94 Migranten halbverlassen in einem „Zentrum“ im Industriegebiet Ragusas
In den
vergangen Tagen haben wir eher zufällig von der Anwesenheit zahlreicher
Migranten im Industriegebiet Ragusas erfahren. Uns wurde von
vielen Jungen afrikanischer Herkunft erzählt, die offensichtlich verwirrt die
langen asphaltierten und beinah wüstenleere Straßen der Industriezone
entlangwanderten. Am späten Nachmittag des vergangen Montag haben wir in einer
der wenigen noch geöffneten Werkstätten um Informationen gebeten.
Die
Personen mit denen wir gesprochen haben,
gaben uns eine einfache Wegbeschreibung, um zum ehemaligen Disco-Restaurant „La
Tropicana“ zu gelangen, doch sie wandten sich auch mit einigen Fragen an uns,
vor allem: Wer sind diese Jungs und wie kommt es, dass man sie in eine so
abgelegene Zone wie diese und an so einen Ort gebracht hat (Anm. d. Red. „La
Tropicana“)
Aus dem
Gespräch ging hervor, dass das neue Zentrum seit ungefähr zwei Wochen geöffnet
ist und dass niemand die Inhaber und Arbeiter der anliegenden Werkstätten über
das neue „Aufnahmezentrum“ informiert
hatte, in das man nur „Autos eines gewissen Standards“ ein- und ausfahren sieht.
Als wir das
Eingangstor durchschritten, haben wir sofort bemerkt, dass keine Fahrzeuge der
Ordnungskärfte vor oder in der Struktur parkten. Es begegnete uns lediglich
eine kleine Gruppe von Jungen, die draußen auf dem Platz gegenüber der
baufälligen Struktur saßen. In ihren Augen bemerkten wir anfangs ein gewisses
Misstrauen, welches sich nach wenigen Augenblicken in Dankbarkeit und Hoffnung
wandelte. Wir haben uns hingesetzt und ihnen erklärt, was wir dort machten und
wie knapp unsere Möglichkeiten etwas an ihrer Situation zu ändern wirklich
waren. Ihre Geschichte in der Zusammenfassung:
Wir sind hier
94. Wir wurden aus dem Meer gerettet. Wir waren 107 an Bord eines Bootes, aber
5 von uns haben ihr Leben im Wasser verloren. Wir sind am 8. oder 9. Juni in
Pozzallo angekommen. Wir wurden in einer sehr nahe am Hafen gelegenen Struktur
untergebracht, wo wir drei Nächte verbrachten (Anm. d. Red. „CPSA“ Zentrum zur
Ersten Hilfe und Erstaufnahme). Am 11./12. Juni wurden wir alle, außer Frauen
und Minderjährige, mit einem Bus unter Polizeibegleitung hierher gebracht. Seit
diesem Tag ist die Polizei nicht mehr wiedergekommen. Jeden Morgen kommen zwei
Frauen, um die große Halle zu putzen, in der wir alle zusammen schlafen. Ca. um
12 Uhr gehen sie wieder und es kommt ein Mann, der den ganzen Tag bis zum
nächsten Morgen bleibt. Doch während der Nacht wissen wir eigentlich nicht wo
er ist und was er macht und wenn wir am Morgen aufwachen ist er oft schon weg.
Außer der zwei Frauen und des Mannes gibt es noch einen weiteren Herrn, der
während des Tages Essen bringt und wieder geht. Hier und da bringen sie uns
Zigaretten und Telefonkarten. Wir essen und schlafen, mehr können wir nicht
machen, wir sind weit weg von allem. Wir warten, aber wir wissen nicht genau
auf was.
Überprüfen wir
die Daten, handelt es sich wahrscheinlich um die von dem maltesischen Motorboot
Norient Star geretteten Migranten, die am Abend des 8. Juni in den Hafen von
Pozzallo gebracht wurden. An Bord des Motorbootes kamen 102 Migranten und 3
Leichen an, dazu kommen 2 Vermisste, was die oben genannte Gesamtzahl von 107
Personen bestätigen würde.
http://www.lettera43.it/cronaca/immigrazione-emergenza-sbarchi-in-sicilia_43675131626.htm
Mit dem Wissen
über ihre Geschichte und vor allem über das Trauma fünf Wegbegleiter während
der Reise ertrinken gesehen zu haben, haben wir darauf verzichtet weitere
Nachfragen zum Vorfall zu stellen. Wir haben erfahren, dass sie Mitarbeiter von
Präsidium (Anm. d. Übersetzerin: Projekt, finanziert vom Innenministerium, an
dem UNHCR, IOM, Save the Children und das italienische Rote Kreuz beteiligt
sind. Die Mitarbeiter sind bei den Anlandungen anwesend) getroffen und mit
einigen Mitgliedern von Ärzte ohne Grenzen gesprochen hatten, als sie sich noch
im Erstaufnahmezentrum in Pozzallo
befanden.
Am Ende
unseres langen Gespräches hat einer der Migranten für uns den „Mitarbeiter“ des
Zentrums geholt, der sich drinnen befand. Unsere Begegnung war höflich und
schnell. Er hat uns erzählt er sei nur ein Mitarbeiter und dass der
Verantwortliche im Moment nicht da wäre. Auf die Frage wer der Geschäftsführer
der Einrichtung sei, antwortete er nach langem Zögern, dass sich die Geschäftsführung
„in der Aufbauphase“ befände und dass es sich um eine lokale Gesellschaft
handle, deren Name top-secret bleibt. Auf die Frage nach der Anzahl der
Mitarbeiter antwortete er „es sind einige“ und obwohl er zu Beginn zugestimmt
hatte uns das Innere der Einrichtung zu zeigen, entschied er sich dann doch um
und bat uns am nächsten „Vormittag oder Nachmittag oder Abend“ wiederzukommen,
um noch einmal zu versuchen den Inhaber anzutreffen.
Jenseits der
ausweichenden Antworten des Mitarbeiters/Bediensteten zur Geschäftsführung des
Zentrums, die allem Anschein nach noch im Dunkeln liegt (übrigens haben wir ihn
unverzüglich nachdem wir verabschiedet wurden, mit jemanden telefonieren
sehen), bleiben weitere wichtige Fragen zu stellen. Zum Beispiel um welche
„Art“ von Zentrum es sich bei dem eben beschriebenen handelt? Handelt es sich
um ein außerordentliches Erstaufnahmezentrum (CAS) oder, und diese Hypothese
kommt uns wahrscheinlicher vor, um eine zweite Nebenstelle des
Erstaufnahmezentrums Pozzallo (CSPA), welche, wie auch der ehemalige Betrieb
Don Pietro in Comiso, zur Entlastung benutzt wird? Für diese Hypothese sprechen
sowohl die hohe Zahl der verlegten Migranten als auch die Art und Weise der
Verlegung, die darauf zurückzuführen sind, dass das ehemalige Zollabfertigungshalle
(CSPA) schnell geleert werden musste. Die komplette Abwesenheit von
Ordnungskräften stellt diese Richtigkeitsvermutung allerdings nicht
unwesentlich in Zweifel. Umgekehrt, würde es sich um ein außerordentliches
Aufnahmezentrum (CAS) handeln, wäre es angemessen, dass die Präfektur von
Ragusa unverzüglich die getroffene Vereinbarung aufhebt.
Zusammengefasst
ist zu sagen, welcher Art auch immer dieses Zentrum sein soll, es handelt sich
offenkundig um nichts anderes als ein Lager, dementsprechend ausgegliedert in
eine von der Stadt weit entfernt gelegenen Industriezone und fernab von
neugierigen Blicken. Außerdem ist es offensichtlich, dass die
Aufnahmebedingungen wieder einmal völlig unzureichend sind. Daher ist eine
umgehende Schließung dieser Struktur wünschenswert.
Von Elio Tozzi,
Borderline
Sicilia
Aus dem
Italienischen von Viktoria Langer