Riace lässt sich nicht verhaften
Am Dienstag, den 2. Oktober, wurde Mimmo Lucano, seit drei Legislaturperioden Bürgermeister der Gemeinde Riace, festgenommen und unter Hausarrest gestellt. Der Vorwurf lautet Begünstigung illegaler Immigration und unrechtmäßige Erbringung von Dienstleistungen.
Mimmo Lucano ist genau der Bürgermeister, der weltberühmt wurde, da er ein Aufnahmesystem für Migrant*innen schuf, das sich nicht nur durch hervorragende Dienstleistungen für Neuankömmlinge auszeichnete, sondern auch dafür, dass es ihm gelungen ist, ein Integrationsmodell zu verwirklichen. In Riace basierte dieses Modell auf einer Integration, die durch Projekte ermöglicht wurde, die lokale Traditionen mit fremden verknüpfen. Ein Beispiel hierfür ist die Spinnwerkstatt, in der der „punto antico“ (wörtlich: der antike Stich, gemeint ist eine Stickereitechnik) gelehrt wird, dann von Migrant*innen aufgegriffen und neu interpretiert wird. So wird eine Mikrowirtschaft geschaffen, die einerseits integriert und den Migrant*innen wirtschaftliche Unabhängigkeit ermöglicht, andererseits den jungen Riacer*innen Arbeitsplätze bietet, die auf diese Weise eine Alternative zur Emigration finden, die den Süden Italiens entvölkert.
In diesem Sinne ist die Festnahme Mimmo Lucanos nichts weiter als ein neuer Mosaikstein, der sich in den größeren Rahmen der Abschaffung des SPRAR-Systems einfügt, angetrieben von der Regierung durch das am 4. Oktober vom Präsidenten der Republik unterzeichneten Dekret „Immigration und Sicherheit“. Auch aus diesem Grund wurde am 6. Oktober eine Demonstration in Riace anberaumt, zur Unterstützung und aus Solidarität mit dem Bürgermeister, der daran gehindert wurde, seine Wohnung zu verlassen.
Es sind sehr viele Teilnehmer*innen vor Ort. Anwesend sind Parteien, Vereine, Bewegungen, lokale und nationale NGOs, Gewerkschaften (USB, Cobas), sowie zahlreiche Migrant*innen, die gekommen sind, um das Funktionieren des Modells Riace zu bezeugen, und nicht-organisierte Bürger*innen, darunter viele Familien mit Kindern. Die Demonstration zieht durch die Straßen Riaces, Transparente werden geschwenkt, es werden viele Sprechchöre und Slogans laut, die mit „Riace lässt sich nicht verhaften“ beginnen, dem Motto der Demonstration. Trotz des Regens, der unaufhörlich auf die Demonstrant*innen niederprasselt, bewegt sich die Menge als Ganze zu ihrem Ziel: zu dem Haus, in dem Mimmo Lucano wohnt und sich eingeschlossen befindet. Von seinem Fenster aus grüßt der Bürgermeister die Menge und dankt mit Gesten für die Teilnahme und löst mit einer geschlossenen und erhobenen Faust Begeisterung aus.
Nach dem Stopp am Haus des Bürgermeisters bewegt sich die Menge auf das sehr bunt gemischte Auditorium im Freien zu, das Treffpunkt und damit auch Symbol der Integration wurde, der Riace ein Gesicht gegeben hat. Die zahlreichen und inhaltlich recht unterschiedlichen Redebeiträge finden einen gemeinsamen Nenner in der Anklage gegen eine Justiz, die genau da ermittelt, wo die Aufnahmeleistungen nicht nur funktionieren, sondern zu einem beispielhaften europäischen Modell wurden. Eine Justiz, die eben die Einrichtungen ungestraft davonkommen lässt, die schon seit Jahren von unterschiedlichen lokalen und nationalen Organisationen gemeldet werden.
Als erstes sprechen Vertreter*innen des Staates, zahlreiche Bürgermeister*innen sind anwesend, vor allem aus der Gegend Locride, mit denen Mimmo Lucano sein Aufnahmesystem geschaffen und geteilt hat. Anwesend ist auch die Stadtverwaltung von Neapel, mit dem Referenten für Haushaltsmittel und dem Bürgermeister von Cerveteri, der beschlossen hat, sich aus Solidarität mit Lucano selbst anzuzeigen, mit derselben Anklage wie der Bürgermeister von Riace, und zwar Begünstigung illegaler Immigration.
Das Wort geht dann an einige ausländische Bürger*innen, Beispiele für den Erfolg des Modells Riace, die mit warmen Worten ihre Wahrheit erzählen, über die kalabresische Gemeinde und darüber, wie ihnen dieses System die notwendigen Voraussetzungen zur Eingewöhnung, zur sprachlich-kulturellen Integration und zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt gab. Anwesend ist auch die europäische Abgeordnete Eleonara Forenze, Opfer eines körperlichen Angriffs von CasaPound, der während einer Anti-Salvini Demonstration am 21. September in Bari stattfand.
Der bewegendste Moment war, als ein Text von Lucano vorgelesen wurde, mit dem er in wenigen Worten die tiefe Bedeutung von Menschlichkeit beschreibt, die auch heute noch so viele Menschen dazu veranlasst, sich für eine gerechtere Welt einzusetzen.
Die Demonstration endet mit der Aufforderung der ANPI (der Nationalen Vereinigung der Partisanen Italiens) „Bella Ciao“ anzustimmen. Die Gitarren geben den Rhythmus des Liedes vor, die Bühne wird zu einer musikalischen und vereint alle im Gesang des berühmtesten Liedes der italienischen Widerstandsbewegung.
Jemand auf der Bühne fordert, dass dies kein Schlusspunkt sein soll, sondern der Anfang einer größeren Sache, die Italien neue Hoffnung geben kann.
Wer weiß, ob Riace, das die migrantische mit der lokalen Bevölkerung verbinden konnte, der erste Schritt bei dem schwierigen Unterfangen ist, die unterschiedliche Stimmen im Inneren einer linken Bewegung, die zu Solidarität und Mitmenschlichkeit aufruft, zu vereinen.
Peppe Platania
Borderline Sicilia
Übersetzung aus dem Italienischen von Jutta Wohllaib