Besuch im CAS* “MONDONUOVO”* von Testa dell’Acqua
„Ich bin sehr glücklich in Italien angekommen zu sein, aber ich muss noch die Italiener*innen kennenlernen“, sagt uns J., der aus Bangladesch stammt und Anfang April im Hafen von Augusta angekommen ist. J. lebt seit 2 Monaten im CAS*, das von der Kooperative „Mondonuovo“ in Testa dell’Acqua geleitet wird. Testa dell’Acqua mit kaum mehr als 500 Einwohner*innen ist ein Ortsteil von Noto in der Provinz Syrakus. Der Ort liegt sowohl von Noto wie auch von Palazzolo Acreide 15 Km entfernt.
Die Einrichtung befindet sich an der Straße, die in das kleine bewohnte Zentrum führt; man folgt dem Schild zur „Seniorenresidenz“, da die Einrichtung zuvor ein Altersheim war. Ab 2014 wurde sie nach einigen Renovierungsarbeiten als CAS* für volljährige Erwachsene genutzt; es gab die Erlaubnis, bis zu 25 Personen zu beherbergen, eine Regelung, die schon in den letzten Jahren systematisch nicht angewandt wurde. Wir begeben uns im April zum Zentrum und lernen den Koch und einige der dort aufgenommenen jungen Leute kennen. Erst bei unserem zweiten Besuch im Juni gelingt es uns, auch den verantwortlichen Leiter zu treffen.
Ein System, das Nummern vergibt*
„Als ich beschlossen habe, dieses Zentrum zu eröffnen, war das nicht einfach: Die Leute in der Nachbarschaft haben diese Nachricht mit Panik aufgenommen und sogar Unterschriften gesammelt, um es zu verhindern. Ich kann nicht verstehen, was ihnen durch den Kopf gegangen sein mag. Dann habe ich begonnen, die ersten Bewohner*innen aufzunehmen und nach mehr als einem Monat haben sie mich im Dorf gefragt, wie diese Geschichte mit dem Zentrum ausgegangen sei. In Wirklichkeit hat niemand bemerkt, dass die Migrant*innen schon angekommen waren.“ Der junge Verwalter des Zentrums ist sofort bereit, uns von der Einrichtung zu erzählen als er am frühen Nachmittag mit 10 neuen Bewohner*innen aus dem Hafen von Augusta ankommt. „Sie sind am 12. Juni angekommen, heute haben wir den 16. Einige blieben länger als die eine Woche in der Zeltstadt am Hafen“, erzählt er uns. „Das einzige, das sie am Anfang haben, ist ihre Identifikationsnummer; es ist die dieselbe wie auf dem Armband, das sie im Hafen bekommen haben. In drei oder vier Monaten gelingt es uns, den Asylantrag auszufüllen und dann wird dies ihr Ausweis sein bis zur Antwort der Territorial-Kommission. Von Aufenthaltserlaubnis oder Steuernummer spricht man nicht einmal.“
Das Zentrum hat zwei Stockwerke mit 16 Zimmern, ausgestattet mit Doppelstockbetten, 8 Badezimmern, einem kleinen Büro, das auch als Krankenstube genutzt wird, einer Küche und einem großen Ess- und Aufenthaltsraum mit Fernseher und mit Blick auf die Terrasse. Drumherum nur Landschaft und Baugruben, mit einer einzigen Straße, die sich durch die Hügel schlängelt, um nach zwei Kilometern das kleine Dorfzentrum mit Markt, Post und einigen Häusern zu erreichen. Hierher verbannt zu sein bedeutet, unsichtbar zu bleiben und Kilometer um Kilometer zu Fuß unter der Sonne auf sich zu nehmen, um auch nur den geringsten Kontakt mit Personen zu haben, die nicht die anderen Bewohner*innen des Zentrums sind oder den Bus nach Syrakus zu nehmen; aber die Präfektur scheint derart isolierte Zentren zu bevorzugen.
In der Einrichtung sind aktuell 55 Migrant*innen untergebracht, also mehr als die doppelte Anzahl an Personen als vorgesehen; der verantwortliche Leiter sagt uns, dass diese Situation der Überbelegung seit Jahren besteht und auch die nahegelegenen Aufnahmeeinrichtungen betrifft: „Ich bin wirklich in Schwierigkeiten, wenn ich Anfragen bekomme, so viele Personen aufzunehmen. Die Gespräche laufen immer auf den Notfall hinaus, aber eine so hohe Anzahl kann ich nicht mit dem gleichen Personal und auf die gleiche Art und Weise verwalten. Wir sind hier die Rückendeckung des Hafens von Augusta und der Druck besteht fortwährend.“ Er erklärt uns, dass es 7 Angestellte gibt; zu denen gehören auch der Koch, eine Mediatorin und eine Arbeiterin, die zweimal die Woche einen Italienischkurs in der Einrichtung organisiert. Während unserer beiden Besuche begegnen wir aber nur dem Koch, der auch für die Reinigung des Zentrums verantwortlich ist; er wird am Nachmittag von einem anderen Arbeiter abgelöst.
Der Rechtsbeistand ist einem Anwalt anvertraut, der sich vorrangig mit den Berufungen gegen die Ablehnung der Anträge auf Schutz beschäftigt; gesetzliche Informationen und Orientierung vergeben anscheinend die anderen Arbeiter, mit Unterstützung des Mediators. Wir werden dann Gelegenheit haben, uns mit den jungen Leuten über diesen Aspekt weitergehend auseinanderzusetzen. „Was mich angeht, kann jeder hier vorbeikommen, um uns kennenzulernen oder mitzuhelfen; ich habe nichts zu verbergen, aber ich befinde mich mit der Leitung immer unter Druck. Ich habe versucht, die jungen Leute in der Stadt bei Italienisch-Schulen einzuschreiben, aber sie haben mir Probleme gemacht wegen der Papiere; jetzt versuche ich gerade wegen der Kurse Übereinkünfte mit den Schulen hier im Dorf zu erzielen. Was die Arbeit angeht, glaube ich, ist die Schwierigkeit für alle enorm, eine zu finden; und offensichtlich, je mehr Personen es sind, die wir aufnehmen müssen, je weniger wird die Zeit, die wir den Einzelnen widmen können“, fährt der Verantwortliche fort. Unsere Beobachtungen bezüglich der Notwendigkeit und der Verbindlichkeit, vorgesehene Übereinkünfte einzuhalten und bezüglich einer professionellen Verwaltung, geschweige denn der Idee einer anderen Form der Aufnahme, scheinen aber schon archiviert zu sein. Die Logik des Business hat die Oberhand: „Ein SPRAR zu leiten bedeutet, dass man noch mehr Vorauszahlungen braucht; ich weiß das, weil ich mich mit anderen darüber ausgetauscht habe, die das machen. Für mich ist es schon kritisch, einige meiner Angestellten nicht pünktlich bezahlen zu können, und das finde ich nicht einmal gerecht. Hier kommen die Gelder auf der Grundlage der anwesenden Personen an, und am Anfang hatten wir auch „nur“ 20 Personen, aber jetzt ist es das totale Chaos.“
Von wo aus neu anfangen?
Die Zahlen verwandeln sich schließlich in Menschen als wir das Büro verlassen und die jungen Leute beginnen, uns nach Informationen zu fragen; sie laden uns ein, uns mit ihnen zusammen draußen hinzusetzen, wo wir schon am Morgen einige Stunden verbracht haben. Nach zwei Monaten sehen wir S. wieder, der seit einem Jahr hier ist; als einzige Neuigkeit hat er einen Ablehnungsbescheid der Kommission. „Der Verantwortliche hat gesagt, dass er dem Anwalt den Bescheid zeigen wird. Ich habe ihn auch mit Hilfe des Internets übersetzt, aber mehr weiß ich nicht.“ Wie er fragen uns viele andere nach Informationen bezüglich der Papiere: Ein junger Nigerianer zeigt uns das Protokoll seiner Anhörung, das nur ins Italienische übersetzt wurde: „Nach dem Interview hat mir der Übersetzer alles noch einmal auf Englisch vorgelesen, aber schriftlich habe ich nur dieses, ist das richtig? Ich habe meine Papiere verloren als ich in Libyen im Gefängnis war; ich war dort dermaßen lange, dass ich mich manchmal, wenn ich aufwache, nicht an den Monat erinnere, den wir haben“, gibt er zu. Von seinem Weg durch Libyen gibt es keine Spur im Protokoll der Anhörung; in der Kommission hat niemand danach gefragt und er hat offensichtlich nur deren Fragen beantwortet. „Ich war sechs Monate in Libyen, die mich Jahre meines Lebens gekostet haben, das werde ich beim Interview sagen“, erklärt dagegen C., der aus Bangladesch stammt und hier einige Landsleute getroffen hat, „wenn ich nicht zurückschaue, dann sind es die Schmerzen, die von den Schlägen geblieben sind, die ich bekommen habe; sie erinnern mich an die Hölle, der ich entronnen bin. Auch jetzt habe ich noch Mühe zu laufen.“
Aktuell sind die vertretenen Nationalitäten im Zentrum Bangladesch und Pakistan, zusammen mit anderen Migrant*innen aus Nigeria, Mali, Ghana, Libyen und ein iranischer Jugendlicher. Zumindest vier der Bewohner*innen sind aus einem Gefängnis hierhergekommen, wo sie Monate oder bis zu einem Jahr verbracht haben, angeklagt als mutmaßliche Schleuser. Wir wissen von dem Verantwortlichen, dass andere dagegen „Zeug*innen“ waren, aber „von anderen Anlandungen“ wird noch hinzugefügt. Wir hören Geschichten von Gewalt, Erpressung, Armut und Missbrauch, die in den jweiligen Heimatländern begonnen haben und sich oft auch in Italien fortsetzen, wo auch nach der Haft die Diskriminierung und die Verlassenheit nicht aufhört.
„Wir bekommen jeden Monat Taschengeld; dann schießen sie auch noch was dazu, um ein Telefon zu kaufen“, erzählt K. „damit wir endlich kommunizieren können“, fügt er hinzu und weist uns auf eine Reihe von Personen hin, die zwar vor dem Fernseher sitzen, aber komplett gedankenverloren und isoliert mit ihren Handys beschäftigt sind. Auch wenn es nur wenige Meter sind, scheinen sie doch meilenweit entfernt von den jungen Leuten, die gerade vom Hafen angekommen sind und auf den Eingang warten, die schweigend aber mit Neugier ihre neue Umgebung erkunden; sie sind ausgestattet mit Trainingsanzügen und Winterpullovern, bei denen wir uns fragen, wie die im Hochsommer und mehr als dreißig Grad ausgeteilt werden können.
„Hier unterscheiden wir zwischen Neuankömmlingen und Alten“, sagt uns J., der den ganzen Morgen lang überrascht den Besuch von „Italiener*innen“ beobachtet hat“; „unsere Geschichten werden auf der Grundlage der Papiere betrachtet, die wir haben oder nicht haben oder zu erhalten versuchen. Viele von uns haben andere Bezüge hergestellt, mit denen sie versuchen, sich eine Zukunft aufzubauen und zu verstehen, von wo aus man neu anfangen kann. Wir wagen den Versuch und hoffen, dass wir nicht total alleine sind.“
Lucia Borghi
Borderline Sicilia
*CAS – Centro di accoglienza straordinaria, außerordentliches Aufnahmezentrum
*Mondonuovo – Neue Welt
*SPRAR – Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 – 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Geflüchteten dienen.
*Im Original: Dare i numeri: im Italienischen eine Redewendung für „spinnen“
Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber