
dass Kraft–Nahrung verteilt wurde,
die sich an Bord des Schiffes, der Bourbon Argos, befand.
Der kritischste Punkt,
sowohl was die Anlandungen selbst als auch die Zeit danach angeht, sind die unbegleiteten
minderjährigen Flüchtlinge, die am meisten Verletzlichen, die sich am wenigsten
dessen bewusst sind, was in Italien passieren kann. Auch in Trapani ist die Entscheidung
über die Erklärung darüber, wer in die Gruppe der unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlinge gehört, beliebig; so liegt es am „Gewissen“ des Beamten,
der Dienst hat, der wahrscheinlich nach Befehlen, die aus Hinterzimmern kommen,
nur dann sein OK gibt, wenn es offensichtlich ist, dass es sich um einen
Minderjährigen handelt; andernfalls votiert er für volljährig; für Volljährige
findet sich leichter ein Platz in einer Einrichtung und so werden eine ganze
Reihe von Schwierigkeiten, in der Kommune, in der Präfektur, im zentralen
System, vermieden.
Das ganze Aufnahme-System
befindet sich schon in Schieflage, aber für unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge noch ein bisschen mehr. Die vom Minister gewollten speziellen
Zentren, die Zentren des Projektes Rainbow
(neue Zentren für die Verteilung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge) und andere,
sind alle voll belegt und funktionieren zum Großteil nicht so, wie sie sollten.
In Alcamo zum Beispiel wurden wir von verschiedenen unbegleiteten
minderjährigen Flüchtlingen im Zentrum für Jugendliche, das sich in der Via Ugo
Foscolo befindet, angesprochen; dies wird von der Kooperative Dimensione uomo 2000 geleitet, die nicht
neu ist im Aufnahmegeschäft (kürzlich hat sie zwei Wohngruppen in Trapani wegen
unterschiedlicher Schwierigkeiten geschlossen). Die Jugendlichen haben sich beklagt,
dass sie seit über 90 Tagen (die vom Gesetz vorgesehene Höchstdauer) in der
Einrichtung zur Verteilung eingesperrt sind. Daran ist nicht unbedingt die
Betreibergesellschaft schuld, sondern ein System, das unfähig ist, angemessen
aufzunehmen und welches täglich Proteste hervorruft. Darüber hinaus sagen die
Gäste, dass sie die Grundausstattung zur Hygiene nicht mehr bekommen hätten,
dass sie noch immer die Kleidung trügen, die sie sofort nach ihrer Ankunft
bekommen hätten, dass das Essen mies sei und dass es kein Aktivitäten
irgendwelcher Art gäbe; aber was noch schlimmer ist: Der Zeitverlust durch
Verlegung macht aus ganz vielen minderjährigen Jugendlichen Volljährige, ohne
dass im Verlauf der Monate irgendein Verfahren zum Schutz auf den Weg gebracht
worden wäre; so wird ihre ohnehin prekäre Zukunft aufs Spiel gesetzt.
Ein Mitarbeiter hat uns die
Schwierigkeiten bei der Arbeit im Zentrum bestätigt. Er erzählt uns, dass oft
sogar die Milch beim Frühstück fehlt. „Die Jugendlichen stehen morgens nicht
gerne auf!“, Und er hat uns auch anvertraut, dass seine Müdigkeit und die
seiner Kollegen ausgesprochen groß ist: „Wir Arbeiter reißen uns ein Bein aus, und
werden teilweise auch von den Kindern und Jugendlichen beleidigt, aber wir
bemühen uns, obwohl wir von den Institutionen und der Betreibergesellschaft
nicht unterstützt werden…In erster Linie löffeln wir die Suppe aus.“
Wir haben alle kritischen
Punkte, die wir im Lauf unseres Besuches gesammelt haben, an Save the Children und den UNHCR
weitergeleitet, die mehrmals die Möglichkeit hatten, die Einrichtung zu
besuchen; wir hoffen, dass es eine gewissenhafte Prüfung dessen gibt, was in
dem Zentrum geschieht und dass das Zentrum, das von der Kooperative Dimensione uomo 2000 geleitet wird, auf
ein anständiges Niveau zurückgebracht wird.
Wenn die unbegleiteten
minderjährigen Flüchtlinge weinen, dann die Erwachsenen nicht weniger,
angesichts des Zustandes einiger CAS** in der Provinz Trapani. Wir sind in
Triscina gewesen, im außerordentlichen Aufnahmezentrum, das von der Gruppe Insieme geleitet wird, dem ehemaligen
Hotel Aerus. Die Unzufriedenheit der Gäste (85, vor allem Gambier, die einmal
in Italien angekommen alles durchgemacht haben, da sie auch durch das CIE***
von Milo gegangen sind), die sich dort seit ungefähr zwei Jahren aufhalten, ist
vor 10 Tagen in einen Protest gemündet, bei dem sie die Staatsstraße des
Örtchens am Meer blockiert haben. Ein wiederkehrender Protest in der Hoffnung,
etwas zu erreichen; einige von ihnen warten schon seit zwei Jahren darauf, dass
sie einen Termin für die Anhörung vor der Gebietskommission bekommen, und weil vor
einiger Zeit auch die Ausgabe des Taschengeldes beendet wurde.
Das letzte Taschengeld haben die Leute im
August bekommen, weil die Betreibergesellschaft selber knapp bei Kasse ist;
auch sie hat seit 6 Monaten kein Geld mehr erhalten; damit steht die Versorgung
mit allen Diensten auf dem Spiel, wie die Betreibergesellschaft behauptet, auch wenn man vertritt, dass es bis
jetzt nur Schwierigkeiten bei der Verteilung des Taschengeldes gegeben hätte.
Aber Fakt ist, die
Unzufriedenheit ist offenkundig: Die jungen Migranten befinden sich in einem
kleinen Örtchen, das ihnen nichts zu bieten hat, besonders nicht im Winter; mit
Wellen bis vor die Tür des Hotels, ohne Taschengeld, ohne die Hoffnung, in
kurzer Zeit ihr eigenes Leben zu ändern und in dem Bewusstsein, dass einige
Rechte nicht respektiert werden; in dieser Situation schafft die
Unzufriedenheit schlechte Laune, Klagen über das Essen, über das Fehlen der
Hygieneausstattung, über die Schwierigkeit mit den Mitarbeitern ins Gespräch zu
kommen, auch sie seit 6 Monaten ohne Gehalt: Ganz sicher: ein System des
Scheiterns. Das System Triscina hat
es geschafft, den Krieg unter den Armen in Gang zu bringen: In einem Örtchen, das nur im Sommer „lebendig ist“, hat die Ruhelosigkeit der jungen Afrikaner die
Unzufriedenheit bei einigen Ortsansässigen geweckt, die ihrer eigenen Wut im
Web Ausdruck verleihen und gewalttätige und rassistische verbale Reaktionen
entfesseln. Episoden wie diese zeigen, dass man den Sündenbock immer, oft und
gerne, im Fremden findet.
In dieser Situation großen
Unbehagens haben wir die Mediatoren zwischen Gästen und Betreibergesellschaft gespielt.
Wir sind zu einer Übereinkunft gekommen: Die jungen Leute werden von den
Mitarbeitern auf die Polizeidirektion begleitet. In einer Begegnung mit den
zuständigen Beamten soll eine Lösung für die Verzögerungen des Systems gefunden
werden. Wir haben uns vorgenommen, euch möglichst bald vom Ausgang zu
berichten.
Ein Mechanismus außer
Kontrolle, der 5 Monate benötigt, um die Asylbeantragung auf der
Polizeidirektion oder in den Kommissariaten des nahegelegenen Mazara oder
Marsala auf den Weg zu bringen; das ruft bemerkenswerte Verzögerungen,
Irrläufer, Verstimmungen hervor; diese führen dazu, dass Menschen die Zentren
verlassen, weil dieses System nicht glaubwürdig ist. Und die Menschen enden in
den Händen von Schleusern, die sich über diese verheerenden Fehler freuen.
Wir haben unsere Rundreise
in Campobello di Mazara beendet; dort haben wir ungefähr 600 Migranten
angetroffen; viele von ihnen sind aus Norditalien gekommen, um Oliven zu
ernten, um sich einige Cents zu verdienen, um die Familie ernähren zu können,
hier oder im eigenen Herkunftsland. Aber davon werden wir im nächsten Bericht
erzählen, wenn wir versuchen, uns das Leben auf den Feldern von den Protagonisten
erzählen zu lassen.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia Onlus
*Modell C3 – modulo:
Formular C3 zur Asylantragstellung (Ein Fragebogen zur Person, den der Asylantragsteller
auf dem für ihn zuständigen Polizeipräsidium beantworten muss. Danach erhält er
eine dreimonatige Aufenthaltserlaubnis für Asylsuchende.)
**CAS – Centro di
accoglienza straordinaria: außerordentliches Aufnahmezentrum (spezialisierte
Zentren zur Aufnahme z.B. für Minderjährige)
***CIE – Centro di
Identificazione ed Espulsione: Zentrum für Identifikation und Abschiebung, Abschiebehaft
Aus dem Italienischen von
Rainer Grüber