Zu den Landungen: Chaos bei den Identifikationen, auch Minderjährige sind in Gefahr abgeschoben zu werden. Schwerwiegende Missachtung unserer Gesetze
Aus Redattore
Sociale
Rom – Die Erlebnisse einer Gruppe unbegleiteter
minderjähriger Flüchtlinge ist nur das letzte der Ereignisse während der
vergangenen Wochen in den Landehäfen, das die Hilfsorganisationen anprangern:
Rückweisungen in exponentieller Zunahme, Chaos bei den Identifikationen,
Jugendliche, die zuerst mit einer Abschiebungsanordnung konfrontiert und später
als minderjährige Asylanwärter*innen anerkannt werden, die Missachtung des (Migrant*innen
von Gesetzes wegen zustehenden) Anspruchs auf internationalen Schutz. Genau wie
die Hilfsorganisationen verurteilt auch der UNHCR, das UN-Hochkommissariat für
Flüchtlinge, die Geschehnisse.
UNHCR: Wir haben erst nach
der Erfassung durch die Polizeiorgane die Möglichkeit den Migrant*innen
Informationen zu geben. In einem neuen Bericht
des UNHCR zur Flüchtlingskrise in Europa wird Bezug genommen auf das bei
den Identifikationen mangelhafte Prozedere in Italien. Es wird betont, dass es
erst möglich ist, den Migrant*innen «nach den Erfassungen durch die Polizei»
die nötigen Informationen über die Möglichkeit der Beantragung ihres
Schutzstatus zukommen zu lassen.
Im Bericht des UNHCR steht, dass die Prozeduren
«uneinheitlich gehandhabt werden in den verschiedenen Ankunftsorten und dass es
an einem einheitlichen System fehlt».
Was ebenfalls fehlt, ist der grundsätzliche
Schutz der besonders schutzbedürftigen und «traumatisierten Menschen, vor allem
der Schutz der Opfer von Menschenhandel und Folter».
«Unsere Vertreter*innen in Sizilien
berichten, dass der Anspruch der Migranten auf Information über ihre Rechte
nicht immer eingehalten wird», bestätigt Federico Fossi vom UNHCR in Italien. In
der Tat, die Geflüchteten müssten nach europäischem Recht bei ihrer Ankunft
über ihre Rechte und die Möglichkeit eines Antrages auf ihren internationalen Schutzstatus informiert
werden. Aber in manchen Ankunftsstellen findet das nicht statt. Das ist eine schlimme
Missachtung der Gesetze.»
Das bestätigt auch Giovanna Die Benedetto,
Sprecherin von Save the Children: »
In verschiedenen Orten haben wir Zustände vorgefunden, die wir beanstandet
haben. Es geht uns vor allem darum, dass wir die Jugendlichen erst nach ihrer
Identifikation durch die Polizeiorgane über ihre Rechte informieren dürfen und
nicht vorher, wie es korrekt wäre. Und unsere Anwesenheit ist während der
Überprüfungen nicht gestattet.»
Minderjährige werden als Volljährige
identifiziert; für alle wird das fiktive Geburtsjahr 1997 festgelegt. Aber was bringt diese Unterlassung von
Informationen tatsächlich mit sich? Die Anordnungen von Ausweisungen nehmen zu
und treffen auch solche, die in unserem Land Asyl beantragen könnten. Und nicht
nur das, es sind viele Fälle von falsch deklarierten Volljährigen, die
riskieren zurückgeschickt zu werden.
«In letzter Zeit haben wir ein viel
härteres Vorgehen seitens der Polizei festgestellt. Sie unterziehen die Migrant*innen
einer raschen Befragung und identifizieren sie sofort» unterstreicht Simonetta
Cascio, die Präsidentin des Arci* von Syrakus.
So geschah es bei einer Landung am 19.
September 2015 in Augusta. 40 Personen wurden im dortigen ausserordentlichen
Aufnahmezentrum beherbergt, wo ihnen eine Abschiebungsverfügung ausgehändigt
wurde. Unter ihnen waren 8 Jugendliche, die uns sagten, sie seien nicht
volljährig, aber als solche identifiziert worden waren von den Grenzbeamten. Da
sie keine persönlichen Dokumente vorweisen konnten, wurde allen das fiktive
Geburtsdatum des 1. Januars 1997 zugeschrieben, das aus ihnen Volljährige macht.“
Die Vertreter*innen von Arci* erklären aber,
dass es sich um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Gambia und dem
Senegal handelt. „Nachdem wir diese Informationen sichergestellt hatten,
haben wir die Rechtsanwältin Carla Trommino damit beauftragt, sie zu vertreten,
was bis heute geschieht. Ihr haben die Jugendlichen bei einer Einvernahme
versichert, dass sie minderjährig sind. Das Gleiche hat sich bei einer Landung
am 3. Oktober zugetragen. 30 Personen haben eine Abschiebungsverfügung
erhalten, unter ihnen auch zwei Minderjährige, einer aus Guinea, der andere von
der Elfenbeinküste. Erst nachdem wir uns zusammen mit der Hilfsorganisation AccoglieRete (Empfangsnetz)
eingeschaltet haben, war es ihnen möglich, den Antrag auf internationalen
Schutzstatus zu stellen und als Minderjährige anerkannt zu werden. Wir
verstehen nicht, wie so etwas möglich ist, das sind sehr schlimme
Vorkommnisse.“
Auch Giovanna Di Benedetto von Save the Children berichtet von
„Minderjährigen, die als Volljährige registriert wurden“. „Unsere
Mitarbeiterinnen haben uns mehrere solcher Fälle gemeldet und wir haben darüber
Bericht erstattet. „Von Gesetzes wegen sind Minderjährige immer
schutzberechtigt, ob sie nun Asylbewerber sind oder nicht. Und sie können darum
keinesfalls zurückgewiesen werden.
Zudem werden sie, weil falsch registriert,
in Zentren für Erwachsene untergebracht, und nicht in für sie geeigneten
Institutionen, wie es das Gesetz ebenfalls vorsieht“ kritisiert das Arci* Syrakus
aufs Neue. Wir haben festgestellt, dass
Jugendliche aus dem Zentrum Umberto I in Syrakus in Zentren für Erwachsene transferiert
wurden“, fügt Simonetta Cascio an, „das Gericht hat erst Monate
später auf unsere Hinweise reagiert.“ Die Präsidentin der Hilfsorganisation
aus Syrakus erzählt weiter: „Es handelt sich um Jugendliche, fast noch
Kinder, mit ihren Erlebnissen von Missbrauch und Gewalt. In meiner Heimat war
mein Leben zerstört, sagte uns ein Jugendlicher aus Gambia, den wir begleiten.
Dort hatte er absolut keine Möglichkeiten aufgrund von familiären Problemen.“
Sie berichtet weiter: „Ein anderer
Jugendlicher aus Guinea hat uns erzählt, dass er ethnische Diskriminierung
erlebt habe. Dazu kommen die Strapazen der Reise, die erlebte Gewalt, die Angst
im Meer zu ertrinken und zu sterben. Wie ist es nur möglich, dass man diese Jugendlichen
weiteren Bedrohungen aussetzt und sie abweist?“ (ec)
© Copyright Redattore Sociale
*ARCI Associazione Ricreativa e
Culturale Italiana: Verband zur Förderung von Kultur, Bildung, Frieden, der
Menschenrechte und Wohlfahrt
Übersetzung aus dem Italienischen von
Susanne Privitera Tassé Tagne