Widersprüche und Rechtsverletzungen im Hotspot* Pozzallo

Quelle: meltingpot.org

Erster
Bericht der Kampagne Overthefortress aus der Provinz Ragusa in
Süditalien

Ergänzt
durch Interviews mit Giuseppe Cannella von Medici per i diritti umani (Ärzte für Menschenrechte)
und Lucia Borghi von Borderline Sicilia

Die unabhängigen Recherche- und Monitoringarbeiten der Kampagne Overthefortress beginnen in der Provinz Ragusa. Wir haben uns entschieden, im Hotspot* Pozzallo anzufangen, wo seit dem 1. Januar 2016 16.158 Personen angekommen sind. Hier ist die erste italienische Etappe der zentralen Mittelmeerroute zu Ende: ein Teil der Reise der Migrant*innen, die viel weiter entfernt anfängt, viel weiter südlich, in Nordafrika, oder in der Südsahara, oder am Horn von Afrika oder aber auch im Mittleren Osten. Es sind Migrant*innen aus verschiedenen Herkunftsländern, die in Libyen zusammentreffen, das Land aus dem fast alle Migrant*innen, die an die italienischen Küsten stranden, starteten.

Die Einrichtung am Hafen von Pozzallo ist ein ehemaliges CPA, ein Erstaufnahmezentrum, und heute eins der vier italienischen Zentren, wo das „Hotspot Verfahren“ angewandt wird. Wir möchten hier daran erinnern, dass das „Hotspot Verfahren“ durch ein Rundschreiben des Innenministeriums und nicht durch ein Gesetz definiert wird und dass das Verfahren schon auf dem Meer anfängt. Hauptziele sind die Identifizierung der Migrant*innen, auch durch die Zwangsabgabe der Fingerabdrücke und die Erkennung der mutmaßlichen Schleuser. Theoretisch sollten diese Einrichtungen Transitstellen sein, in der Praxis jedoch werden sie zu Orten, wo die Migrant*innen auch für längere Zeit verweilen, ohne jegliche gesetzlichen Vorschriften. Borderline Sicilia hat mehrmals die Rechtsverletzungen angezeigt, insbesondere die Verletzung des Rechts auf individuelle Information und die Anordnungen von zeitversetzten Rückführungen, die in der Tat die Migrant*innen daran hindern, internationalen Schutz zu beantragen.

Wir haben Lucia Borghi von Borderline Sicilia, einer Organisation, die sich seit Jahren mit dem Monitoring der Region beschäftigt, gebeten, uns die Lage zu erklären.

Das Hauptanliegen der Regierung ist die Erkennung der mutmaßlichen Schleuser: Die Nachforschungen beginnen schon auf den Booten und deswegen wird sogar die Hilfe für die Migrant*innen als zweitrangig eingestuft. Die Praxis läuft nach vorgefertigten Leitlinien ab: Pro Boot ist die Festnahme von zwei Personen vorgesehen, die dann als mutmaßliche Schleuser den Medien vorgestellt werden, um die Belobigung der EU für die geleistete Arbeit zu ernten. Diese Praxis beinhaltet mehrere Wiedersprüche: Die mutmaßlichen Schleuser berichten, dass sie selbst in der Tat auch nur Opfer des Menschenhandels sind, die erst wenige Stunde vor der Abfahrt die nötigen Anleitungen von den wahren Schiebern in Libyen, als Tausch gegen einer Preisreduzierung der Überfahrt, bekommen und sich eingeprägt haben. Diese Aussage wird von der Tat bestätigt, dass viele von ihnen aus Ländern stammen, die weit weg vom Meer sind und dass sie deswegen absolut keine nautischen Kompetenzen haben. Nachdem die Boote den Hafen erreicht haben, ist die Bereitschaft der Regierung, den Migrant*innen eine würdevolle Aufnahme zukommen zu lassen, rundweg geringer als die, die in die polizeilichen Ermittlungen gesteckt wird.

Die Migrant*innen sollten höchstens 48 bis 72 Stunden im Hotspot bleiben, bevor sie woanders untergebracht werden. In Wirklichkeit aber passiert etwas ganz anderes: Fast alle bleiben wochenlang hier. Die offizielle Erklärung lautet: Im Aufnahmesystem gibt es nicht genügend Plätze, hauptsächlich für die unbegleiteten Minderjährigen und für die besonders Schutzbedürftigen. So entsteht eine paradoxe Lage – gerade diejenigen, die aufgrund ihrer unbestrittenen Schutzbedürftigkeit als erste diese Einrichtung verlassen sollten, sind die, die hier am längsten verweilen. Wir haben auf den Straßen in der Nähe des Hafens vier Minderjährige getroffen und alle vier haben uns mündlich versichert, dass sie am 12. September angekommen sind. Nach den ersten 72 Stunden dürfen die Migrant*innen das Zentrum verlassen. Das geschieht aber nicht aus Gutmütigkeit: Früher war jeglicher Ausgang verboten, aber wenn sehr viele Menschen eine sehr lange Zeit in einem sehr überfüllten Ort eingeschlossen werden, führt das zu Problemen und Spannungen. Es darf nicht vergessen werden, dass die Einrichtung offiziell für 180 bis 200 Menschen gedacht wurde, in der Tat aber bis zu 600 Menschen und mehr beherbergt. Sie besteht aus zwei extragroßen Räumen und somit ist es nicht möglich, die Frauen von den Männern und die Minderjährigen von den Erwachsenen zu trennen, wie es hingegen von den europäischen Richtlinien vorgesehen ist.

Giuseppe Cannella, ein Psychiater der MEDU (Ärzte für Menschenrechte), hilft uns, die Lage der Eingesperrten noch besser zu durchleuchten. Als Arzt fokussiert er seinen Blick insbesondere auf die Traumata, die vor, während und nach der Reise auf die Migrant*innen eingewirkt haben. Fast alle kommen über Libyen, einem Land, das wie eine wahrhaftige Hölle beschrieben wird. Die Migrant*innen berichten über Entführungen und systematische Gewaltanwendung ihnen gegenüber. Sowohl bewaffnete Banden als auch Polizisten nehmen willkürlich Menschen fest und verlangen Lösegeld damit das Opfer seine Reise fortsetzen kann. In diesen Gefängnissen wird die Folter telefonisch live übertragen, um Geld von Freund*innen oder Verwandten zu erpressen. Wer das Geld nicht zusammenbekommt, der wird gezwungen unter unmenschlichen Bedingungen zu arbeiten, um seine Schulden zu begleichen oder sein Schicksal ist noch schrecklicher.

Wir unterstreichen, dass ALLEN die gleiche Behandlung widerfährt, ganz egal ob Mann, Frau oder Kind. Sie sind durch diese Gewalt gekennzeichnet und mit diesen Verletzungen treten sie den Gräueln der Reise über das offene Meer entgegen. Giuseppe erzählt uns, dass auch nach der Rettung die Uniformen und die Waffen – in einer menschenentwürdigenden Beziehung – bei den Migrant*innen eine weitere, erneute Traumatisierung bewirken. Diese entwürdigende Haltung wird auf dem Kai fortgesetzt: Ihre Namen werden durch Nummern ersetzt und sie selbst werden als Sache behandelt. Ein klares Beispiel: Wenn in einem überfüllten Raum den an Krätze erkrankten Migrant*innen zugerufen wird, sie sollen zur Seite gehen.

Es ist schwierig, die Gefühle zu beschreiben, die uns überkommen, wenn wir, beim Anblick des Meeres, das als Kulisse dieser Ereignisse dient, ganz in der Nähe der zerfallenen Boote und der Berge an Rettungswesten, diesen Erzählungen zuhören. Wir fragen nach und diskutieren untereinander über die erfahrenen Berichte und doch am Ende bleibt die Verwirrung, nachdem uns die jungen Afrikaner*innen trotz alledem, was ihnen widerfahren ist, antworten: „I’m fine“. Es ist schwierig, all die Informationen, die wir in den ersten Tagen unserer Reise bekommen haben, gebündelt wiederzugeben, aber eines ist klar: Der Hotspot* Pozzallo und die unmenschlichen Bedingungen, die dort herrschen, geben das Scheitern des italienischen und europäischen Aufnahmesystems wieder. Dieses Modell steht nicht für die Integration, an die wir glauben und das ist der Grund warum wir bald andere Beispiele kennenlernen und darüber berichten werden: Beispiele, die zeigen, dass Integration funktionieren kann, von unten und mit Erfolg.


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Einezweimonatige Reise, von Sizilien nach Rom, entlang der zentralenMittelmeerroute (siehe die Karte und klicke auf die numerierten Icons, um weitere Infos zu erhalten)


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Hotspot*
– aus dem Englischen – ein Registrierzentrum für Flüchtlinge im
Schengener Raum

Aus
dem Italienischen übersetzt von A. Monteggia