Ein Hund ist mehr wert als ein Schwarzer
Ein Hund oder eine Katze können in Campobello di Mazara mit den Mitteln der Stadt für etwa 2.000 Euro von einem Tierarzt behandelt werden. Dagegen fehlen bei uns die Mittel, um die 1.800 Migrant*innen, die unsere Oliven pflücken, entsprechend zu entlohnen. Beim Surfen im Netz gefunden, bestätigt diese Meldung einmal mehr, dass bei uns die Migrant*innen weniger als nichts wert sind: ihnen können wir alle Freiheiten und Rechte vorenthalten, weil wir sie wie Tiere behandeln, die noch weniger wert sind als Hunde und Katzen.
Vorfälle von Gewalt und Machtmissbrauch geschehen in ganz Sizilien und nicht nur dort: Migrant*innen erleiden schlimme Traumata während der Reise und in Libyens Gefängnissen, sie werden in Italien ausgenutzt von einem Aufnahmesystem, das seinem Namen nicht gerecht wird, das aber auf Kosten der Lebensbedingungen der Migrant*innen lukrativ ist.
Und das geschieht auch mit den unbegleiteten Minderjährigen. Die Behörden erklären die Probleme in der Aufnahme der minderjährigen Migrant*innen mit dem Platzmangel in den CAS* und den SPRAR*. Darum sei die Verweildauer in den Erstaufnahmezentren 12 – 18 Monate statt der vorgesehenen maximalen 30 Tage, wie es das Gesetz Zampa vorschreibt. Zurzeit ist die Zahl der Ankünfte auch bei den Minderjährigen geringer. Trotzdem werden diese in den Einrichtungen zurückgehalten, weil diese sonst schließen müssten und deren Betreibern Einkünfte verloren gingen. Weder die Gemeindebehörden noch die Präfekturen bereiten diesem unredlichen Business ein Ende, das auf dem Rücken der Minderjährigen weiter floriert.
In unserer Redaktion sind anonyme Zeugenaussagen eingegangen, die dokumentieren, dass diese Erstaufnahmeeinrichtungen für den Transfer von jugendlichen Alleinreisenden 100 Euro von den Zweitaufnahmezentren verlangen. Dies wird von der Regionalregierung hingenommen, die weiterhin ohne Einschränkungen die Bewilligungen erteilt, um neue Zentren zu öffnen. In kleinen Gemeinden schließen die Sozialbehörden die Augen oder erfahren hiervon nichts, um nicht in Schwierigkeiten zu kommen mit den Betreiberkooperativen.
Aber es gibt auch Migrant*innen, wie die aus Nordafrika, die sich unsichtbar machen müssen in Italien. Auf Lampedusa verlassen sie den Hotspot und verstecken sich auf der Insel. Sie versuchen versteckt in einem Camion oder einem andern Fahrzeug nach Porto Empedocle zu gelangen. Sie hoffen, dass sie nach mehreren Tagen der Abwesenheit nicht länger gesucht werden. Aber es ist für sie unmöglich aus Lampedusa wegzukommen, außer in Polizeigewahrsam oder mit einem Rückführungsflug nach Tunis.
Für die Tunesier*innen, die das Glück haben, nicht sofort abgeschoben zu werden, öffnet sich in einigen Fällen die Tür zum Abschiebegefängnis in Caltanissetta. In diesen Tagen wurde dort von einigen Migrant*innen aus Tunesien Feuer gelegt, um gegen ihre Abschiebung zu protestieren.
Eine Rückführung bedeutet für Asylsuchende und Migrant*innen ein familiäres Fiasko und eine soziale Niederlage und nimmt ihnen die Hoffnung für die Zukunft endgültig. Darum versuchen sie mit allen Mitteln unsichtbar in Italien zu bleiben und vielleicht schlimmer als ein Hund oder eine Katze in Campobello und anderswo zu leben.
Nur per Zufall haben wir von weiteren informellen Siedlungen erfahren. Sie befinden sich in der Nähe von Olivenplantagen, wie Caltabellotta, einer Gemeinde auf 1.000 m Höhe mit 3.000 Einwohner*innen in der Provinz Agrigento.
Hier ist die Situation wahrscheinlich noch schlimmer als in Campobello, nicht aufgrund der Überbelegung, sondern weil die Menschen hier seit vier Jahren abgelegen leben, auf einem verlassenen Parkplatz eines Freizeitparks in der Kälte.
Der Ort und seine Bewohner*innen scheinen von den Migrant*innen, fast alles erwachsene Männern und einige unbegleitete Jugendliche, keine Notiz zu nehmen. In Caltabellotta ist die Olivenernte nicht so ertragreich wie an anderen Orten, darum sind viele aus Mangel an Arbeitsmöglichkeiten von dort weggegangen. Wer dageblieben ist, schläft in behelfsmäßigen Zeltkonstruktionen aus Planen, Karton und Decken zwischen den Bäumen des Freizeitparks. Es gibt keine Wasserversorgung und keine Elektrizität. Das Wasser wird an einer Tankstelle geholt. Bis vor einem Monat leuchtete in der Nacht eine Straßenlaterne der Gemeinde. Jetzt bleibt alles dunkel, damit keiner Angst davor bekommt, die Gespenster zu sehen.
Gegen die Kälte machen sie ein Feuer, aber es gibt nicht genügend Brennholz, um auch Warmwasser für die Körperpflege zu haben. Sie waschen sich darum mit eiskaltem Wasser. Windiges und regenreiches Wetter zerstört die Zelte und die Menschen müssen nächtelang durchnässt dort ausharren.
Unter diesen unmenschlichen Lebensbedingungen werden viele krank. Ein Mann mittleren Alters musste in die Notaufnahme des Krankenhauses von Sciacca gebracht werden, wo er behandelt und nach zehn Tagen entlassen wurde, um hierher zurückzukehren.
Viele haben keine Aufenthaltsgenehmigung. Einige konnten sie nicht erneuern lassen, weil sie keinen Arbeitsvertrag mehr haben. In Caltabellotta sind die Läden nur während der Arbeitszeit der Migrant*innen aus Nordafrika geöffnet (zwölf Stunden am Tag) und die Preise sind nicht erschwinglich für jemanden, der 40 Euro am Tag verdient. Es findet kein sozialer Austausch mit den Dorfbewohner*innen statt, außer beim Einkaufen in ihren Geschäften oder durch die Arbeit auf ihrem Land. So werden hier die unsichtbaren Arbeitskräfte, gleich zweimal durch die heimische Bevölkerung, manchmal unbewusst, ausgebeutet: erstens bezahlen sie weniger Stundenlohn als den gesetzlich vorgeschriebenen, zweitens fließt dieses Geld wieder ins Dorf zurück durch die Einkäufe in den Geschäften. Ein Barbesitzer erzählt, dass die einzige Zeit, in der er etwas verdient, die drei Monate der Anwesenheit der unsichtbaren Saisonarbeiter*innen ist. Darum ist er wahrscheinlich der einzige, der ihnen eine Mehrfachsteckdosenleiste zum Aufladen ihrer Mobiltelefone zur Verfügung stellt. Im Grunde genommen ist es genau das, was wir wollen. Unsichtbare Menschen, die jede Arbeit zu verrichten bereit sind, die so die Wirtschaft einer Nation, die von ihrer eigenen Jugend längst verlassen wurde, in Schwung halten, und die neben den verarmten Zurückgebliebenen leben – ein Emblem dafür, wie das kapitalistische Wirtschaftssystem funktioniert.
Den Migrant*innen in Caltabellotta mangelt es an vielem, vor allem aber an warmen Kleidern und dicken Decken, die sie vor der Kälte schützen. Die einzigen, die sich um sie kümmern sind Aktivist*innen aus Palermo und das Team von Ärzte ohne Grenzen.
Jüngere und Ältere haben ihre Hoffnung auf Veränderung aufgegeben und sie sind daran, auch ihre Würde zu verlieren, wie uns K., ein Mann aus Marokko, nicht ohne Scham erzählt. Wegen der großen Kälte habe er keine Kraft und keinen Mut mehr gehabt, auf die Toilette zu gehen, und so habe er sich „in die Hose gemacht“.
Wir begegnen A. einem Marokkaner von sechzig Jahren, der seit 15 Jahren als Straßenverkäufer in Palermo lebt. Er konnte seine Steuern nicht mehr bezahlen und hat darum seine Aufenthaltserlaubnis verloren. Um seine Familie in Marokko weiterhin zu ernähren, „führt er hier in Sizilien ein Hundeleben.“
Jüngere Migrant*innen seien sofort von der Polizei abgewiesen – und von der Gesellschaft abgelehnt worden, so erzählen sie. Bei der Missione Speranza e Carità (Mission Hoffnung und Nächstenliebe) waren sie auch nicht gern gesehen – Leute aus Tunesien und die Mehrheit aus anderen afrikanischen Ländern hätten sie ausgeschlossen. Sie waren gezwungen auf der Straße oder in Zugwaggons zu schlafen. Jetzt sind sie hier, müssen sich ausbeuten lassen, um nicht in die Fallstricke des organisierten Verbrechens zu geraten: „Wenn wir das gewollt hätten, wären wir zuhause geblieben – wir haben unser Leben nicht riskiert, um in Italien zu stehlen.“
Wie für manche andere geht die Olivenernte in Caltabellotta zu Ende, sie verlassen die alte Berggegend und machen sich auf zur nächsten Ernte und in wärmere Zonen zur Orangenernte der berühmten Sorte Ribera – zu einer weiteren Station der Ausbeutung.
In Libyen ist der Verkauf von Migrant*innen tariflich geregelt, aber auch in Italien sind wir fast soweit. Wir müssen uns wirklich Gedanken darüber machen, wo wir stehen, wenn ein*e Migrant*in, ein menschliches Wesen, weniger als ein Hund oder eine Katze wert ist.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
*CAS: Centro di accoglienza straordinaria, außerordentliches Aufnahmezentrum
*SPRAR – Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 – 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Geflüchteten dienen.
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne