Die Morde auf dem Mittelmeer enden auch im Sommer nicht
Schmerzensschreie, undeutliche Stimmen, die nach Hilfe rufen, ununterbrochenes Weinen, weitere Hilferufe, Schreie und Klagen ohne Ende. Dann Stille. Jetzt die Frage: Was kann ich tun? Am anderen Ende der Leitung waren Männer, Kinder, Frauen…
Was immer die Antwort auf die Anfrage sein mag, Fakt ist: Wir haben sie an die Libyer zurücküberstellt; wir haben sie zum Sterben geschickt, das Resultat ist, dass wir sie an die Libyer zurücküberstellt haben, dass wir sie zum Sterben geschickt haben, dank der Politik der Schließung der Häfen, der niederträchtigen Anschuldigungen gegen die NGOs, durch Verletzung fundamentaler Menschenrechte. Alle europäischen Regierungen sind die Auftraggeber dieser Morde, die sich in der ohrenbetäubenden Stille dieser Tage vollziehen. Wenigstens diese Verantwortung müssen sie miteinander teilen.
Es ist inakzeptabel, dass in Italien Millionen Euro für die Jagd auf fliegende Händler*innen am Strand verschwendet werden – worauf ein Selfie mit den beschlagnahmten Quietschenten folgt (tatsächlich äußerst gefährliche Waffen) – und man die Sklaventreiber*innen und Ausbeuter*innen der Landarbeiter*innen unbestraft lässt. Es ist blamabel, dass man weiterhin gleichgültig, oder schlimmer noch, davon ergriffen, den Lügengeschichten zuhört, die vom diensttuenden Minister verbreitet werden. Geschichten, die die wirklichen Probleme eines Landes, das vom Kurs abkommt, verbergen, ohne sich gegen eine Regierung zu empören, die eine Politik des Gewährenlassens und der rechtswidrigen Absprachen mit den Schleppern verfolgt. Denen übergeben wir auch noch weitere Schnellboote (mit Kosten für die ganze Operation für Italien von über 2,5 Millionen Euro), die nicht einsetzbar für die Rettung auf See sind, sondern dahinter steckt die klare Absicht, Abschiebungen in die Hölle Libyen durchzuführen und eine nicht existierende militärische Truppe (die libysche Küstenwache) zu legitimieren. Das alles geschieht mit Selbstherrlichkeit, Arroganz und dem Dünkel der Überlegenheit, typisch für die faschistische Macht.
Auf der anderen Seite, wer interessiert sich schon im Sommer dafür, wenn jemand auf dem Meer ertrinkt. Nach dem letzten Bericht von Amnesty International geht die Kurve der Anzahl der Toten nach oben, und das unter dem totalen Stillschweigen der Institutionen und der Medien. Wer interessiert sich, wenn jemand auf unseren Straßen oder auf dem Lande stirbt. Diese Irgendwer sind im Grunde in dem System, in dem wir leben, keine Menschen.
Die Regierung ist damit beschäftigt, die Kleinen, die Unsichtbaren zu bekämpfen, indem sie die Presse verpflichtet, die Wahrheit über die ständigen und täglichen Ankünfte der kleinen Boote zu verbergen. Diese sieht das große System der Mauern nicht oder will sie nicht sehen. Meistens sind es kleine Schiffe, die von Tunesien aus starten und auf Lampedusa oder an der Küste von Trapani oder Syrakus ankommen. Personen, die für sehr lange Zeit im Hotspot bleiben, auch 15 Tage, wie es in Pozzallo vorkommt oder die, nachdem sie Wochen im Hotspot von Lampedusa verbracht haben, in dem von Trapani weggeschlossen werden, das in Wirklichkeit zu einem CPR* umgewandelt worden ist.
Nach der Anlandung am vergangenen 15. Juli in Pozzallo und der triumphalen Meldung der Regierung, dass die Migrant*innen in andere Länder Europas umverteilt würden, sind die Personen immer noch im Zentrum der Provinz Ragusa eingepfercht, auch Frauen und Kinder, in Erwartung einer Umverteilung, die wahrscheinlich nie stattfinden wird, so, wie das Programm der Umverteilung (relocation) gescheitert ist.
Die Propaganda der Regierung verheimlicht auch die Tatsache, dass wenige der Tunesier*innen, die in den letzten Monaten angekommen sind, wieder in ein rechtswidriges und unzulängliches System zurückgeführt werden (ungefähr 70 Personen pro Woche mit zweiwöchentlichen Flügen von Palermo aus). Die Tunesier*innen – denen ein Zugang zur Anerkennung internationalen Schutzes per ministerieller Anordnung verboten ist – werden mit einem Beschluss zur Abschiebung auf dem Staatsgebiet belassen und verlängern so die Reihe der Irregulären und derjenigen ohne Dach. So werden passende Bedingungen geschaffen für die Ausbeutung auf dem Land und, mehr im allgemeinen, für unsere Wirtschaft. Es handelt sich bei diesen Menschen um Unsichtbare, ohne Stimme und daher erpressbar bis hin zur Sklaverei, bereit, in Campobello di Mazara wie in Foggia die Ghettos zu besiedeln, aus denen die starken Arme für die nächste Ernte hervorgehen.
Das Geschäft läuft so und es gibt keinen politischen Willen, es zu stoppen; das geschieht nur zufällig durch einige sorgfältige Staatsanwält*innen, die Untersuchungen auf den Weg bringen wie jene, die die Kooperative Essequadro di Firenze (die sich in Sizilien verwurzelt hat) betrifft. Gegen sie wird wegen Jugendarbeit ermittelt. Und das Geschäft mit der Migration läuft rund, das bestätigt die Tendenz in der Art und Weise der Verteilung auf die Aufnahmezentren. Die Erstaufnahmezentrum, in denen die Personen nur wenige Wochen bleiben sollen, sind voll, während jene der zweiten Aufnahme, die für besonders Schutzbedürftige bestimmt sind und wo ihnen eine angemessene Infrastruktur geboten wird, leer bleiben. Das geschieht mit Zustimmung der Kommunen, der Präfekturen und der internationalen Organisationen, die mit ministerieller Übereinkunft arbeiten.
Während sich das Geschäft zu Lasten der Migrant*innen und der Schwächsten unangefochten ausbreitet, schließen die kleinen Aufnahmeeinrichtungen ihre Pforten (vor allem in der Gegend von Trapani und Agrigent) und übertragen mit Abtretungsverträgen minderjährige Bewohner*innen, Einrichtung und Personal an die großen Kooperativen. So wird ein Oligopol geschaffen, ein Markt von wenigen Anbietern gegenüber einer hohen Nachfrage, mit einer wirtschaftlichen wie politischen Macht. Auf diese Weise wird auf Personal mit Kompetenz und Professionalität von den kleinen Betreiber, die sich für ein professionelles Angebot engagieren, verzichtet, und oft ersetzt durch unausgebildete Arbeiter*innen. Letztendlich wird dadurch das Niveau der Aufnahme gesenkt. Und bei Abwesenheit systematischer Kontrollen erleichtert die Abgeschiedenheit der Einrichtungen das Wuchern von ungesetzlichem Verhalten seitens einiger Betreibergesellschaften. In den letzten Wochen haben wir während unseres Monitorings festgestellt, dass in einigen Einrichtungen für Minderjährige in der Gegend von Palermo und Trapani nicht ein*e Mitarbeiter*in anwesend war. Nach Aussage der Bewohner*innen ist das Personal nur vor Ort, wenn es notwendig ist, um das Essen zu bringen oder bei anderen Erfordernissen, die nicht verschiebbar sind. Es scheint, als gäbe es keine Spur mehr von Bemühungen in Richtung sozialer und Beschäftigungsintegration.
Die Worte eines Freundes wiedergebend, bekräftigen wir, dass heute das fünfte Gebot durchdekliniert werden muss: „Nicht töten und nicht sterben lassen.“ „Menschen auf dem Meer sterben lassen, an den Grenzen, in den libyschen Lagern, auf der Arbeit, auf den Straßen ist MORD.“ (Pfarrer Domenico Guarino)
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
*CPR – Centri di Permanenza per il Rimpatrio – Zentren zum Aufenthalt zwecks Rückführung
*CAS – Centri di Accoglienza straordinaria – Zentren zur außerordentlichen Aufnahme
Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber