Mach dir keine Sorgen Papa, ich sterbe glücklich, weil ich weiß, dass ihr überlebt habt
In Anbetracht des Todes eines unschuldigen Menschens, kann ich nicht anders, als Leid zu empfinden. Allein der Gedanke, dass eine geliebte Person ohne Schuld und zu Unrecht sein Leben verliert, jagt mir einen Schauder ein. Bei dem Versuch, anderen das Leben zu retten, musste ein Vater die Leiche seiner Tochter im Meer zurücklassen. Diese Nachricht – eine weitere Tragödie und Auswirkung der mörderischen europäischen Politik – erschüttert mich zutiefst.
Was können wir tun, um einem verzweifelten Vater, der Ehefrau und Tochter verloren hat, zu helfen?
Die Antwort zu dieser Frage interessiert uns nicht. Wir weisen zurück, wir errichten Mauern, die vor allem diejenigen töten, die am Meisten Schutz bedürfen, Frauen und Kinder. Wir sind uns der Situation bewusst: Die Daten der internationalen Organisationen sind klar: Die Anzahl der Toten erhöht sich, genauso wie die Gewalt und die Ausbeutung.
Letzte Woche in Trapani haben wir die Leichname in Empfang genommen – fünf Leichen, darunter die von zwei syrischen Kindern. Wir sind gut darin, Tote in Empfang zu nehmen, aber wir sind weniger gut im Aufnehmen und Unterstützen derjenigen, die überlebt haben. Es fehlte aber der Leichnam des Mädchens, das in den Armen seines Vaters gestorben war und das von ihm zurückgelassen wurde, weil der Vater sich dafür entschied, anderen das Leben zu retten, das seines Sohnes und vieler anderer Kinder. Der Mann wird, wie viele andere Menschen auch, für immer mit dieser schrecklichen Erinnerung leben müssen. Der Vater hat aus dem x-ten Schiffbruch eine Rettungsaktion gemacht und wie so oft haben die Medien darüber geschwiegen.
Es ist inzwischen Alltag: Genauso wie die unrechtmäßigen Praktiken alltäglich geworden sind, die die Institutionen vollziehen, seien es die Präfektur, die Gemeinde oder das Polizeipräsidium. Unrechtmäßige Praktiken, die den Migrant*innen keinen Ausweg lassen, als den Protest, wie der, der letzte Woche drei Tage lang von den Migrant*innen im Zentrum Piano Torre in Isnello (Provinz Palermo) initiiert wurde. An und für sich ein surrealer Protest: Die Migrant*innen, die im Madonien-Gebirge befindlichen, gottverlassenen Zentrum beherbergten sind, haben eine Straßensperre organisiert. Leider verkehren auf dieser Straße nur die Autos der Mitarbeiter*innen des Zentrums und eventuell ein paar Pferde oder Wildschweine!
Die Bewohner*innen protestieren, weil das Taschengeld nicht regelmäßig ausgezahlt wird. Die Verspätung in der Auszahlung geht auf die finanziellen Schwierigkeiten der Verwaltung zurück, die seit ca. einem Jahr keine Gelder mehr von der Präfektur bekommen hat, weil die Geschäftsführung des Zentrums ersetzt wurde. Und den Preis müssen die Migrant*innen zahlen. Aufgrund dieser enormen bürokratischen Verspätungen und der fehlenden Klarheit verlieren sie jegliche Hoffnung. Es ist unerträglich, dass es teilweise bis zu fünf Monaten dauert, bis ein internationales Schutzgesuch formal eingereicht werden kann, oder die gleiche Zeit benötigt wird, bis die Entscheidung der Territorialen Kommission bekannt gegeben wird.
Ein sehr großes Problem, vielleicht das größte, ist die Isolation: Wenn das eventuell im Falle eines CAS* noch vertretbar wäre (wohlgemerkt eine absonderliche Idee in einem zusammenbrechenden Aufnahmesystem), ist es umso gravierender im Falle eines Sprar*, weil die Eingliederung in ein soziales und Arbeitsumfeld ein Eckpfeiler dieses Projektes sein sollte. Die gleichen Problemen sind auch in den sogenannten Hochspezialisierten Zentren für Minderjährige anzutreffen, wo die jungen Migrant*innen buchstäblich geparkt werden, bis sie die Volljährigkeit erreicht haben, wo doch die Aufenthaltszeit dort nicht die 3 Monaten überschreiten sollte.
Das Fehlen einer ernsthaften und systematischen Projektkonzeption der Aufnahme erzeugt unangemessene Situationen, Vorurteile und Ausbeutung, die nicht akzeptabel sind und die eine schnelle Kursänderung im Namen der Gerechtigkeit reklamieren. Und eben dieses Fehlen an Fähigkeiten zur Planung hat verschiedene Probleme in Trapani hervorgebracht, in dem bis dahin einzigen sizilianischen Hotspot, wo eine gewisse Balance zwischen den Anforderungen an Sicherheit und den humanitären Bedürfnissen herrschte. Die Ankunft von ca. 800 Migrant*innen vor einigen Tagen hat ein bis dahin gut funktionierendes System kollabieren lassen: Zum ersten Mal sind ca. 200 Migrant*innen nach Messina verlegt worden, ohne dass sie vollständig identifiziert wurden. 90 Marokkaner*innen mussten erst in einem Saal innerhalb der Einrichtung auf dem Boden warten und nach einigen Tagen sind sie dann mit einer Abschiebungsbenachrichtigung in der Hand nachts des Zentrums verwiesen worden. In kleinen Gruppen, in der Dunkelheit, um nicht aufzufallen, sind sie an die frische Luft gesetzt worden, ohne jegliche Hinweise, schlimmer noch, in der Annahme, dass Palermo zu Fuß erreichbar sei!!
Zur gleichen Zeit erfolgt ein Wechsel in der Führung der Präfektur. Eine solche Situation hatte sich bis dato unter der Führung von Präfekt Falco nicht zugetragen. Ist das ein Zufall? Oder ein neues Verhaltensmuster? Die Abgewiesenen erzählen uns, dass sie nicht einmal die Möglichkeit hatten, zu duschen, bevor sie gehen mussten. Außerdem, da zur Zeit im hotspot sehr viele Migrant*innen leben, ist die Lage von Frauen und Kindern besonders problematisch. Eine weitere Nachricht erreicht uns aus dem Hotspot von Trapani: 10 Ägypter sollen mit einem Flug von Catania aus zurückgeführt und 2 Tunesier*innen sollen in das CIE* nach Caltanissetta verlegt worden sein.
Eine weitere Schwierigkeit in dem Aufnahmesystem liegt in der Umsetzung der Relocation. Villa Sikania (Provinz Agrigent) ist der einzige regionale Hub, in der Tat jedoch aufgrund der Anzahl und der Typologie der dort beherbergten Migrant*innen funktioniert es mehr als ein CAS*. Diese Struktur ist überfüllt auch weil die 300 Migrant*innen, die vor wenigen Tagen in Porto Empedocle angekommen sind und die zuerst nach Pozzallo hätten gehen sollen, stattdessen nach Agrigent umgeleitet wurden, weil es in Pozzallo keine freien Plätze mehr gab. Bis eine Relocation erfolgt, dauert es durchschnittlich inzwischen ein ganzes Jahr: Diese unglaublich lange Zeitspanne ist ein weiterer Beweis dafür, dass dieses Instrument nicht den Anforderungen der aktuellen Situation angemessen ist. Die Migrant*innen, für die die Relocation vorgesehen ist, werden nicht mehr nach Rom in das dafür vorgesehenen Hub verlegt. Demzufolge werden in Villa Sikania keine Plätze frei, deswegen müssen diese Migrant*innen in das Cara* nach Mineo verlegt werden. Dieses Zentrum, das inzwischen auch als Hotspot, wenn nötig, funktioniert, bestätigt sich als Mehrzweckzentrum, das für jede Situation einsetzbar ist, ungeachtet der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.
Schwierigkeiten, Ausbeutung und Tod sind leider die Worte, die immer wieder, leider viel zu oft, erklingen, um die Folgen einer kriminellen, ungestraften Politik zu beschreiben. Ich suche Trost in dem ich mir vorstelle, dass die kleine B. im Traum ihrem armen Vater diese Worte zuflüstert, um seinem für immer vom Schmerz zerrissenen Leben einen Sinn zu geben: „Papa, ich weiß mit welcher Kraft und Energie du versucht hast, mich vor dem Tod zu retten, und es doch nicht geschafft hast. Zuerst hast du deinen ganzen Mut zusammen genommen und uns von den Bomben weggebracht, dann hast du uns vor der Gewalt der Schleuser geschützt, aber gegen das Meer, den grausamen Verbündeten der armseligen westlichen Welt, hast du es nicht geschafft, mein junges Leben und das der Mutter zu retten. Wir sind aber stolz auf dich, weil du das Leben vieler anderen gerettet hast, angefangen mit dem meines Bruders. Papa, du musst stark bleiben, du musst den Kampf gegen die rassistische Politik, die uns ermordet hat, fortsetzen! Wir sind stolz auf dich! Mutter schickt dir einen Kuss”.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
*CAS – Centro di accoglienza straordinaria – Außerordentliches Aufnahmezentrum
*SPRAR – Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo – Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge
*CIE – Centro di Identificazione ed Espulsione – Abschiebungshaft
*CARA – Centro di accoglienza per richiedenti asilo – Aufnahmezentrum für Asylsuchende
Aus dem Italienischen von A. Monteggia übersetzt