Von Paestum nach Syrakus: der Kampf für eine würdevolle Aufnahme geht weiter
„Nur weil Vorschriften existieren bedeutet das nicht, dass sie auch respektiert werden. Das habe ich während meiner Zeit in Italien gelernt,“ sagt S. aus Afghanistan, er ist Asylantragsteller. Als er vor ungefähr vier Monaten zu uns kam, musste er das sogenannte Aufnahmesystem gleich von einer seiner schlechtesten Seiten kennen lernen. Wenige Wochen nachdem S. in Italien von Bord ging, wurde er in ein Aufnahmezentrum nach Paestum verlegt. Dort war er monatelang den Schikanen und Bedrohungen der zum Teil bewaffneten Mitarbeiter ausgesetzt. Zusammen mit anderen Migranten brachte er den Mut auf das Verhalten anzuzeigen. La Repubblica
Aus Sicherheitsgründen wurde S. daraufhin in das Schutzzentrum für Asylantragsteller und Flüchtlinge von Belvedere, nahe Syrakus, gebracht, welches von der Genossenschaft Luoghi Comuni geführt wird. Zusammen mit drei weiteren Migranten, die mit ihm im Zentrum von Paestum waren, wohnt er nun seit knapp zwei Monaten dort. Ich treffe S. und einen seiner Freunde in Belvedere. Müdigkeit und Besorgnis stehen beiden ins Gesicht geschrieben und bereits unsere ersten Wortwechsel lassen mich verstehen, welch hohem Stresspegel und welch großer Angst sie ausgesetzt sind. Die Schwierigkeiten der Ankunft an einem neuen Ort und das tiefe Misstrauen gegenüber dem italienischen Schutzsystem aufgrund der jüngsten Erfahrungen lässt sie mit großer Nervosität auf die Veränderungen und die Ungewissheit blicken, die sie hier vorgefunden haben. Ihre Papiere beunruhigen sie am meisten. Um den Sachverhalt besser zu verstehen, beschließe ich mit ihnen gemeinsam jeden einzelnen Schritt seit ihrer Ankunft in Syrakus zu analysieren. Wir beginnen mit dem Vertrag, den sie bei ihrer Ankunft unterschrieben haben. S. berichtet von der Unterzeichnung eines Vertrages in italienischer Sprache. Dieser wurde ihm von einem Mediator mündlich ins Englische übersetzt, da es zurzeit keine schriftliche englische Version gibt. Um dem Schutzprojekt und somit der Aufnahme zuzustimmen, musste er der mündlichen Übersetzung blind vertrauen, diese Tatsache, hat ihn sofort in Alarmbereitschaft versetzt.
Während wir über den Vertrag sprechen, erreicht uns Herr Pino, der Verantwortliche der Einrichtung, den ich bereits zuvor über meine Anwesenheit informiert habe. Herr Pino lädt uns ein, die Probleme von S. in seinem Büro zu besprechen und die Angelegenheit dabei auch mit dem Rechtsberater des Zentrums zu klären. Gerne nehme ich die Einladung an und übersetze sie für S.
Gleich zu Beginn unseres Gesprächs behauptet der Verantwortliche, dass S. „mit dem falschen Fuß“ ins Zentrum gekommen sei. Von Anfang an habe er sich über fehlendes Wifi beschwert und das Problem seiner Papiere polemisiert. Ich schlage vor, dass Problem der fehlenden Internetverbindung, welche im Vertrag nicht vorgesehen ist, wie mir auch S. bestätigt, sondern im Ermessensspielraum der Struktur liegt, erst einmal beiseite zu legen. Trotzdem ist eine Internetverbindung eine wichtige Ressource für die Migranten, weil sie oft die einzige Möglichkeit ist, mit den Verwandten im Ausland kommunizieren zu können.
Ich frage indes nach einer Erklärung für die fehlende englische Version der Hausordnung und unterstreiche dabei die gefährliche Dynamik, die eine mündliche Übersetzung hervorrufen kann: ein Wort gegen das andere. In diesem Fall das Wort eines Asylantragstellers gegen das der Mitarbeiter. Außerdem kann eine klare Hausordnung, in die wichtigsten Sprachen übersetzt, positiv für alle Personen der Struktur, Bewohner sowie Mitarbeiter, sein. Der Verantwortliche kontert, dass ihn die zentralen Vorschriften nicht dazu verpflichten würden und er fügt hinzu, dass jeder Vertrag auch vom Mediator unterzeichnet würde, der für eventuelle Nichterfüllungen verantwortlich sei. Die Befürchtungen von S. werden durch diese Worte verständlicherweise nicht beseitigt. Auch nicht angesichts der wiederholten und allgemeinen Aufforderung der Mitarbeiter „ruhig und unbesorgt zu sein“, die S. in den letzten Tagen bekommen hat, wie er mir anvertraut.
Als wir die wichtigste Frage, die Frage nach seinen Dokumenten ansprechen, äußert die Leitung erneut die Aufforderung „unbesorgt zu sein“. S. erklärt, dass ihm mitgeteilt wurde, dass er seine Aufenthaltsgenehmigung für die Anfrage auf internationalen Schutz seit ungefähr drei Wochen beim Polizeipräsidium in Salerno abholen könnte. Nun in Belvedere hat er von den Mitarbeitern erfahren, dass ihm das Zentrum das nötige Fahrtgeld nicht zu Verfügung stellen kann. Außerdem, muss er sich wie vorgeschrieben an das Polizeipräsidium von Syrakus wenden, erneut seine Fingerabdrücke abgeben und die ganze Prozedur der Asylanfrage von neuem beginnen, da die Provinz Syrakus jetzt sein neuer Aufenthaltsort ist. Dieses Vorgehen ist nicht nur juristisch gesehen inkorrekt, sondern verursacht große praktische Unannehmlichkeiten, wie die lange Wartezeiten im Asylverfahren. Sowohl der Verantwortliche als auch der juristische Berater erklären mir, dass sie von Seiten des Polizeipräsidiums Syrakus die Empfehlung erhalten hätten, in diesem Fall das Asylverfahren in dieser Provinz von neuem zu durchlaufen. Erstens da die in Salerno ausgestellte Aufenthaltsgenehmigung nur von kurzer Dauer sei und zweitens da ansonsten im neuen Präsidium eine Änderung des Wohnortes vorgenommen werden müsste. Der Ratschlag dient also vor allem dazu, die Arbeit der Behörden zu erleichtern. Zudem, hat man wie es scheint gefunden, dass auf Grund der langen Wartezeiten bis zur Anhörung bei der Kommission, einige Monate zusätzlichen Wartens keine Rolle spielen. In diesem Sinne wurde S. nahegelegt, seine Reise nach Salerno zu vergessen, wenn auch sowohl Herr Pino als auch der juristische Mitarbeiter bestreiten ihm jemals die finanziellen Mittel für die Fahrt verweigert zu haben. Aber auch in diesem Fall steht eine Aussage gegen die andere. Das Gespräch gestaltet sich als schwierig, der ängstliche und frustrierte S. verteidigt sein unantastbares Recht auf seine lang ersehnte Aufenthaltsgenehmigung und er toleriert den Gedanken, drei Monate seines Lebens umsonst und unter schlimmsten Umständen darauf gewartet zu haben, nicht. „Ich frage mich, warum die Gesetze nicht respektiert werden müssen. Ich habe bereits gültige Papiere und eure Aufgabe ist es mir zu helfen sie so schnell wie möglich zu bekommen und nicht sie wieder zu verlieren,“ sagt S. Der Verantwortliche entgegnet: „Ich verstehe überhaupt nicht, wieso er (S.) sich in den drei Wochen noch nicht nach Salerno begeben hat, um die Aufenthaltsgenehmigung abzuholen, wenn er gewusst hat, dass sie bereits ausgestellt ist.“ Die Behauptung des Verantwortlichen stimmt mich betrübt, wenn ich bedenke was S. erst vor kurzem in Paestum widerfahren ist. Aber offensichtlich interessiert das hier keinen und es trägt auch nicht zur Lösung des zentralen Problems bei: Die Notwendigkeit, dass S. ohne jegliche Abweichung seine bereits ausgestellten Dokumente, die ihm rechtlich zustehen, abholen kann.
Unser Gespräch fährt sich an dieser Stelle fest bis der Rechtsberater schließlich bekräftigt, im Präsidium von Salerno um einen Termin anzufragen und S. die Fahrt dorthin zu ermöglichen, damit dieser seine Aufenthaltsgenehmigung abholen kann. Wer übernimmt die Fahrtkosten? Auch in diesem Punkt will ich Gewissheit, um S. eine klare Information weiterleiten zu können. Der Verantwortliche der Einrichtung fordert uns diesbezüglich erneut auf, unbesorgt zu sein. Er erklärt man könnte die Spesen nach und nach vom monatlichen Taschengeld des Migranten abziehen bis die staatliche Rückerstattung erfolgt.
Daraufhin fordert er S. auf sich an die Mitarbeitern und den Mediator des Zentrums zu wenden, sollten erneut Missverständnisse auftauchen. Um weitere Fehlinformationen und aufreibende Gespräche zu vermeiden, solle er sich außerdem nicht blind auf die Stimmen und Ratschläge verlassen, welche im Zentrum zirkulieren, sondern sich, angesichts ihrer großen Bereitschaft, an die Zentrumsleitung wenden. Die Aussicht, endlich seine Papiere zu erhalten, scheint bei S. Erleichterung auszulösen. Auf der anderen Seite, ist er sich im Klaren, dass ihn auf seinem langen Weg, noch viele dieser täglichen Kämpfe erwarten: um zu verstehen, um verstanden zu werden, um seine Rechte geltend zu machen und um selbstbestimmt ein System zu durchlaufen, in dem man nach der Erstaufnahme, charakterisiert durch Drohungen und Einschüchterungen, leicht zu einer Nummer werden kann. „Ich dachte in Italien wären meine Rechte selbstverständlich. Tatsächlich aber, muss ich die Tatsache, dass ich als Ausländer, wie jeder andere auch, Pflichten aber auch Rechte und Anrecht auf Schutz habe, immer wieder verteidigen.“
Lucia Borghi
Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner