Ausnahmsweise ein gutes Beispiel

Ausnahmsweise mal ein gutes Beispiel gelungener Aufnahmepraxis. Chronik eines Besuchs im Aufnahmezentrum (SPRAR*) Obioma in Canicattini Bagni

Den auf der Homepage des zentralen Dienstes des Schutzsystems für Asylsuchende und Geflüchtete (SPRAR) zur Verfügung gestellten Daten zufolge gibt es auf Sizilien lediglich zehn Aufnahmezentren für Geflüchtete mit psychischen und physischen Problemen. Besonders auf eines dieser Projekte wurde in verschiedenen Kontexten immer wieder hingewiesen: Es zeichne sich dadurch aus, dass es sich fast ausschließlich an Frauen und Mütter richtet, die psychisch erkrankt und in vielen Fällen Opfer von Menschenhandel und Gewalt geworden sind. Aus diesem Grund beschlossen wir, das Projekt im kleinen Städtchen Canicattini Bagni etwa 23 km westlich von Syrakus zu besuchen.

Es ist Donnerstagmorgen. Trotz der noch frischen Frühlingstemperaturen ist der Himmel klar und die Sonne taucht die Straßen in ein Licht, das an den heißen Sommernachmittag aus einem Gedicht des Schriftstellers Eugenio Montale erinnert. Ich parke das Auto am Rand des Dorfes und gehe zu Fuß weiter die Gasse entlang, in der das Wohnheim Obioma liegt. Das Zentrum wird von der Kooperative Passwork geleitet, die außerdem noch ein Aufnahmezentrum für unbegleitete minderjährige Geflüchtete im selben Dorf und ein weiteres SPRAR* im Städtchen Floridia (Provinz Syrakus) betreibt.

Wäre da nicht das Schild, dessen ausgeblichener Schriftzug “Obiama” mir signalisiert, dass ich nun angekommen bin, würde ich das Zentrum inmitten der benachbarten Häuschen glatt übersehen. Es handelt sich um ein zweistöckiges Gebäude, das nur ein kleiner Garten und ein bei meiner Ankunft halb geöffnetes Tor von der Straße trennen.

Kaum habe ich das Gebäude betreten, befinde ich mich im Verwaltungsbüro der Einrichtung, wo Paola, die leitende Psychologin des Zentrums, gerade ins Gespräch mit einer Bewohnerin des Hauses vertieft ist. Nachdem wir uns einander vorgestellt haben, lässt uns das Mädchen allein und geht für einen Spaziergang hinaus. Wir setzen uns ins Büro und beginnen unseren Austausch. Paola erzählt gerne und schildert mir die Situation des Zentrums in allen Details.

Momentan beherbergt das Haus nicht nur Frauen mit psychischen Problemen, sondern auch zwei Kleinfamilien – jeweils Mutter, Vater und zwei Kinder –, die in zwei Wohnungen mit Gemeinschaftsräumen im Obergeschoss des Gebäudes untergebracht sind. Im Erdgeschoss befindet sich außer dem Büro der Direktorin noch die Wohngemeinschaft der anderen Frauen, denen eine große Wohnküche, eine Entspannungszone mit kabellosem Internet und Fernsehen, ein Wintergarten, zwei Bade- und vier Schlafzimmer mit jeweils zwei bis drei Betten zur Verfügung stehen.

Die Direktorin erzählt mir, dass sich zur Zeit 18 Gäste im Haus befinden – Asylbewerberinnen, Berufungsklägerinnen und subsidiär Schutzberechtigte zwischen 18 und 33 Jahren, allesamt aus Nigeria, Gambia und Mali. Diese Zusammensetzung währt allerdings noch nicht lange: Einige junge Frauen sind erst vor Kurzem in der Einrichtung angekommen, während andere schon seit zwei Jahren hier wohnen und den im Handbuch des Zentrums als „ganzheitlich und personalisiert“ beschriebenen Aufnahmezyklus fast vollständig durchlaufen haben.

„Unsere Bewohnerinnen sind sehr temperamentvoll“, erzählt Paola, „und manchmal wird aus heiterem Himmel plötzlich gestritten und diskutiert“. Doch obwohl die Stimmung im Haus aufgrund der oft tragischen Lebensgeschichten seiner Bewohner*innen bewegt und emotional ist, versichert mir Paola: „Als wir die Frauen aufgenommen haben, waren sie alle in sehr schlechter Verfassung. Heute ist es sehr erfreulich zu sehen, wie sie wieder zu Kräften gekommen sind.“ Tatsächlich ist viel los im Haus – zurzeit laufen die Proben für ein Theaterprojekt auf Hochtouren, das die Bewohnerinnen des Zentrums in Zusammenarbeit mit den lokalen Mittelschulen und Gymnasien realisiert haben.

Gegen Mittag wird es im Büro immer geschäftiger. Die Frauen gehen ein und aus und fragen nach Kosmetikartikeln, Sandwiches und Medikamenten. Als Einrichtung für psychisch erkrankte Personen bietet das Zentrum jeder Bewohnerin eine umfassende Betreuung durch einen Psychiater; einige befinden sich in medikamentöser Therapie. „Fast alle sind über Libyen gekommen“, erzählt Paola, „und viele wurden Opfer von Menschenhandel und Gewalt“. Die psychischen Probleme der Bewohnerinnen reichen von „normaler“ Depression bis hin zu posttraumatischer Störung; andere wiederum befinden sich im Maßregelvollzug.

Unter den Mitarbeitenden sind die meisten weiblich: Fünf Sozialarbeiter*innen, eine Mediatorin, eine Psychologin (und die ebenfalls als solche ausgebildete Direktorin), eine weibliche Hilfskraft und ein Gesundheitspfleger. Nachts sind ein dreiköpfiges Wachpersonal sowie der schichthabende Sozialarbeiter im Haus. Weiterhin arbeitet das Zentrum mit einem Juristen und einem Psychiater zusammen, der die Supervision der Bewohnerinnen und des Personals besorgt und die psychische Hygiene in einem derart herausfordernden Arbeitsumfeld sicherstellt. Darüber hinaus kooperiert Passwork mit der Kooperative PROXIMA, der Migrant*innenorganisation gegen Menschhandel und gelegentlich mit dem Projekt Silver, das bei der Organisation von Aus- und Fortbildungen für die Sozialarbeiter*innen geholfen hat. Nach einigen Jahren des Betriebs müssen ab Juli dieses Jahres einige Instandhaltungsmaßnahmen im Innern der Einrichtung, insbesondere in der Küche, vorgenommen werden.

Aus letzterer dringen nun Geräusche und Gerüche, die mir die Gelegenheit liefern, ein paar Fragen zu praktischeren Aspekten zu stellen, wie zum Beispiel zur Verteilung von Essen, Kleidung und Taschengeld. Unter der Woche bereitet eine Köchin Mittag- und Abendessen für die Bewohnerinnen aus dem Erdgeschoss zu, am Wochenende kochen sie selbst. Den Familien werden Einkäufe (im Wert von 40€ pro Woche) zur Verfügung gestellt, die sie bestellen und dann selbst verwalten können. Das Taschengeld von 2,50€ pro Tag wird monatlich auf eine PostaPay (Prepaidkarte für bargeldlose Einkäufe aller Art, A.d.Ü.) geladen. Hinzu kommen noch ein internationales Handyguthaben von 10€ pro Monat sowie ein Hygiene-Set. Zum Jahreszeitenwechsel können sich die Bewohnerinnen in Begleitung neue Kleidung kaufen.

Im Laufe unseres Gesprächs kommt eine der Sozialarbeiterinnen mit einer Bewohnerin von einem Bewerbungsgespräch in Syrakus zurück. Das Treffen ist offenbar gut gelaufen, die junge Frau wirkt zufrieden. Eine Anstellung würde ihr die Chance geben, sich vom Projekt zu lösen und nach einer langen Zeit endlich wieder selbständig zu leben. Ihr Fall ist nicht das einzige Beispiel einer gelungen Wiedereinführung in Gesellschaft und Arbeitswelt, die das Zentrum erfolgreich vorangetrieben hat. Alle Frauen im Haus lernen – und sprechen bereits – Italienisch, einige haben die mittlere Reife am Erwachsenenbildungszentrum im Dorf erworben und bereiten sich nun auf die Führerscheinprüfung vor. Andere wiederum nehmen an berufsvorbereitenden Kursen auf regionaler Ebene teil: Der letzte Workshop, bei dem es um die Herstellung und Verarbeitung von Schokolade ging, fand vor nicht allzu langer Zeit in der (für ihre Süßwaren gerühmten Stadt, A.d.Ü.) Modica statt. Das Aus- und Fortbildungsangebot ist ausdifferenziert und reicht von der Gastronomie bis zur Schönheitspflege.

Was die Selbständigkeit nach wie vor behindert ist, wie mir Paola erklärt, der Umstand, dass die Erwerbstätigkeit der Frauen oft nicht ausreicht, um ihnen vollkommene finanzielle Unabhängigkeit zu garantieren. Es habe Fälle gegeben, in denen sicher wirkende Arbeitsverträge in letzter Minute abgesagt worden seien, außerdem reichten 300-400€ im Monat nicht aus, um den jungen Frauen eine vollkommen autonome Existenz zu garantieren. Da das Jobangebot in Canicattini Bagni nicht besonders groß sei, hielten einige der Frauen auch in Syrakus Ausschau nach einer passenden Arbeit.

Tagsüber verkehren mehrere Busse zwischen Canicattini Bagni und der Stadt, sodass die Frauen zur Arbeit oder einfach nur in die Stadt fahren können, um dort Freundinnen zu treffen oder Dinge zu erledigen. Manchmal fahren sie allein, manchmal in Begleitung der Zentrumsangestellten.

Auch wenn Canicattini Bagni recht klein ist, bietet das Dorf den Bewohner*innen des Zentrums gewisse Freizeitaktivitäten und Gelegenheit, soziale Kontakte zu knüpfen: Neben dem örtlichen Berufsbildungszentrum besuchen die Frauen auch die Turnhalle des Dorfes, einer der Familienväter arbeitet als Tankwart und Hilfskraft auf den Feldern, die gesamte Bewohnerschaft des Zentrums ist schon oft zu Dorffesten eingeladen worden.

Nach unserem Gespräch führt Paola mich kurz durch die Wohnung und kehrt dann ins Büro zurück, sodass ich mich noch allein in den Zimmern umsehen und mit den jungen Frauen sprechen kann. Es herrscht reges Treiben. Es wird gekocht – diese Woche ist die Köchin krank –, einige Frauen machen sich ausgehfertig, andere wiederum essen oder telefonieren. Als ich versuche, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, wirken die jungen Frauen ein bisschen misstrauisch und schüchtern, aber es gelingt mir, ein wenig mit F. zu plaudern. Während sie gerade Reis mit einer typisch nigerianischen Soße zubereitet, erzählt sie mir, dass sie seit zwei Jahren im Obioma-Projekt lebt und schon eine Aufenthaltsgenehmigung als subsidiär Schutzbedürftige hat, zwischen ihr und der Unabhängigkeit aber immer noch die Schwierigkeit steht, einen angemessen bezahlten Job zu finden.

Irgendwann verlassen die an den Theaterproben beteiligten Frauen mit einer der Mitarbeiterinnen das Haus und ich nutze die plötzliche Ruhe, um mir die Zimmer anzusehen. Dort treffe ich V., die jüngste der Gruppe, und spiele ein bisschen mit ihr. Hier im Zentrum wird sie nicht nur von ihrer Mutter, sondern von allen Bewohnerinnen versorgt. Sie lacht, grüßt mich und quietscht mit hoher Stimme vor sich hin – nur sprechen kann sie noch nicht. Ich gehe weiter: Im Büro sitzen nun mehrere Frauen zusammen und tauschen sich mit Paola, der Mediatorin und der Sozialarbeiterin aus. In einem halbdunklen Zimmer begegne ich einer jungen Frau, die inzwischen V. zu sich geholt hat. Sie sitzt essend auf dem Bett. Wir unterhalten uns ein bisschen und P. erzählt mir, dass es zwar manchmal Streit zwischen den Frauen gebe, sich die Dinge am Ende aber immer klären würden. Da sie noch auf den Kommissionsentscheid zu ihrem Asylantrag warte, könne sie im Moment weder Pläne schmieden noch an die Zukunft denken.

Das Gespräch mit ihr bestätigt mich in der Annahme, dass das Leben in einer Wohngemeinschaft, in die jede ihre eigenen Probleme in gewisser Weise hineinträgt, nicht einfach ist. Beschäftigt zu sein allein reicht nicht immer aus, um den Frauen das Gefühl der Selbstverwirklichung zu geben. Das lange Warten auf die Papiere hindert sie daran, langfristig zu planen und gedanklich eine Verbindung zwischen Gegenwart und Zukunft herzustellen, die ihnen Kraft geben könnte, um mit der Vergangenheit umzugehen, und die jeden kleinen Erfolg des Alltags mit Sinn erfüllen würde.

Als ich mich verabschiede und die Einrichtung durch das Tor verlasse, fällt mir auf, dass ich die Außenwelt für einige Stunden vergessen habe. Das hat wohl damit zu tun, dass die Atmosphäre im Haus an diesem Morgen so dicht und bewegt gewesen ist.

 

Vittoria Fiore

Borderline Sicilia

*SPRAR – Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 – 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Flüchtlinge dienen.

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Laura Strack