Noch immer Selbstverletzungen im CIE von Milo. Flucht aus Vulpitta
Gabriele del Grande, fortress europe fortress europe Ali schnitt sich die Pulsadern auf, Ahmed schluckte drei Flaschen Shampoo und Redha versuchte sich zu erhängen. Die Namen sind erfunden, denn sie wollen anonym bleiben. Ihre Geschichten hingegen sind nüchterne Realität, und banal zugleich. Berichte alltäglicher Verwaltung in den Teufelskreisen des Identifikations- und Abschiebezentrums (CIE) von Milo in Trapani Milo , in dem gestern Nachmittag im Sektor „B“ zum x-ten Mal eine Reihe von Selbstverletzungen und Selbstmordversuchen begann. Dabei handelte es sich um drei Tunesier, zwei von ihnen seit vielen Jahren wohnhaft in Italien.
Die furchtbaren Szenen spielten sich nach dem Mittagessen ab, als Ali eine Eisenschraube und ein Stück Glas schluckte und sich danach die Pulsadern aufschnitt. Als ob die Selbstverstümmelung der einzige Weg bleibt, ihrer Missbilligung der Zustände und ihrem Wunsch nach Freiheit Ausdruck zu verleihen. Einige Stunden später zerriss ein weiterer Tunesier ein Bettlaken, um sich daraus einen Strang zu machen. Gerade rechtzeitig – bevor er seinen Kopf durch die Schlinge stecken und ins Leere springen konnte – wurde er von zwei Freunden aufgehalten.
Er ist einer der wenigen drei oder vier, die insgesamt noch in Milo sind und deren Haft infolge des neuen Gesetzes (siehe link) auf über sechs Monate verlängert wurde. Ein dritter Tunesier wählte den Weg der Selbstverstümmelung: er landete mit drei Flaschen Shampoo im Magen auf der Krankenstation. Keiner der drei erregte jedoch das Mitleid des Personals. Nach kurzer Zeit wurden alle zurück in ihre Zellen gebracht, ohne in der Notaufnahme gewesen zu sein. Das CIE von Milo wurde erst letzten Sommer eröffnet (Eröffnung Milo)Sozialarbeiter und Ordnungskräfte scheinen sich jedoch schon jetzt an das Blut gewöhnt zu haben. Dies bestätigt die Häufigkeit der Selbstverletzungstaten im neuen Hochsicherheits-CIE in Trapani, das von derselben Genossenschaft (vom Konsorzium Connecting People) verwaltet wird, die auch die anderen CIE der Stadt Trapani betreibt: das Serraino Vulpitta und das CIE von Chinisia (seit letztem Sommer nach der Eröffnung von Milo geschlossen). Die unerträglich gewordene Situation in Milo bestätigten uns zwei weitere Häftlinge, mit denen wir uns diese Woche unterhalten konnten. Sie berichteten von der Revolte und der Flucht aus Serraino Vulpitta.
Der erste von ihnen, ein junger Mann aus Hay Zuhur, einem beliebten Viertel in Tunis, landete vor zweieinhalb Monaten im CIE von Rom. Zuvor saß er eine Haftstrafe von zwei Jahren wegen Drogenhandel ab und wurde von dort nach Milo verlegt. Er ist Vater eines eineinhalbjährigen Kindes, das bei seiner Mutter, einer Italienerin, lebt. Seit seiner Inhaftierung sehen sie sich nicht. Der junge Tunesier konnte es nach Ablauf seiner Haft kaum erwarten, sie wieder in seine Arme zu schließen. Jetzt hingegen macht er nichts anderes als an die weiteren 18 Monate zu denken, die er eingesperrt ausharren muss. Seinen Berichten zufolge passiere jeden Tag etwas. Einer schneide sich die Pulsadern auf, der andere erhänge sich, ein anderer wiederum protestiere aufgrund des Essens und der Kälte. Auch in Trapani, wie an anderen Orten, werden die Schuhe der Eingesperrten beschlagnahmt um die Fluchtgefahr zu reduzieren. Sogar im Winter müssen die Gefangenen Pantoffel tragen.
Einer seiner Landsmänner, der im selben CIE, jedoch in einem anderen Sektor sitzt, bestätigt die unerträglichen Zustände. Die schlimmsten Folgen bekämen diejenigen zu spüren, die versuchten zu fliehen und die, die protestierten. Mit ihnen ginge die Polizei sehr gewaltsam um, berichtet er uns und bittet im selben Moment nach Wahrung seiner Anonymität. Auch deshalb, weil er selbst mit eigenen Augen gesehen hätte, wie seine Leidensgenossen Schläge abbekämen. Einem seiner Zellennachbarn, ein Algerier, wurde vor allen anderen mitten ins Gesicht geschlagen, weil man bei ihm während einer Durchsuchung eine Rasierklinge fand. Dies geschah vor einigen Wochen im anderen CIE von Trapani, im Serraino Vulpitta – infolge einer waghalsigen Flucht, von der wir bis heute nichts erfahren hatten.
Der Flucht liegt die Turiner Technik zugrunde (siehe link fortress europe) : Rasierklingen werden hineingeschleust und die Gitter des Gefängnisses zersägt. Zwar brauchten sie dafür mehrere Tage, aber letzten Endes gelang ihnen die Flucht. Dies berichteten uns Inhaftierte von Vulpitta, die in den letzten Tagen nach Milo verlegt wurden. Es gelang 14 jungen Männern, alle Tunesier, aus Vulpitta zu fliehen. Weitere vier seien von den Ordnungskräften geschnappt worden und mit mindestens 16 der 32 Inhaftierten von Vulpitta nach Milo gebracht worden. Unter ihnen befänden sich sowohl Tunesier, die in den letzten Wochen per Boot in Trapani angekommen sind, wie auch Männer, die während der Abschiebe-Arbeiten mittels Charterflüge nach Tunesien, am Flughafen von Palermo gelassen worden, da sie nicht vom tunesischen Konsulat in Palermo identifiziert wurden. Junge Männer wie L., ein dreißigjähriger Tunesier, der sich nach 10 Jahren in Florenz nun bereits seit 4 Monaten eingesperrt in einem CIE befindet. Erst in Bari, jetzt in Milo, nachdem das tunesische Konsulat ihn nicht auf dem Flughafen von Palermo identifiziert hatte. Das bedeutet zwar, dass er nicht abgeschoben wird, jedoch muss er weitere 14 Monate hinter Gittern verbringen bevor er wieder freikommt. Er hofft nur, nicht das Schicksal des anderen Tunesiers zu teilen, der im CIE von Milo unter Psychopharmaka gehalten wird, nachdem er fälschlicherweise nach Algerien abgeschoben und von Algier wieder nach Italien zurückgeschickt wurde. Seit 9 Monaten sieht dieser weder ein Kind, noch eine Piazza oder die Küste.
(aus dem Italienischen von Julia Wahnel)